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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Getreidezölle und Handelsverträge

el der Behandlung der wirtschaftspolitischen Fragen macht sich
in den unmittelbar an der Gesetzgebung beteiligten Kreisen, so¬
wohl bei der Negierung wie bei den Parlamentariern und son¬
stigen Beratern aus Landwirtschaft, Handel und Industrie, uoch
immer eine sehr starke Abneigung gegen die Erörterung prinzi¬
pieller und allgemeiner Fragen, wie sie die nationalökonomische Wissenschaft
aufzustellen lind zu beantworten hat, bemerkbar. Die Erscheinung begann in
den letzten siebziger Jahren, als Fürst Bismarck in schroffem Bruch mit der
einseitigen Freihandelsdoktrin den Übergang zum allgemeinen Schutzzollsystem
durchsetzte. Sie war die natürliche Reaktion gegen die die Gesetzgebung be¬
herrschende Prinzipienreiterei, an der übrigens damals schon die Vertreter der
Wissenschaft nur noch in wenig Ausnahmen beteiligt waren. Wenn sich heute
die Abneigung gegen Prinzipien und Wissenschaft noch ebenso stark oder noch
stärker geltend macht, so wird man doch fragen dürfen, ob das ganz gerecht¬
fertigt ist. Je näher die Entscheidung über die Neuregluug unsrer Zoll- und
Handelspolitik rückt, um so mehr muß sich die Notwendigkeit fühlbar machen,
daß man über die großen grundsätzlichen Fragen, die dabei in Betracht kommen,
klar wird und die Erfahrungen, die in den letzten Jahren gemacht worden
sind, von einer höhern, über den Sonderintcressen der Gegenwart stehenden
Warte prüft, wie sie die Wissenschaft einnimmt. Das der herrschenden Neigung
entsprechende Sammeln von Thatsachen und immer wieder Thatsachen durch
Befragen der materiell interessierten Praktiker, die Aufstellung immer neuer und
detaillierterer Jnteressenstatistiken, die Veranstaltung immer speziellerer Spezial-
forschungen mag ja ganz verdienstlich sein, aber es führt schließlich dazu, daß
das Wort wahr wird: "Dann hat er die Teile in seiner Hand, fehlt leider nur
das geistige Band." Darauf deutet es doch hin, wenn neuerdings von einem
seit Jahren ausschließlich mit den Vorbereitungen der neuen Handelsverträge
beschäftigten Wirtschaftspolitiker*) offen eingestanden wird, daß die Einzel-
thütigkcit, die bisher von allen beteiligten Stellen entwickelt worden sei, wenig
mehr bedeutete, "als die Beschaffung von Material für die Lösung der ge¬
stellten Frage." Ob ein einzelner Zollsatz so oder so festgesetzt werde, sei an
sich und für seinen Interessentenkreis zwar wichtig, aber es verschwinde hinter
den Fragen: "Welches System ist anzuwenden? Welche Grundsätze miisseu
uns leiten? Ist unsre Entwicklung auf dem rechten Wege, und welche Mittel



*) Dr. Vosberg-Rekow, Die Handelsverträge des Jahren 1903. Berlin, I. Gutlen-
tag, 1900.


Getreidezölle und Handelsverträge

el der Behandlung der wirtschaftspolitischen Fragen macht sich
in den unmittelbar an der Gesetzgebung beteiligten Kreisen, so¬
wohl bei der Negierung wie bei den Parlamentariern und son¬
stigen Beratern aus Landwirtschaft, Handel und Industrie, uoch
immer eine sehr starke Abneigung gegen die Erörterung prinzi¬
pieller und allgemeiner Fragen, wie sie die nationalökonomische Wissenschaft
aufzustellen lind zu beantworten hat, bemerkbar. Die Erscheinung begann in
den letzten siebziger Jahren, als Fürst Bismarck in schroffem Bruch mit der
einseitigen Freihandelsdoktrin den Übergang zum allgemeinen Schutzzollsystem
durchsetzte. Sie war die natürliche Reaktion gegen die die Gesetzgebung be¬
herrschende Prinzipienreiterei, an der übrigens damals schon die Vertreter der
Wissenschaft nur noch in wenig Ausnahmen beteiligt waren. Wenn sich heute
die Abneigung gegen Prinzipien und Wissenschaft noch ebenso stark oder noch
stärker geltend macht, so wird man doch fragen dürfen, ob das ganz gerecht¬
fertigt ist. Je näher die Entscheidung über die Neuregluug unsrer Zoll- und
Handelspolitik rückt, um so mehr muß sich die Notwendigkeit fühlbar machen,
daß man über die großen grundsätzlichen Fragen, die dabei in Betracht kommen,
klar wird und die Erfahrungen, die in den letzten Jahren gemacht worden
sind, von einer höhern, über den Sonderintcressen der Gegenwart stehenden
Warte prüft, wie sie die Wissenschaft einnimmt. Das der herrschenden Neigung
entsprechende Sammeln von Thatsachen und immer wieder Thatsachen durch
Befragen der materiell interessierten Praktiker, die Aufstellung immer neuer und
detaillierterer Jnteressenstatistiken, die Veranstaltung immer speziellerer Spezial-
forschungen mag ja ganz verdienstlich sein, aber es führt schließlich dazu, daß
das Wort wahr wird: „Dann hat er die Teile in seiner Hand, fehlt leider nur
das geistige Band." Darauf deutet es doch hin, wenn neuerdings von einem
seit Jahren ausschließlich mit den Vorbereitungen der neuen Handelsverträge
beschäftigten Wirtschaftspolitiker*) offen eingestanden wird, daß die Einzel-
thütigkcit, die bisher von allen beteiligten Stellen entwickelt worden sei, wenig
mehr bedeutete, „als die Beschaffung von Material für die Lösung der ge¬
stellten Frage." Ob ein einzelner Zollsatz so oder so festgesetzt werde, sei an
sich und für seinen Interessentenkreis zwar wichtig, aber es verschwinde hinter
den Fragen: „Welches System ist anzuwenden? Welche Grundsätze miisseu
uns leiten? Ist unsre Entwicklung auf dem rechten Wege, und welche Mittel



*) Dr. Vosberg-Rekow, Die Handelsverträge des Jahren 1903. Berlin, I. Gutlen-
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/178>, abgerufen am 26.06.2024.