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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Weltmacht

traditionelle Propaganda von 1793 aufgenommen und es dahin gebracht, daß
mit den Phantasien der heiligen Allianz gründlich aufgeräumt und der Abso¬
lutismus um ein beträchtliches Stück weiter nach Osten zurückgedrängt wurde.
Es bildeten sich nun zwei Konzerte statt des einen, das wcstmächtliche und
das ostmächtlichc, sodaß mau seitdem von einem europäischen Konzert bis zum
Pariser Frieden von 1856 eigentlich nicht mehr reden kann. Der Großmacht-
bcgriff des Wiener Kongresses hatte damit an seiner Bedeutung stark eingebüßt,
aber man behielt ihn doch insoweit bei, daß die große kontinentale Politik nur
von den fünf offiziell gemacht wurde und die übrigen Staaten in der zweiten,
mehr oder minder stummen Reihe blieben. Den letzten Stoß erhielt dann die
Pentnrchie deS Wiener Kongresses im Krimkriege. Die beiden Westmächtc
nahmen als Gleichberechtigte neben sich die Türkei, ja selbst das kleine Sar¬
dinien an, und mit Konzert und europäischem Areopag hatte es für längere
Zeit ein Ende. In Paris hatte man wenig dagegen einzuwenden, daß der
Vertreter der hohen Pforte seinen Namen gleich hinter die der legitimen Be¬
sitzer der kurulischen Sessel setzte, zeigte jedoch anfangs nicht übel Lust, Preußen
ganz beiseite zu lassen, was deutlich darthut, wie weit man von dem alten
Begriff der pentarchischen Großmacht abgekommen war.

Wenn von der konservativen Gleichgewichtsidee der alten Pentnrchie noch
ein Rest im Krimkriege zu Tage trat, so ging auch dieser im Laufe der nächsten
Ereignisse verloren. Die größten politischen Umwälzungen gingen vor sich,
ohne auch nur ernsthafte Versuche eines Konzerts der Großmächte. Denn
Konferenzen wie die von London 1804 oder die von Konstantinopel 1876
hinterließen so wenig den Eindruck einheitlicher Grundanschauung unter den
Mächten, daß alle Frieden dräuenden Konferenzen vor einem Kriege in Mi߬
kredit gerieten. Daß sie auch während eines Kriegs von geringem Wert
sind, zeigten die endlosen und nntzarmen Sitzungen der Diplomaten in Kon¬
stantinopel zur Zeit der griechisch-türkisch-kretischen Wirren von 1895 bis 1896.
Wären die Konferenzen so geeignete Löschanstälten, als man sie noch vor siebzig
Jahren gelten ließ, so Hütten fünf Kriegsschiffe im Pirüus viel Blutvergießen
erspart, und man Hütte in Kreta nicht ebenso halbe Arbeit gemacht, wie sech¬
zehn Jahre früher in Bulgarien, dem man Ostrumelicn nicht geben wollte,
was sieben Jahre spüter zu neuen Unruhen und zum eigenmächtigen Anschluß
der beideu bulgarischen Gebiete aneinander führte. Und in Berlin im Jahre
1878 bemerkte man, daß auch Friedenskonferenzen nach einem Kriege von
recht zweifelhaftem Wert für die vermittelnden Staaten sein können. Vollends
zu Grabe getragen hat man dann den ehemaligen europäischen Areopag im
Haag 1899, als große und kleine Mächte sich darüber einigten, daß sie sich
über Krieg und Frieden von keinem Areopag der Welt was wollten vor¬
schreiben lassen.

Die Abrüstungsidee entsprang in Rußland sehr wahrscheinlich aus den
finanziellen Nöten, in denen dieses Reich steckt, und schon das wäre genügend
gewesen, England zu dem Schlüsse zu bringen, daß die Abrüstung schädlich


Weltmacht

traditionelle Propaganda von 1793 aufgenommen und es dahin gebracht, daß
mit den Phantasien der heiligen Allianz gründlich aufgeräumt und der Abso¬
lutismus um ein beträchtliches Stück weiter nach Osten zurückgedrängt wurde.
Es bildeten sich nun zwei Konzerte statt des einen, das wcstmächtliche und
das ostmächtlichc, sodaß mau seitdem von einem europäischen Konzert bis zum
Pariser Frieden von 1856 eigentlich nicht mehr reden kann. Der Großmacht-
bcgriff des Wiener Kongresses hatte damit an seiner Bedeutung stark eingebüßt,
aber man behielt ihn doch insoweit bei, daß die große kontinentale Politik nur
von den fünf offiziell gemacht wurde und die übrigen Staaten in der zweiten,
mehr oder minder stummen Reihe blieben. Den letzten Stoß erhielt dann die
Pentnrchie deS Wiener Kongresses im Krimkriege. Die beiden Westmächtc
nahmen als Gleichberechtigte neben sich die Türkei, ja selbst das kleine Sar¬
dinien an, und mit Konzert und europäischem Areopag hatte es für längere
Zeit ein Ende. In Paris hatte man wenig dagegen einzuwenden, daß der
Vertreter der hohen Pforte seinen Namen gleich hinter die der legitimen Be¬
sitzer der kurulischen Sessel setzte, zeigte jedoch anfangs nicht übel Lust, Preußen
ganz beiseite zu lassen, was deutlich darthut, wie weit man von dem alten
Begriff der pentarchischen Großmacht abgekommen war.

Wenn von der konservativen Gleichgewichtsidee der alten Pentnrchie noch
ein Rest im Krimkriege zu Tage trat, so ging auch dieser im Laufe der nächsten
Ereignisse verloren. Die größten politischen Umwälzungen gingen vor sich,
ohne auch nur ernsthafte Versuche eines Konzerts der Großmächte. Denn
Konferenzen wie die von London 1804 oder die von Konstantinopel 1876
hinterließen so wenig den Eindruck einheitlicher Grundanschauung unter den
Mächten, daß alle Frieden dräuenden Konferenzen vor einem Kriege in Mi߬
kredit gerieten. Daß sie auch während eines Kriegs von geringem Wert
sind, zeigten die endlosen und nntzarmen Sitzungen der Diplomaten in Kon¬
stantinopel zur Zeit der griechisch-türkisch-kretischen Wirren von 1895 bis 1896.
Wären die Konferenzen so geeignete Löschanstälten, als man sie noch vor siebzig
Jahren gelten ließ, so Hütten fünf Kriegsschiffe im Pirüus viel Blutvergießen
erspart, und man Hütte in Kreta nicht ebenso halbe Arbeit gemacht, wie sech¬
zehn Jahre früher in Bulgarien, dem man Ostrumelicn nicht geben wollte,
was sieben Jahre spüter zu neuen Unruhen und zum eigenmächtigen Anschluß
der beideu bulgarischen Gebiete aneinander führte. Und in Berlin im Jahre
1878 bemerkte man, daß auch Friedenskonferenzen nach einem Kriege von
recht zweifelhaftem Wert für die vermittelnden Staaten sein können. Vollends
zu Grabe getragen hat man dann den ehemaligen europäischen Areopag im
Haag 1899, als große und kleine Mächte sich darüber einigten, daß sie sich
über Krieg und Frieden von keinem Areopag der Welt was wollten vor¬
schreiben lassen.

Die Abrüstungsidee entsprang in Rußland sehr wahrscheinlich aus den
finanziellen Nöten, in denen dieses Reich steckt, und schon das wäre genügend
gewesen, England zu dem Schlüsse zu bringen, daß die Abrüstung schädlich


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[0515] Weltmacht traditionelle Propaganda von 1793 aufgenommen und es dahin gebracht, daß mit den Phantasien der heiligen Allianz gründlich aufgeräumt und der Abso¬ lutismus um ein beträchtliches Stück weiter nach Osten zurückgedrängt wurde. Es bildeten sich nun zwei Konzerte statt des einen, das wcstmächtliche und das ostmächtlichc, sodaß mau seitdem von einem europäischen Konzert bis zum Pariser Frieden von 1856 eigentlich nicht mehr reden kann. Der Großmacht- bcgriff des Wiener Kongresses hatte damit an seiner Bedeutung stark eingebüßt, aber man behielt ihn doch insoweit bei, daß die große kontinentale Politik nur von den fünf offiziell gemacht wurde und die übrigen Staaten in der zweiten, mehr oder minder stummen Reihe blieben. Den letzten Stoß erhielt dann die Pentnrchie deS Wiener Kongresses im Krimkriege. Die beiden Westmächtc nahmen als Gleichberechtigte neben sich die Türkei, ja selbst das kleine Sar¬ dinien an, und mit Konzert und europäischem Areopag hatte es für längere Zeit ein Ende. In Paris hatte man wenig dagegen einzuwenden, daß der Vertreter der hohen Pforte seinen Namen gleich hinter die der legitimen Be¬ sitzer der kurulischen Sessel setzte, zeigte jedoch anfangs nicht übel Lust, Preußen ganz beiseite zu lassen, was deutlich darthut, wie weit man von dem alten Begriff der pentarchischen Großmacht abgekommen war. Wenn von der konservativen Gleichgewichtsidee der alten Pentnrchie noch ein Rest im Krimkriege zu Tage trat, so ging auch dieser im Laufe der nächsten Ereignisse verloren. Die größten politischen Umwälzungen gingen vor sich, ohne auch nur ernsthafte Versuche eines Konzerts der Großmächte. Denn Konferenzen wie die von London 1804 oder die von Konstantinopel 1876 hinterließen so wenig den Eindruck einheitlicher Grundanschauung unter den Mächten, daß alle Frieden dräuenden Konferenzen vor einem Kriege in Mi߬ kredit gerieten. Daß sie auch während eines Kriegs von geringem Wert sind, zeigten die endlosen und nntzarmen Sitzungen der Diplomaten in Kon¬ stantinopel zur Zeit der griechisch-türkisch-kretischen Wirren von 1895 bis 1896. Wären die Konferenzen so geeignete Löschanstälten, als man sie noch vor siebzig Jahren gelten ließ, so Hütten fünf Kriegsschiffe im Pirüus viel Blutvergießen erspart, und man Hütte in Kreta nicht ebenso halbe Arbeit gemacht, wie sech¬ zehn Jahre früher in Bulgarien, dem man Ostrumelicn nicht geben wollte, was sieben Jahre spüter zu neuen Unruhen und zum eigenmächtigen Anschluß der beideu bulgarischen Gebiete aneinander führte. Und in Berlin im Jahre 1878 bemerkte man, daß auch Friedenskonferenzen nach einem Kriege von recht zweifelhaftem Wert für die vermittelnden Staaten sein können. Vollends zu Grabe getragen hat man dann den ehemaligen europäischen Areopag im Haag 1899, als große und kleine Mächte sich darüber einigten, daß sie sich über Krieg und Frieden von keinem Areopag der Welt was wollten vor¬ schreiben lassen. Die Abrüstungsidee entsprang in Rußland sehr wahrscheinlich aus den finanziellen Nöten, in denen dieses Reich steckt, und schon das wäre genügend gewesen, England zu dem Schlüsse zu bringen, daß die Abrüstung schädlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/515>, abgerufen am 03.07.2024.