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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Weltmacht

leonischen zu Anfang des Jahrhunderts und die napoleonischen unsrer Zeit
und manche andre noch -- wem haben wir sie meist zu danken, als unsrer
deutschen nationalen Verkommenheit, die unsre Kraft lähmte? Wir ließen uns
immer von ehrgeizigen Fürsten oder herrschsüchtigen Pfaffen mißbrauchen, bis
Deutschland so hohl an Kraft war, daß alle Mächte Europas in Deutschland
mehr zu sagen hatten als wir selbst. Alle saßen sie um die deutsche Schüssel
herum, von Rußland nud England und Frankreich bis aus Dänemark und
Italien,*) und steckten ihre Löffel in unsre Suppe. Und diese Situation war
ein Kardinalpunkt in dem, was man damals das System des europäischen
Gleichgewichts nannte. Damals! denn das ist nun, Gott sei Dank, vorüber
seit 1866 und besonders seit 1870. Und wie vollständig hat sich das Bild
seitdem geändert! So vollständig, daß man fast noch ingrimmiger auf unser
früheres nationales Elend zurücksieht, seit man erkennt, welche nationale Kraft
bloß durch die Uneinigkeit gelähmt war, und was wir, wenn einig, vielleicht
schon längst Hütten sein können. Wie mit einem Znüberschlage sind alle
fremden Finger von der Suppe weg und alle hungrigen Mäuler uach aus¬
wärts gekehrt. Von dem Augenblick an, wo es wieder ein Deutsches Reich
gab, begann der Kontinent sich von der bloß kontinentalen Politik ab- und der
Weltpolitik zuzuwenden.

Freilich war diese Wendung schon eine geraume Zeit vorher durch ver-
schiedne Ursachen vorbereitet wordeu. Seit Englands Seeherrschaft und sein
gewaltiger Kolonialbesitz gesichert waren, lag seine Zukunft ans dein Wasser
und begann sein Interesse an den kontinentalen Angelegenheiten Europas zu
sinken. Industrie und Handel wandten sich immer mehr den außereuropäischen
Ländern zu, und angesichts der großen englischen Erfolge begannen anch andre
europäische Staaten die Pfade Englands aufzusuchen. Frankreich ging nach
Afrika hinüber, Rußland drang erobernd in Mittelasien vor, Norwegen, Däne¬
mark, die Niederlande, die Hansestädte suchten sich stärker am überseeischen
Handel zu beteiligen. Frankreich machte sogar einen unglücklichen Versuch,
sich in Mexiko festzusetzen, und bezahlte ihn mit dem Leben eines österreichischen
Erzherzogs; es unternahm einen kaum nützlichem Zug nach China, von dem
seine englischen Bundesgenossen den Vorteil zogen. Aber noch blieben die
wesentlichen Interessen der kontinentalen Mächte in der kontinentalen Politik
beschlossen, deren hauptsächliche Werte in deutschem, italienischem oder türkischem
Boden bestanden. Da wurden diese Anschauungen aufs neue nach müßen ge¬
lenkt durch die Eröffnung des Snezkanals im Jahre 1869.

Dieser Kanal steht in seinen politischen Folgen würdig neben den beiden
großen Begebenheiten jener Zeit, dem deutsch-französischen Kriege und dem
vatikanischen Konzil. Er brachte in die Industrie und den Handel einen Auf¬
schwung, wie er früher niemals vorgekommen ist, so viel größer auch die Er¬
regung gewesen sein mag, als man in Europa von der Entdeckung des See¬
wegs nach Ostindien um das Kap oder von dem andern Wege über West-



*) Siehe das Großherzogtum Wttrzburg.
Weltmacht

leonischen zu Anfang des Jahrhunderts und die napoleonischen unsrer Zeit
und manche andre noch — wem haben wir sie meist zu danken, als unsrer
deutschen nationalen Verkommenheit, die unsre Kraft lähmte? Wir ließen uns
immer von ehrgeizigen Fürsten oder herrschsüchtigen Pfaffen mißbrauchen, bis
Deutschland so hohl an Kraft war, daß alle Mächte Europas in Deutschland
mehr zu sagen hatten als wir selbst. Alle saßen sie um die deutsche Schüssel
herum, von Rußland nud England und Frankreich bis aus Dänemark und
Italien,*) und steckten ihre Löffel in unsre Suppe. Und diese Situation war
ein Kardinalpunkt in dem, was man damals das System des europäischen
Gleichgewichts nannte. Damals! denn das ist nun, Gott sei Dank, vorüber
seit 1866 und besonders seit 1870. Und wie vollständig hat sich das Bild
seitdem geändert! So vollständig, daß man fast noch ingrimmiger auf unser
früheres nationales Elend zurücksieht, seit man erkennt, welche nationale Kraft
bloß durch die Uneinigkeit gelähmt war, und was wir, wenn einig, vielleicht
schon längst Hütten sein können. Wie mit einem Znüberschlage sind alle
fremden Finger von der Suppe weg und alle hungrigen Mäuler uach aus¬
wärts gekehrt. Von dem Augenblick an, wo es wieder ein Deutsches Reich
gab, begann der Kontinent sich von der bloß kontinentalen Politik ab- und der
Weltpolitik zuzuwenden.

Freilich war diese Wendung schon eine geraume Zeit vorher durch ver-
schiedne Ursachen vorbereitet wordeu. Seit Englands Seeherrschaft und sein
gewaltiger Kolonialbesitz gesichert waren, lag seine Zukunft ans dein Wasser
und begann sein Interesse an den kontinentalen Angelegenheiten Europas zu
sinken. Industrie und Handel wandten sich immer mehr den außereuropäischen
Ländern zu, und angesichts der großen englischen Erfolge begannen anch andre
europäische Staaten die Pfade Englands aufzusuchen. Frankreich ging nach
Afrika hinüber, Rußland drang erobernd in Mittelasien vor, Norwegen, Däne¬
mark, die Niederlande, die Hansestädte suchten sich stärker am überseeischen
Handel zu beteiligen. Frankreich machte sogar einen unglücklichen Versuch,
sich in Mexiko festzusetzen, und bezahlte ihn mit dem Leben eines österreichischen
Erzherzogs; es unternahm einen kaum nützlichem Zug nach China, von dem
seine englischen Bundesgenossen den Vorteil zogen. Aber noch blieben die
wesentlichen Interessen der kontinentalen Mächte in der kontinentalen Politik
beschlossen, deren hauptsächliche Werte in deutschem, italienischem oder türkischem
Boden bestanden. Da wurden diese Anschauungen aufs neue nach müßen ge¬
lenkt durch die Eröffnung des Snezkanals im Jahre 1869.

Dieser Kanal steht in seinen politischen Folgen würdig neben den beiden
großen Begebenheiten jener Zeit, dem deutsch-französischen Kriege und dem
vatikanischen Konzil. Er brachte in die Industrie und den Handel einen Auf¬
schwung, wie er früher niemals vorgekommen ist, so viel größer auch die Er¬
regung gewesen sein mag, als man in Europa von der Entdeckung des See¬
wegs nach Ostindien um das Kap oder von dem andern Wege über West-



*) Siehe das Großherzogtum Wttrzburg.
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[0517] Weltmacht leonischen zu Anfang des Jahrhunderts und die napoleonischen unsrer Zeit und manche andre noch — wem haben wir sie meist zu danken, als unsrer deutschen nationalen Verkommenheit, die unsre Kraft lähmte? Wir ließen uns immer von ehrgeizigen Fürsten oder herrschsüchtigen Pfaffen mißbrauchen, bis Deutschland so hohl an Kraft war, daß alle Mächte Europas in Deutschland mehr zu sagen hatten als wir selbst. Alle saßen sie um die deutsche Schüssel herum, von Rußland nud England und Frankreich bis aus Dänemark und Italien,*) und steckten ihre Löffel in unsre Suppe. Und diese Situation war ein Kardinalpunkt in dem, was man damals das System des europäischen Gleichgewichts nannte. Damals! denn das ist nun, Gott sei Dank, vorüber seit 1866 und besonders seit 1870. Und wie vollständig hat sich das Bild seitdem geändert! So vollständig, daß man fast noch ingrimmiger auf unser früheres nationales Elend zurücksieht, seit man erkennt, welche nationale Kraft bloß durch die Uneinigkeit gelähmt war, und was wir, wenn einig, vielleicht schon längst Hütten sein können. Wie mit einem Znüberschlage sind alle fremden Finger von der Suppe weg und alle hungrigen Mäuler uach aus¬ wärts gekehrt. Von dem Augenblick an, wo es wieder ein Deutsches Reich gab, begann der Kontinent sich von der bloß kontinentalen Politik ab- und der Weltpolitik zuzuwenden. Freilich war diese Wendung schon eine geraume Zeit vorher durch ver- schiedne Ursachen vorbereitet wordeu. Seit Englands Seeherrschaft und sein gewaltiger Kolonialbesitz gesichert waren, lag seine Zukunft ans dein Wasser und begann sein Interesse an den kontinentalen Angelegenheiten Europas zu sinken. Industrie und Handel wandten sich immer mehr den außereuropäischen Ländern zu, und angesichts der großen englischen Erfolge begannen anch andre europäische Staaten die Pfade Englands aufzusuchen. Frankreich ging nach Afrika hinüber, Rußland drang erobernd in Mittelasien vor, Norwegen, Däne¬ mark, die Niederlande, die Hansestädte suchten sich stärker am überseeischen Handel zu beteiligen. Frankreich machte sogar einen unglücklichen Versuch, sich in Mexiko festzusetzen, und bezahlte ihn mit dem Leben eines österreichischen Erzherzogs; es unternahm einen kaum nützlichem Zug nach China, von dem seine englischen Bundesgenossen den Vorteil zogen. Aber noch blieben die wesentlichen Interessen der kontinentalen Mächte in der kontinentalen Politik beschlossen, deren hauptsächliche Werte in deutschem, italienischem oder türkischem Boden bestanden. Da wurden diese Anschauungen aufs neue nach müßen ge¬ lenkt durch die Eröffnung des Snezkanals im Jahre 1869. Dieser Kanal steht in seinen politischen Folgen würdig neben den beiden großen Begebenheiten jener Zeit, dem deutsch-französischen Kriege und dem vatikanischen Konzil. Er brachte in die Industrie und den Handel einen Auf¬ schwung, wie er früher niemals vorgekommen ist, so viel größer auch die Er¬ regung gewesen sein mag, als man in Europa von der Entdeckung des See¬ wegs nach Ostindien um das Kap oder von dem andern Wege über West- *) Siehe das Großherzogtum Wttrzburg.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/517>, abgerufen am 01.10.2024.