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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Großkapital und größeres Deutschland

Wahrnehmungen sind ganz erfreulich, aber eine Antwort auf unsre Frage
geben sie nicht.

Die vielen und schon lauge untcrnommncn Versuche, das Volksvermögen
und das Volkseinkommen in Deutschland und in den andern Kulturstaaten
zu schützen, haben bisher nur wenig zuverlässige Ergebnisse gezeitigt, und man
sollte sich hüten, so, wie dies neuerdings mehrfach geschehen ist, darüber Zahlen
in die Welt hinauszuposaunen, die jeder sichern Grundlage entbehren lind vor
einer wissenschaftlichen Kritik nicht bestehn. Es ist namentlich in der jüngsten
Flottenkampagne der Mund wegen des rapiden Wachstums unsers National¬
reichtums sehr voll genommen worden, obwohl sich unsre amtliche Statistik
wohlweislich jeder Teilnahme an solchen vagen Schätzungen enthalten hat.
Zu der Annahme, daß Deutschland, das anerkanntermaßen bis vor wenig
Jahrzehnten -- etwa gerade so lange, als es zu deu Getreideexportländern
gehörte -- ein verhältnismäßig armes Land war, jetzt schou Frankreich an
Nationalreichtnm überflügle und England beinahe eingeholt habe, fehlt es
durchaus an stichhaltigen Grundlagen. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte spricht
ganz entschieden dagegen. Es fehlt bei uns nun einmal der Reichtum von
den Großvätern her, der alte Besitz ertragreicher Kolonien, der Schatz von
Edelmetallen in der Erde; und im Handel nach dem Auslande sind wir bis
in die jüngste Zeit hinein viel zu sehr der "billige Maun" -- natürlich not¬
gedrungen -- gewesen, als daß wir nun auf einmal als Nabobs unter den
Völkern dastehn könnten. Unsre Landwirtschaft hat, von geringen Ausnahmen
abgesehen, niemals wertvolle Exportware geliefert. Zuchttiere und Samen, an
denen viel verdient wird, haben wir schon längst vom Auslande gekauft und
den englischen, französischen, holländischen, belgischen, dünischen und andern
Züchtern schweres Geld dafür bezahlt. Heute ist das kaum besser geworden.
Dafür verkaufen wir den Zucker ins Ausland zu niedrigern Preisen als im
Inlande. Die Industrie hat mit dein Grundsatz "billig und schlecht" im Export¬
geschäft, wie man sagt, seit einiger Zeit gebrochen, aber trotzdem ist bekanntlich
der Wert unsers Exports gegenüber der ungeheuern Steigerung der industriellen
Produktion arg zurückgeblieben, wenn auch die Exportmeugen mit der Zunahme
des Personals in Industrie, Handel und Verkehr von 1882 bis 1895 so
ziemlich gleichen Schritt gehalten hatte. Dagegen ist die Einfuhr auch an
Wert gewaltig gestiegen, die Handelsbilanz immer "passiver" geworden. Daß
seit 1895 der Export wieder etwas lohnender geworden zu sein scheint, ändert
an der ganzen Sachlage wenig. Wo soll denn da das große, überschießende,
bewegliche Kapital herkommen, von dem mau so viel Geschrei macht, zumal
da auch das Verteilen des Volkseinkommens so erfreuliche Fortschritte gemacht
hat? Sind etwa die übertriebnen Emissionen von Jndustriepapieren in deu
letzten Jahren ein Beweis für die Stürke unsers überschießenden Großkapitals?
Erstens sind Kteinkapitalisten wahrscheinlich dabei nur zu sehr aus den Leim
gegangen, infolge ihrer Spekulationssucht, oder weil der Zinsfuß der Staats-
papiere und der landwirtschaftlichen Kreditinstitute ihnen mit Recht zu niedrig


Großkapital und größeres Deutschland

Wahrnehmungen sind ganz erfreulich, aber eine Antwort auf unsre Frage
geben sie nicht.

Die vielen und schon lauge untcrnommncn Versuche, das Volksvermögen
und das Volkseinkommen in Deutschland und in den andern Kulturstaaten
zu schützen, haben bisher nur wenig zuverlässige Ergebnisse gezeitigt, und man
sollte sich hüten, so, wie dies neuerdings mehrfach geschehen ist, darüber Zahlen
in die Welt hinauszuposaunen, die jeder sichern Grundlage entbehren lind vor
einer wissenschaftlichen Kritik nicht bestehn. Es ist namentlich in der jüngsten
Flottenkampagne der Mund wegen des rapiden Wachstums unsers National¬
reichtums sehr voll genommen worden, obwohl sich unsre amtliche Statistik
wohlweislich jeder Teilnahme an solchen vagen Schätzungen enthalten hat.
Zu der Annahme, daß Deutschland, das anerkanntermaßen bis vor wenig
Jahrzehnten — etwa gerade so lange, als es zu deu Getreideexportländern
gehörte — ein verhältnismäßig armes Land war, jetzt schou Frankreich an
Nationalreichtnm überflügle und England beinahe eingeholt habe, fehlt es
durchaus an stichhaltigen Grundlagen. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte spricht
ganz entschieden dagegen. Es fehlt bei uns nun einmal der Reichtum von
den Großvätern her, der alte Besitz ertragreicher Kolonien, der Schatz von
Edelmetallen in der Erde; und im Handel nach dem Auslande sind wir bis
in die jüngste Zeit hinein viel zu sehr der „billige Maun" — natürlich not¬
gedrungen — gewesen, als daß wir nun auf einmal als Nabobs unter den
Völkern dastehn könnten. Unsre Landwirtschaft hat, von geringen Ausnahmen
abgesehen, niemals wertvolle Exportware geliefert. Zuchttiere und Samen, an
denen viel verdient wird, haben wir schon längst vom Auslande gekauft und
den englischen, französischen, holländischen, belgischen, dünischen und andern
Züchtern schweres Geld dafür bezahlt. Heute ist das kaum besser geworden.
Dafür verkaufen wir den Zucker ins Ausland zu niedrigern Preisen als im
Inlande. Die Industrie hat mit dein Grundsatz „billig und schlecht" im Export¬
geschäft, wie man sagt, seit einiger Zeit gebrochen, aber trotzdem ist bekanntlich
der Wert unsers Exports gegenüber der ungeheuern Steigerung der industriellen
Produktion arg zurückgeblieben, wenn auch die Exportmeugen mit der Zunahme
des Personals in Industrie, Handel und Verkehr von 1882 bis 1895 so
ziemlich gleichen Schritt gehalten hatte. Dagegen ist die Einfuhr auch an
Wert gewaltig gestiegen, die Handelsbilanz immer „passiver" geworden. Daß
seit 1895 der Export wieder etwas lohnender geworden zu sein scheint, ändert
an der ganzen Sachlage wenig. Wo soll denn da das große, überschießende,
bewegliche Kapital herkommen, von dem mau so viel Geschrei macht, zumal
da auch das Verteilen des Volkseinkommens so erfreuliche Fortschritte gemacht
hat? Sind etwa die übertriebnen Emissionen von Jndustriepapieren in deu
letzten Jahren ein Beweis für die Stürke unsers überschießenden Großkapitals?
Erstens sind Kteinkapitalisten wahrscheinlich dabei nur zu sehr aus den Leim
gegangen, infolge ihrer Spekulationssucht, oder weil der Zinsfuß der Staats-
papiere und der landwirtschaftlichen Kreditinstitute ihnen mit Recht zu niedrig


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[0522] Großkapital und größeres Deutschland Wahrnehmungen sind ganz erfreulich, aber eine Antwort auf unsre Frage geben sie nicht. Die vielen und schon lauge untcrnommncn Versuche, das Volksvermögen und das Volkseinkommen in Deutschland und in den andern Kulturstaaten zu schützen, haben bisher nur wenig zuverlässige Ergebnisse gezeitigt, und man sollte sich hüten, so, wie dies neuerdings mehrfach geschehen ist, darüber Zahlen in die Welt hinauszuposaunen, die jeder sichern Grundlage entbehren lind vor einer wissenschaftlichen Kritik nicht bestehn. Es ist namentlich in der jüngsten Flottenkampagne der Mund wegen des rapiden Wachstums unsers National¬ reichtums sehr voll genommen worden, obwohl sich unsre amtliche Statistik wohlweislich jeder Teilnahme an solchen vagen Schätzungen enthalten hat. Zu der Annahme, daß Deutschland, das anerkanntermaßen bis vor wenig Jahrzehnten — etwa gerade so lange, als es zu deu Getreideexportländern gehörte — ein verhältnismäßig armes Land war, jetzt schou Frankreich an Nationalreichtnm überflügle und England beinahe eingeholt habe, fehlt es durchaus an stichhaltigen Grundlagen. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte spricht ganz entschieden dagegen. Es fehlt bei uns nun einmal der Reichtum von den Großvätern her, der alte Besitz ertragreicher Kolonien, der Schatz von Edelmetallen in der Erde; und im Handel nach dem Auslande sind wir bis in die jüngste Zeit hinein viel zu sehr der „billige Maun" — natürlich not¬ gedrungen — gewesen, als daß wir nun auf einmal als Nabobs unter den Völkern dastehn könnten. Unsre Landwirtschaft hat, von geringen Ausnahmen abgesehen, niemals wertvolle Exportware geliefert. Zuchttiere und Samen, an denen viel verdient wird, haben wir schon längst vom Auslande gekauft und den englischen, französischen, holländischen, belgischen, dünischen und andern Züchtern schweres Geld dafür bezahlt. Heute ist das kaum besser geworden. Dafür verkaufen wir den Zucker ins Ausland zu niedrigern Preisen als im Inlande. Die Industrie hat mit dein Grundsatz „billig und schlecht" im Export¬ geschäft, wie man sagt, seit einiger Zeit gebrochen, aber trotzdem ist bekanntlich der Wert unsers Exports gegenüber der ungeheuern Steigerung der industriellen Produktion arg zurückgeblieben, wenn auch die Exportmeugen mit der Zunahme des Personals in Industrie, Handel und Verkehr von 1882 bis 1895 so ziemlich gleichen Schritt gehalten hatte. Dagegen ist die Einfuhr auch an Wert gewaltig gestiegen, die Handelsbilanz immer „passiver" geworden. Daß seit 1895 der Export wieder etwas lohnender geworden zu sein scheint, ändert an der ganzen Sachlage wenig. Wo soll denn da das große, überschießende, bewegliche Kapital herkommen, von dem mau so viel Geschrei macht, zumal da auch das Verteilen des Volkseinkommens so erfreuliche Fortschritte gemacht hat? Sind etwa die übertriebnen Emissionen von Jndustriepapieren in deu letzten Jahren ein Beweis für die Stürke unsers überschießenden Großkapitals? Erstens sind Kteinkapitalisten wahrscheinlich dabei nur zu sehr aus den Leim gegangen, infolge ihrer Spekulationssucht, oder weil der Zinsfuß der Staats- papiere und der landwirtschaftlichen Kreditinstitute ihnen mit Recht zu niedrig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/522>, abgerufen am 25.08.2024.