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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Ballen, Finnländer, Buren

Rechte und Pflichte" erzogen worden sind, fehlt jede Empfindung der furcht¬
baren Verstümmlung, die man lange vor dem Eintritt der politischen Mann¬
barkeit an ihnen vollzogen hat. Da die Versuche der liberalen baltische"
Treppenweisheit, die Risse in den Grundmauern ihrer Gesellschaftsordnung
nachträglich durch einen Oberbau zu überwölben, gescheitert sind, angesichts
der schon durch die Nussifizierungsversuche Nikolaus des Ersten geschaffnen Lage
scheitern mußten, so ist dort alles zersplittert, gesondert, zerteilt geblieben.

Wirtschaftlich sind nufraglich die Finnländer die stärksten, denn bei ihnen
sind alle Gebiete menschlicher Arbeit und Erzeugung auf das reichste angebaut
und entwickelt. Auch hier greifen die Volksunterschiede uicht hemmend und
aufreibend ineinander über, denn es giebt -- wenigstens im Bereiche der
Landeshauptstadt Helsingfors, des Scheitel- und Schneidepunkts aller auf¬
strebenden, aller vorwärtsdrängenden Kräfte -- sowohl schwedische Bauern
und Arbeiter wie finnische Kapitalisten und Gelehrte. Die Ballen dagegen
sind nach jeder, also auch nach dieser Richtung hin ein Herrenvolk, Offiziere
ohne Soldaten, und hierin sogar gegen die Buren im Nachteil, die umgekehrt
ans dem einförmigen Volksgewimmcl allmählich ihre geistigen und gewerblichen
Führer herauszuheben beginnen. Auch das hohe Bildungsstreben der Ballen
wird ihnen unter deu heutigen Verhältnissen zum Fluch, da es sogar altein-
sessene kaufmännische und gewerbliche Kreise vielfach zu idealen Beschäftigungen
zieht und den gelehrten jede Fähigkeit raubt, die entrinnenden Lebensgüter mit
hart zupackender Faust wieder einzubringen. I" den guten alten Zeiten, wo
fast jedem Studierten reichliche Einnahmen zuflössen, ist wenig für den schwarzen
Tag zurückgelegt worden, mau verlebte, was mau erwarb -- bisweilen mehr
als das --', und verstrickte sich in unlösbare Schulden. Berücksichtigt man nun
noch, daß das diesen aristokratischen Stamm beherrschende Gemeingefühl jedem
einzelnen außerordentliche Opfer für verarmende Verwandte und Freunde, viel¬
leicht noch größere für die Aufrechterhaltung der wenigen noch übrigen Trümmer
deutschen Kultur- und Geisteslebens zumutet, so wird man sich nicht wundern,
daß er in der großen Jagd nach dem Glück zurückzubleiben beginnt. Statt
sich dnrch rechtzeitigen, möglichst zahlreichen Übergang zu der aufblühenden In¬
dustrie wenigstens wirtschaftliche Unabhängigkeit zu sichern, versäumte mau den
Anschluß, ließ untre vvrübereilen und sah sich schließlich genötigt, zur Fristung
des nackten Daseins doch wieder die eine Zeit lang so versenken Staats¬
stellungen anzustreben, die deu gebornen Deutschen heute meist weit in das
Innere des Reichs verschlagen, seiner Heimat auf immer entführen. So traf
denn die Zeit der politischen Not auch ein wirtschaftlich niedergehendes Ge¬
schlecht. Wenn der Deutschbalte auch dem Russen an Erwerbssinn uoch immer
turmhoch überlegen bleibt, von ihm uicht verdrängt werden kann, so sind ihm
doch im Juden, im Emporkömmling ans dem anderssprachigen Landvolk, im
eingewanderten Ausländer überaus rührige Mitbewerber erwachse". Gleich¬
wohl erhält sich aber wenigstens der Grundstock des baltischen Deutschtums in
altem, gefestigten Besitz.


Ballen, Finnländer, Buren

Rechte und Pflichte» erzogen worden sind, fehlt jede Empfindung der furcht¬
baren Verstümmlung, die man lange vor dem Eintritt der politischen Mann¬
barkeit an ihnen vollzogen hat. Da die Versuche der liberalen baltische«
Treppenweisheit, die Risse in den Grundmauern ihrer Gesellschaftsordnung
nachträglich durch einen Oberbau zu überwölben, gescheitert sind, angesichts
der schon durch die Nussifizierungsversuche Nikolaus des Ersten geschaffnen Lage
scheitern mußten, so ist dort alles zersplittert, gesondert, zerteilt geblieben.

Wirtschaftlich sind nufraglich die Finnländer die stärksten, denn bei ihnen
sind alle Gebiete menschlicher Arbeit und Erzeugung auf das reichste angebaut
und entwickelt. Auch hier greifen die Volksunterschiede uicht hemmend und
aufreibend ineinander über, denn es giebt — wenigstens im Bereiche der
Landeshauptstadt Helsingfors, des Scheitel- und Schneidepunkts aller auf¬
strebenden, aller vorwärtsdrängenden Kräfte — sowohl schwedische Bauern
und Arbeiter wie finnische Kapitalisten und Gelehrte. Die Ballen dagegen
sind nach jeder, also auch nach dieser Richtung hin ein Herrenvolk, Offiziere
ohne Soldaten, und hierin sogar gegen die Buren im Nachteil, die umgekehrt
ans dem einförmigen Volksgewimmcl allmählich ihre geistigen und gewerblichen
Führer herauszuheben beginnen. Auch das hohe Bildungsstreben der Ballen
wird ihnen unter deu heutigen Verhältnissen zum Fluch, da es sogar altein-
sessene kaufmännische und gewerbliche Kreise vielfach zu idealen Beschäftigungen
zieht und den gelehrten jede Fähigkeit raubt, die entrinnenden Lebensgüter mit
hart zupackender Faust wieder einzubringen. I» den guten alten Zeiten, wo
fast jedem Studierten reichliche Einnahmen zuflössen, ist wenig für den schwarzen
Tag zurückgelegt worden, mau verlebte, was mau erwarb — bisweilen mehr
als das —', und verstrickte sich in unlösbare Schulden. Berücksichtigt man nun
noch, daß das diesen aristokratischen Stamm beherrschende Gemeingefühl jedem
einzelnen außerordentliche Opfer für verarmende Verwandte und Freunde, viel¬
leicht noch größere für die Aufrechterhaltung der wenigen noch übrigen Trümmer
deutschen Kultur- und Geisteslebens zumutet, so wird man sich nicht wundern,
daß er in der großen Jagd nach dem Glück zurückzubleiben beginnt. Statt
sich dnrch rechtzeitigen, möglichst zahlreichen Übergang zu der aufblühenden In¬
dustrie wenigstens wirtschaftliche Unabhängigkeit zu sichern, versäumte mau den
Anschluß, ließ untre vvrübereilen und sah sich schließlich genötigt, zur Fristung
des nackten Daseins doch wieder die eine Zeit lang so versenken Staats¬
stellungen anzustreben, die deu gebornen Deutschen heute meist weit in das
Innere des Reichs verschlagen, seiner Heimat auf immer entführen. So traf
denn die Zeit der politischen Not auch ein wirtschaftlich niedergehendes Ge¬
schlecht. Wenn der Deutschbalte auch dem Russen an Erwerbssinn uoch immer
turmhoch überlegen bleibt, von ihm uicht verdrängt werden kann, so sind ihm
doch im Juden, im Emporkömmling ans dem anderssprachigen Landvolk, im
eingewanderten Ausländer überaus rührige Mitbewerber erwachse». Gleich¬
wohl erhält sich aber wenigstens der Grundstock des baltischen Deutschtums in
altem, gefestigten Besitz.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/471>, abgerufen am 22.07.2024.