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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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U)eltmacht

indien hörte. Die Jahre 1869 >ab 1871 haben dem alten Europa ein neues
Ansehen gegeben. Noch einmal versuchte Nußland die alte Orientfrage in seinem
Sinn zu lösen, noch einmal vertrat ihm England den Weg; dann wandte sich
Rußland dem Osten zu, und England legte 1882 die Hand auf Ägypten und
den Kanal. Wird seitdem von der Orientfrage gesprochen, so denkt man vorerst
an Ostasien und erinnert sich erst nachher, daß in Konstantinopel noch immer
der Großtürke herrscht.

Durch den Kanal drängten sich bald die europäischen Großmächte hinaus,
um in Asien und dann in Afrika koloniale Eroberungen zu machen, Frank¬
reich suchte sich in Hinterindien und Afrika für deu Verlust der einstigen großen
Kolonien zu entschädigen, Deutschland setzte sich in Afrika fest, der Kougostaat
wurde gegründet, Italien nahm sich auch ein Stück im Osten, nachdem es von
Tunis durch Frankreich ausgesperrt worden war. Und England griff überall
zu. Kaum war Afrika einigermaßen verteilt, so kam Asien dran. Und so
sehen wir uns heute fast plötzlich vor die Thatsache gestellt, daß die Interessen
der Hauptstaaten Europas über das alte Europa der Pentarchie hinaus die
gesamte Erde in überstürzender Eile zu erfassen bemüht sind. Nicht Herrsch¬
sucht ist das stärkste Motiv dieser Bewegung, wie es wohl bei einem Alexander
dem Großen, Cäsar, Napoleon der Fall war; eher läßt sich diese Bewegung
vergleichen mit dem Drange, der vor anderthalb Jahrtausenden die Völker zum
Wandern brachte: die Volkszahl und die Industrie treiben uns heute über das
Meer, es gilt für Menschen oder Waren Raum zu schaffen. Und an der Spitze
der neuen Kulturwandrung stehn nicht mehr die alten kontinentalen Großmächte,
sondern die Weltmächte.

Charles Dilke sieht in der Zukunft drei Weltmächte: Großbritannien,
die Vereinigten Staaten von Nordamerika und Rußland. Diese drei Reiche
sind in ihrer natürlichen Unterlage wie in ihrer Kulturausgestaltung sehr ver¬
schieden voneinander. Rußland ist ganz kontinental, in der Kultur von sehr
geringer eigner Kraft, in dieser Kraftlosigkeit erhalten von der erstickenden
Uniformität eines lmreaukratischen Absolutismus, aber durch eben diesen Abso¬
lutismus fähig, die rohen Kräfte für äußere Unternehmungen zu beleben und
zu verwenden. Sein inneres Gedeihen wird erst beginnen mit dem Zerfall
des bürokratisch zentralisierenden Absolutismus, der zu seiner Erhaltung der
expansiv-militärischen Politik bedarf. Im Gegensatz dazu ist England ganz
maritim, freiheitlich, von unerschöpflicher innerer Kulturkraft. Seine Zukunft
hängt davon ub, inwieweit es seine Kolonien in mehr oder minder stark föde¬
rativer Form wird an sich fesseln können. Die Vereinigten Staaten sind
kontinental, aber föderativ, expansiv, von gewaltiger Produktionskraft und in¬
folge der steigenden Industrie jetzt im Begriff sich eine maritime Stellung zu
schaffen. Für England sind die Vereinigten Staaten der gefährlichere von
beiden Nebenbuhlern; denn Rußland wird sich noch für lange keine Industrie
und keinen Handel für die Ausfuhr schaffen, die England zu fürchten brauchte.
Rußland ist also nur gefährlich, soweit und solange es England durch sein
Landheer bedrohen wird. Die Vereinigten Staaten bedrohen Kanada und


U)eltmacht

indien hörte. Die Jahre 1869 >ab 1871 haben dem alten Europa ein neues
Ansehen gegeben. Noch einmal versuchte Nußland die alte Orientfrage in seinem
Sinn zu lösen, noch einmal vertrat ihm England den Weg; dann wandte sich
Rußland dem Osten zu, und England legte 1882 die Hand auf Ägypten und
den Kanal. Wird seitdem von der Orientfrage gesprochen, so denkt man vorerst
an Ostasien und erinnert sich erst nachher, daß in Konstantinopel noch immer
der Großtürke herrscht.

Durch den Kanal drängten sich bald die europäischen Großmächte hinaus,
um in Asien und dann in Afrika koloniale Eroberungen zu machen, Frank¬
reich suchte sich in Hinterindien und Afrika für deu Verlust der einstigen großen
Kolonien zu entschädigen, Deutschland setzte sich in Afrika fest, der Kougostaat
wurde gegründet, Italien nahm sich auch ein Stück im Osten, nachdem es von
Tunis durch Frankreich ausgesperrt worden war. Und England griff überall
zu. Kaum war Afrika einigermaßen verteilt, so kam Asien dran. Und so
sehen wir uns heute fast plötzlich vor die Thatsache gestellt, daß die Interessen
der Hauptstaaten Europas über das alte Europa der Pentarchie hinaus die
gesamte Erde in überstürzender Eile zu erfassen bemüht sind. Nicht Herrsch¬
sucht ist das stärkste Motiv dieser Bewegung, wie es wohl bei einem Alexander
dem Großen, Cäsar, Napoleon der Fall war; eher läßt sich diese Bewegung
vergleichen mit dem Drange, der vor anderthalb Jahrtausenden die Völker zum
Wandern brachte: die Volkszahl und die Industrie treiben uns heute über das
Meer, es gilt für Menschen oder Waren Raum zu schaffen. Und an der Spitze
der neuen Kulturwandrung stehn nicht mehr die alten kontinentalen Großmächte,
sondern die Weltmächte.

Charles Dilke sieht in der Zukunft drei Weltmächte: Großbritannien,
die Vereinigten Staaten von Nordamerika und Rußland. Diese drei Reiche
sind in ihrer natürlichen Unterlage wie in ihrer Kulturausgestaltung sehr ver¬
schieden voneinander. Rußland ist ganz kontinental, in der Kultur von sehr
geringer eigner Kraft, in dieser Kraftlosigkeit erhalten von der erstickenden
Uniformität eines lmreaukratischen Absolutismus, aber durch eben diesen Abso¬
lutismus fähig, die rohen Kräfte für äußere Unternehmungen zu beleben und
zu verwenden. Sein inneres Gedeihen wird erst beginnen mit dem Zerfall
des bürokratisch zentralisierenden Absolutismus, der zu seiner Erhaltung der
expansiv-militärischen Politik bedarf. Im Gegensatz dazu ist England ganz
maritim, freiheitlich, von unerschöpflicher innerer Kulturkraft. Seine Zukunft
hängt davon ub, inwieweit es seine Kolonien in mehr oder minder stark föde¬
rativer Form wird an sich fesseln können. Die Vereinigten Staaten sind
kontinental, aber föderativ, expansiv, von gewaltiger Produktionskraft und in¬
folge der steigenden Industrie jetzt im Begriff sich eine maritime Stellung zu
schaffen. Für England sind die Vereinigten Staaten der gefährlichere von
beiden Nebenbuhlern; denn Rußland wird sich noch für lange keine Industrie
und keinen Handel für die Ausfuhr schaffen, die England zu fürchten brauchte.
Rußland ist also nur gefährlich, soweit und solange es England durch sein
Landheer bedrohen wird. Die Vereinigten Staaten bedrohen Kanada und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/518>, abgerufen am 01.07.2024.