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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Line neue Theorie des Römischen

es den Handlungsreisender als Ersatz für den "allzeit witzigen Gesellschafter,"
den "allzeit fertigen Toastredner" und die übrigen Requisiten eines Wirts¬
hauslöwen empfehlen.

Einer neuen Theorie des Komischen bedürfen wir nicht; mit den alten Lehren
unsrer großen Ästhetiker, die einander ergänzen, kommen wir vollständig ans.
Für den Ausbau dieser alten Theorien bleibt allerdings noch Raum und
Material übrig, und im einzelnen wäre noch so manches nützliche Geschäft zu
verrichten. So z. V. müßte einmal gründlich gegen das Fälschlich-Komische
zu Felde gezogen werden, nicht gegen das, was Überhörst irrtümlich so nennt,
sondern z. B. gegen Albernheiten wie die oben angeführten, die er selbst als
Witze passieren läßt. Es gehört dahin auch, wem? in Familienblätteru Un¬
fälle, die reine Unfälle und sonst nichts sind, Unsitten wie das Schulden-
machen, die ernste Rüge verdienen, und Dummheiten, die gar nicht vorkommen,
weil es so dumme Leute nicht giebt, als Stoff für Witze verwandt und sogar
zu sogenannten Humoresken ausgesponnen werden. Im häufigen Lachen über
Dinge, die eigentlich gar nicht lächerlich sind, liegt dann auch die Aufforde¬
rung, einmal den subjektiven Bestandteil des Komischen gründlich zu unter¬
suchen. Der ganz Stumpfsinnige lacht überhaupt nicht; weil er nur mit den
Angen und Ohren, nicht mit dem Geiste sieht und hört, darum schön und
häßlich, ernst und komisch nicht unterscheidet, kann er so wenig lachen wie das
Tier; deshalb sehen die Gesichter der brasilianischen Urwaldbewohner ernsthaft
und traurig aus. Der Stumpfsinnige verwundert sich auch über nichts; seine
Aufmerksamkeit erregt nur das, was entweder seinen rein tierischen Bedürfnissen
Befriedigung verspricht oder seineu Leib mit Schmerz und Tod bedroht. Ist
der Stumpfsinn überwunden und das geistige Leben erwacht, dann erregt jede
neue Erscheinung zunächst die Verwunderung, deren Ausdruck uns am nor¬
malen Kinde des Europäers erfreut. Und was den Ungebildeten aber zum
vollen Selbstbewußtsein Erweckten, z. B. einen Hinterwäldler, der das erstemal
im Leben eine Stadt betritt, was einen solchen in Erstaunen versetzt, das er¬
regt meistens auch sein Lachen; durch den Gegensatz zu allem Gewohnten wirkt
das Neue als ein Komisches auf ihn. (Von diesem Lachen ist das Verlegcn-
heitslachen des Ungebildeten zu unterscheiden, der reden soll aber keinen Satz
herausbringt, und der sein Verlangen, sich als ein denkendes Wesen zu be¬
thätigen, nur durch Gesichterschneiden, unartikulierte Laute, Drehen der Mütze,
Trippeln und dergleichen ausdrücken kann.) Lacht der Unwissende und Uner-
fcchrnc über alles Neue, so der Rohe und Bösartige über die Schmerzen andrer,
deren Kundgebung ihm komisch erscheint und Freude bereitet; der Gebildete
lacht über keins von beiden, dafür lacht er über feine Witze und politische Er¬
eignisse, die die beiden andern gleichgiltig lassen, weil sie die Komik davon
nicht versteh". Dafür hält er wieder den von Mark Twain geschaffnen
Arizona-Kickerstil nicht für komisch, sondern bloß für roh und albern (Überhorst
würdigt eine solche Redaktionsstnben,,Humoreske" der Aufnahme). Und wie
sehr hängt es von der Stimmung eines jeden ab, ob er über einen Vorfall


Line neue Theorie des Römischen

es den Handlungsreisender als Ersatz für den „allzeit witzigen Gesellschafter,"
den „allzeit fertigen Toastredner" und die übrigen Requisiten eines Wirts¬
hauslöwen empfehlen.

Einer neuen Theorie des Komischen bedürfen wir nicht; mit den alten Lehren
unsrer großen Ästhetiker, die einander ergänzen, kommen wir vollständig ans.
Für den Ausbau dieser alten Theorien bleibt allerdings noch Raum und
Material übrig, und im einzelnen wäre noch so manches nützliche Geschäft zu
verrichten. So z. V. müßte einmal gründlich gegen das Fälschlich-Komische
zu Felde gezogen werden, nicht gegen das, was Überhörst irrtümlich so nennt,
sondern z. B. gegen Albernheiten wie die oben angeführten, die er selbst als
Witze passieren läßt. Es gehört dahin auch, wem? in Familienblätteru Un¬
fälle, die reine Unfälle und sonst nichts sind, Unsitten wie das Schulden-
machen, die ernste Rüge verdienen, und Dummheiten, die gar nicht vorkommen,
weil es so dumme Leute nicht giebt, als Stoff für Witze verwandt und sogar
zu sogenannten Humoresken ausgesponnen werden. Im häufigen Lachen über
Dinge, die eigentlich gar nicht lächerlich sind, liegt dann auch die Aufforde¬
rung, einmal den subjektiven Bestandteil des Komischen gründlich zu unter¬
suchen. Der ganz Stumpfsinnige lacht überhaupt nicht; weil er nur mit den
Angen und Ohren, nicht mit dem Geiste sieht und hört, darum schön und
häßlich, ernst und komisch nicht unterscheidet, kann er so wenig lachen wie das
Tier; deshalb sehen die Gesichter der brasilianischen Urwaldbewohner ernsthaft
und traurig aus. Der Stumpfsinnige verwundert sich auch über nichts; seine
Aufmerksamkeit erregt nur das, was entweder seinen rein tierischen Bedürfnissen
Befriedigung verspricht oder seineu Leib mit Schmerz und Tod bedroht. Ist
der Stumpfsinn überwunden und das geistige Leben erwacht, dann erregt jede
neue Erscheinung zunächst die Verwunderung, deren Ausdruck uns am nor¬
malen Kinde des Europäers erfreut. Und was den Ungebildeten aber zum
vollen Selbstbewußtsein Erweckten, z. B. einen Hinterwäldler, der das erstemal
im Leben eine Stadt betritt, was einen solchen in Erstaunen versetzt, das er¬
regt meistens auch sein Lachen; durch den Gegensatz zu allem Gewohnten wirkt
das Neue als ein Komisches auf ihn. (Von diesem Lachen ist das Verlegcn-
heitslachen des Ungebildeten zu unterscheiden, der reden soll aber keinen Satz
herausbringt, und der sein Verlangen, sich als ein denkendes Wesen zu be¬
thätigen, nur durch Gesichterschneiden, unartikulierte Laute, Drehen der Mütze,
Trippeln und dergleichen ausdrücken kann.) Lacht der Unwissende und Uner-
fcchrnc über alles Neue, so der Rohe und Bösartige über die Schmerzen andrer,
deren Kundgebung ihm komisch erscheint und Freude bereitet; der Gebildete
lacht über keins von beiden, dafür lacht er über feine Witze und politische Er¬
eignisse, die die beiden andern gleichgiltig lassen, weil sie die Komik davon
nicht versteh«. Dafür hält er wieder den von Mark Twain geschaffnen
Arizona-Kickerstil nicht für komisch, sondern bloß für roh und albern (Überhorst
würdigt eine solche Redaktionsstnben,,Humoreske" der Aufnahme). Und wie
sehr hängt es von der Stimmung eines jeden ab, ob er über einen Vorfall


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[0587] Line neue Theorie des Römischen es den Handlungsreisender als Ersatz für den „allzeit witzigen Gesellschafter," den „allzeit fertigen Toastredner" und die übrigen Requisiten eines Wirts¬ hauslöwen empfehlen. Einer neuen Theorie des Komischen bedürfen wir nicht; mit den alten Lehren unsrer großen Ästhetiker, die einander ergänzen, kommen wir vollständig ans. Für den Ausbau dieser alten Theorien bleibt allerdings noch Raum und Material übrig, und im einzelnen wäre noch so manches nützliche Geschäft zu verrichten. So z. V. müßte einmal gründlich gegen das Fälschlich-Komische zu Felde gezogen werden, nicht gegen das, was Überhörst irrtümlich so nennt, sondern z. B. gegen Albernheiten wie die oben angeführten, die er selbst als Witze passieren läßt. Es gehört dahin auch, wem? in Familienblätteru Un¬ fälle, die reine Unfälle und sonst nichts sind, Unsitten wie das Schulden- machen, die ernste Rüge verdienen, und Dummheiten, die gar nicht vorkommen, weil es so dumme Leute nicht giebt, als Stoff für Witze verwandt und sogar zu sogenannten Humoresken ausgesponnen werden. Im häufigen Lachen über Dinge, die eigentlich gar nicht lächerlich sind, liegt dann auch die Aufforde¬ rung, einmal den subjektiven Bestandteil des Komischen gründlich zu unter¬ suchen. Der ganz Stumpfsinnige lacht überhaupt nicht; weil er nur mit den Angen und Ohren, nicht mit dem Geiste sieht und hört, darum schön und häßlich, ernst und komisch nicht unterscheidet, kann er so wenig lachen wie das Tier; deshalb sehen die Gesichter der brasilianischen Urwaldbewohner ernsthaft und traurig aus. Der Stumpfsinnige verwundert sich auch über nichts; seine Aufmerksamkeit erregt nur das, was entweder seinen rein tierischen Bedürfnissen Befriedigung verspricht oder seineu Leib mit Schmerz und Tod bedroht. Ist der Stumpfsinn überwunden und das geistige Leben erwacht, dann erregt jede neue Erscheinung zunächst die Verwunderung, deren Ausdruck uns am nor¬ malen Kinde des Europäers erfreut. Und was den Ungebildeten aber zum vollen Selbstbewußtsein Erweckten, z. B. einen Hinterwäldler, der das erstemal im Leben eine Stadt betritt, was einen solchen in Erstaunen versetzt, das er¬ regt meistens auch sein Lachen; durch den Gegensatz zu allem Gewohnten wirkt das Neue als ein Komisches auf ihn. (Von diesem Lachen ist das Verlegcn- heitslachen des Ungebildeten zu unterscheiden, der reden soll aber keinen Satz herausbringt, und der sein Verlangen, sich als ein denkendes Wesen zu be¬ thätigen, nur durch Gesichterschneiden, unartikulierte Laute, Drehen der Mütze, Trippeln und dergleichen ausdrücken kann.) Lacht der Unwissende und Uner- fcchrnc über alles Neue, so der Rohe und Bösartige über die Schmerzen andrer, deren Kundgebung ihm komisch erscheint und Freude bereitet; der Gebildete lacht über keins von beiden, dafür lacht er über feine Witze und politische Er¬ eignisse, die die beiden andern gleichgiltig lassen, weil sie die Komik davon nicht versteh«. Dafür hält er wieder den von Mark Twain geschaffnen Arizona-Kickerstil nicht für komisch, sondern bloß für roh und albern (Überhorst würdigt eine solche Redaktionsstnben,,Humoreske" der Aufnahme). Und wie sehr hängt es von der Stimmung eines jeden ab, ob er über einen Vorfall

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/587>, abgerufen am 22.07.2024.