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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Ibsens romantische Stücke

lingsvvlkes jener Zeit, dessen Durchschnitt in jeder Beziehung noch einige
Stufen tiefer stand als Ibsens Lyk'ke, Der tragische Ausgang wird, zwar
nicht ohne Schuld der Personen, der Hauptsache nach doch durch verhängnis¬
volle Mißverständnisse herbeigeführt. Höchstens wäre zu rügen, daß Stensson,
der gar nichts verschuldet hat, in dem Augenblicke sterben muß, wo ihm der
Tod am furchtbarsten ist, und er sich nicht einmal der nahen Mutter zu er¬
kennen geben kann, wodurch die poetische Gerechtigkeit verletzt wird, die ja er¬
gänzen soll, was in der Wirklichkeit fehlt.

Viel bedeutender ist der im Jahre 1864 herausgegebne Kronprätendent,
ein wirkliches historisches Drama, das sich Shakespeares Königsdramen an die
Seite stellen dürfte, wenn -- Norwegen England wäre. Wie weit sich Ibsen
an die Geschichte gehalten hat, kommt hier nicht in Betracht; es genügt, zu
bemerken, daß die Hauptereignisse des Dramas und der Charakter des Königs
treu geschichtlich siud, daß jedoch Züge aus frühern Abschnitten der norwegischen
Geschichte mit aufgenommen, weit auseinander liegende Ereignisse einander
nahe gerückt siud, und daß der Bösewicht des Stücks, der Bischof Nikolas,
ein Geschöpf der Phantasie Ibsens ist. Hakon V. -- das ist kurz der Inhalt
des Stücks -- hat die Rechtmäßigkeit seiner Geburt dadurch bewiesen, daß sich
seine Mutter Inga der Probe des glühenden Eisens unterwirft. (In Wirklich¬
keit hat sie sich mir angeboten, das Volk aber hat ihr ohne die Probe ge¬
glaubt; der Streit um die eheliche Geburt der Prätendenten und die Ent¬
scheidung durch ein Gottesgericht kommt in der wilden und wirren Geschichte
des Landes häufig vor.) Hakon wird auf dem Reichstage zu Bergen ein¬
stimmig zum Könige gewählt. (Es ist das im Jahre 1223 geschehen.) Er
entläßt seine Geliebte und schickt seine Mutter ins Kloster, weil ein König,
der seine hohe Aufgabe erfüllen wolle, nichts in seiner Nähe dulden dürfe,
was seinem Herzen teurer werden könnte als das Staatswohl, und heiratet
Margrete, die Tochter des nächstberechtigten Kronprätendenten, des Jarl Stute,
der während seiner Minderjährigkeit als Vormund und Reichsverweser gewaltet
hat. Diesem Stute tritt er den dritten Teil des Reichs mit der Residenz
Drontheim ab und verleiht ihm den Herzogtitel. Nachdem Hakon in seinem
Anteil mit Kraft und Umsicht Ruhe und Ordnung hergestellt hat, fordert Stute
die Hälfte des Reichs, und da das Hakon verweigert, greift er zu den Waffen
und will Alleinherrscher werden. Er siegt einmal, wird aber dann von den
Birkebeinern geschlagen und von den Bürgern von Nidaros (Drontheim) er¬
mordet. (Der Parteiname "Birkebeiner" war entstanden, als die Anhänger
des Prätendenten Egstein Meylas um 1170 nackt und bloß, die Beine mit
Birkenrinde umwickelt, von Beeren und Birkensaft lebend, in den Wäldern
hausten.)

Das Große in diesem Stück sind die Charaktere der drei Hauptpersonen.
Hakon ist ein gottbegnadigter Mann voll Kraft und Milde, von klarer Ein¬
sicht in die Lage des Landes und in das, was sie fordert, erfüllt, und was
die Hauptsache ist: von dein unerschütterlichen Glauben beseelt, daß ihn Gott


Ibsens romantische Stücke

lingsvvlkes jener Zeit, dessen Durchschnitt in jeder Beziehung noch einige
Stufen tiefer stand als Ibsens Lyk'ke, Der tragische Ausgang wird, zwar
nicht ohne Schuld der Personen, der Hauptsache nach doch durch verhängnis¬
volle Mißverständnisse herbeigeführt. Höchstens wäre zu rügen, daß Stensson,
der gar nichts verschuldet hat, in dem Augenblicke sterben muß, wo ihm der
Tod am furchtbarsten ist, und er sich nicht einmal der nahen Mutter zu er¬
kennen geben kann, wodurch die poetische Gerechtigkeit verletzt wird, die ja er¬
gänzen soll, was in der Wirklichkeit fehlt.

Viel bedeutender ist der im Jahre 1864 herausgegebne Kronprätendent,
ein wirkliches historisches Drama, das sich Shakespeares Königsdramen an die
Seite stellen dürfte, wenn — Norwegen England wäre. Wie weit sich Ibsen
an die Geschichte gehalten hat, kommt hier nicht in Betracht; es genügt, zu
bemerken, daß die Hauptereignisse des Dramas und der Charakter des Königs
treu geschichtlich siud, daß jedoch Züge aus frühern Abschnitten der norwegischen
Geschichte mit aufgenommen, weit auseinander liegende Ereignisse einander
nahe gerückt siud, und daß der Bösewicht des Stücks, der Bischof Nikolas,
ein Geschöpf der Phantasie Ibsens ist. Hakon V. — das ist kurz der Inhalt
des Stücks — hat die Rechtmäßigkeit seiner Geburt dadurch bewiesen, daß sich
seine Mutter Inga der Probe des glühenden Eisens unterwirft. (In Wirklich¬
keit hat sie sich mir angeboten, das Volk aber hat ihr ohne die Probe ge¬
glaubt; der Streit um die eheliche Geburt der Prätendenten und die Ent¬
scheidung durch ein Gottesgericht kommt in der wilden und wirren Geschichte
des Landes häufig vor.) Hakon wird auf dem Reichstage zu Bergen ein¬
stimmig zum Könige gewählt. (Es ist das im Jahre 1223 geschehen.) Er
entläßt seine Geliebte und schickt seine Mutter ins Kloster, weil ein König,
der seine hohe Aufgabe erfüllen wolle, nichts in seiner Nähe dulden dürfe,
was seinem Herzen teurer werden könnte als das Staatswohl, und heiratet
Margrete, die Tochter des nächstberechtigten Kronprätendenten, des Jarl Stute,
der während seiner Minderjährigkeit als Vormund und Reichsverweser gewaltet
hat. Diesem Stute tritt er den dritten Teil des Reichs mit der Residenz
Drontheim ab und verleiht ihm den Herzogtitel. Nachdem Hakon in seinem
Anteil mit Kraft und Umsicht Ruhe und Ordnung hergestellt hat, fordert Stute
die Hälfte des Reichs, und da das Hakon verweigert, greift er zu den Waffen
und will Alleinherrscher werden. Er siegt einmal, wird aber dann von den
Birkebeinern geschlagen und von den Bürgern von Nidaros (Drontheim) er¬
mordet. (Der Parteiname „Birkebeiner" war entstanden, als die Anhänger
des Prätendenten Egstein Meylas um 1170 nackt und bloß, die Beine mit
Birkenrinde umwickelt, von Beeren und Birkensaft lebend, in den Wäldern
hausten.)

Das Große in diesem Stück sind die Charaktere der drei Hauptpersonen.
Hakon ist ein gottbegnadigter Mann voll Kraft und Milde, von klarer Ein¬
sicht in die Lage des Landes und in das, was sie fordert, erfüllt, und was
die Hauptsache ist: von dein unerschütterlichen Glauben beseelt, daß ihn Gott


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/440>, abgerufen am 03.07.2024.