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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Auf Sizilien

Orangenhain. Auf der linken Seite zieht sich in der Gestalt eines L das
echoberühmte "Ohr des Dionysios" hinter dem anstoßenden Theater in die
Felswand hinein, und obwohl der Name erst aus dem siebzehnten Jahr¬
hundert stammt, so ist es doch nicht unwahrscheinlich, daß es mit einem Palaste
des Tyrannen über dem Theater in Verbindung stand und als Gefängnis
diente. Jedenfalls ist das Echo erstaunlich. Als unser kleiner Führer mit
seiner Knabenstimme deutlich, aber in gewöhnlicher Stärke unten auf dem
Boden die Worte sagte: ^.actio Oionisio! so klang jede Silbe mit mächtigem
Schalle an der Wölbung wieder, und ein Pistolenschuß hallt wie rollender
Donner.

Die Sonne war schon untergegangen, aber bei dem klaren Himmel war
es noch völlig hell, als wir das griechische Theater betraten, eines der best-
erhaltnen, die es giebt, obwohl das Bühnengebäude fast völlig verschwunden
ist. Von den 60 bis 62 Sitzreihen, die es gehabt haben mag, sind noch 46
vorhanden, denn sie sind in den harten Kalkstein des Bergabhangs gearbeitet,
nur die untersten waren mit Marmor bekleidet; noch sieht man auch die Namen
der fürstlichen Persönlichkeiten, nach denen die einzelnen der neun "Keile" (Ab¬
teilungen des Zuschauerraums) benannt wurden. Vor diesen Sitzreihen oder
wenigstens an dieser Stelle sind 472 v. Chr. die Perser von Äschylos über die
Bühne gegangen, denn das Theater mag schon im fünften Jahrhundert vor¬
handen gewesen sein, obgleich es seine Vollendung erst unter Hieron II. erhalten
hat. Jetzt wuchert Gras und Gestrüpp auf dem Boden der Orchestra, und auf
der Stelle des ehemaligen Bühnengebäudes, droben über dem obersten Umgange
liegt ein weißes Bauernhaus, unten eine Mühle. Von oben klang das Rauschen
der uralten Wasserleitung des Anapos, die an der Ostseite des Theaters
vorüberführt und in einem Aquädukt aus der Zeit Karls V. auf hohen Bogen
die Straße überschreitet, um nach der Achradina weiter zu ziehn. Sonst war
es ganz still. Im Westen stand das purpurne Abendrot, im Osten stieg die
goldne Mondsichel empor, und aus der Jnselstadt jenseits der bnnmbesetzten
Niederung blitzten aus dem dunkeln Hintergrunde des weiten Meeres die elek¬
trischen Lichter aus. Schweigend, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, wan¬
derten wir im Mondlicht zwischen Gartenmauern und über öde Weideflächen
zu der stillen Villa Politi zurück. An den Felsen der Küste tief unten rollte die
weiße Brandung, und halb im hellen silbernen Lichte, halb im tiefen Schatten
lagen der Garten und die Latomia der Kapuziner.

Zur Kenntnis von Syrakus gehört auch eine Fahrt über den Großen
Hafen und den Anapos hinauf. Die Syrakuscmer betonen, den lateinischen
und italienischen Accentgesetzen zuwider, nach griechischer Weise den Namen
Arayo auf der ersten Silbe, und altgriechische Tradition mag auch noch un¬
bewußt in dem hohen Vordersteven und der bunten Bemalung der schlanken
Boote fortleben, besonders in dem niemals fehlenden Auge zu beiden Seiten
des Buges, das offenbar den immer als Augen gestalteten Ankerklüsen der alt¬
griechischen Kriegsschiffe nachgebildet ist, obwohl es an den heutigen Booten


Auf Sizilien

Orangenhain. Auf der linken Seite zieht sich in der Gestalt eines L das
echoberühmte „Ohr des Dionysios" hinter dem anstoßenden Theater in die
Felswand hinein, und obwohl der Name erst aus dem siebzehnten Jahr¬
hundert stammt, so ist es doch nicht unwahrscheinlich, daß es mit einem Palaste
des Tyrannen über dem Theater in Verbindung stand und als Gefängnis
diente. Jedenfalls ist das Echo erstaunlich. Als unser kleiner Führer mit
seiner Knabenstimme deutlich, aber in gewöhnlicher Stärke unten auf dem
Boden die Worte sagte: ^.actio Oionisio! so klang jede Silbe mit mächtigem
Schalle an der Wölbung wieder, und ein Pistolenschuß hallt wie rollender
Donner.

Die Sonne war schon untergegangen, aber bei dem klaren Himmel war
es noch völlig hell, als wir das griechische Theater betraten, eines der best-
erhaltnen, die es giebt, obwohl das Bühnengebäude fast völlig verschwunden
ist. Von den 60 bis 62 Sitzreihen, die es gehabt haben mag, sind noch 46
vorhanden, denn sie sind in den harten Kalkstein des Bergabhangs gearbeitet,
nur die untersten waren mit Marmor bekleidet; noch sieht man auch die Namen
der fürstlichen Persönlichkeiten, nach denen die einzelnen der neun „Keile" (Ab¬
teilungen des Zuschauerraums) benannt wurden. Vor diesen Sitzreihen oder
wenigstens an dieser Stelle sind 472 v. Chr. die Perser von Äschylos über die
Bühne gegangen, denn das Theater mag schon im fünften Jahrhundert vor¬
handen gewesen sein, obgleich es seine Vollendung erst unter Hieron II. erhalten
hat. Jetzt wuchert Gras und Gestrüpp auf dem Boden der Orchestra, und auf
der Stelle des ehemaligen Bühnengebäudes, droben über dem obersten Umgange
liegt ein weißes Bauernhaus, unten eine Mühle. Von oben klang das Rauschen
der uralten Wasserleitung des Anapos, die an der Ostseite des Theaters
vorüberführt und in einem Aquädukt aus der Zeit Karls V. auf hohen Bogen
die Straße überschreitet, um nach der Achradina weiter zu ziehn. Sonst war
es ganz still. Im Westen stand das purpurne Abendrot, im Osten stieg die
goldne Mondsichel empor, und aus der Jnselstadt jenseits der bnnmbesetzten
Niederung blitzten aus dem dunkeln Hintergrunde des weiten Meeres die elek¬
trischen Lichter aus. Schweigend, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, wan¬
derten wir im Mondlicht zwischen Gartenmauern und über öde Weideflächen
zu der stillen Villa Politi zurück. An den Felsen der Küste tief unten rollte die
weiße Brandung, und halb im hellen silbernen Lichte, halb im tiefen Schatten
lagen der Garten und die Latomia der Kapuziner.

Zur Kenntnis von Syrakus gehört auch eine Fahrt über den Großen
Hafen und den Anapos hinauf. Die Syrakuscmer betonen, den lateinischen
und italienischen Accentgesetzen zuwider, nach griechischer Weise den Namen
Arayo auf der ersten Silbe, und altgriechische Tradition mag auch noch un¬
bewußt in dem hohen Vordersteven und der bunten Bemalung der schlanken
Boote fortleben, besonders in dem niemals fehlenden Auge zu beiden Seiten
des Buges, das offenbar den immer als Augen gestalteten Ankerklüsen der alt¬
griechischen Kriegsschiffe nachgebildet ist, obwohl es an den heutigen Booten


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[0404] Auf Sizilien Orangenhain. Auf der linken Seite zieht sich in der Gestalt eines L das echoberühmte „Ohr des Dionysios" hinter dem anstoßenden Theater in die Felswand hinein, und obwohl der Name erst aus dem siebzehnten Jahr¬ hundert stammt, so ist es doch nicht unwahrscheinlich, daß es mit einem Palaste des Tyrannen über dem Theater in Verbindung stand und als Gefängnis diente. Jedenfalls ist das Echo erstaunlich. Als unser kleiner Führer mit seiner Knabenstimme deutlich, aber in gewöhnlicher Stärke unten auf dem Boden die Worte sagte: ^.actio Oionisio! so klang jede Silbe mit mächtigem Schalle an der Wölbung wieder, und ein Pistolenschuß hallt wie rollender Donner. Die Sonne war schon untergegangen, aber bei dem klaren Himmel war es noch völlig hell, als wir das griechische Theater betraten, eines der best- erhaltnen, die es giebt, obwohl das Bühnengebäude fast völlig verschwunden ist. Von den 60 bis 62 Sitzreihen, die es gehabt haben mag, sind noch 46 vorhanden, denn sie sind in den harten Kalkstein des Bergabhangs gearbeitet, nur die untersten waren mit Marmor bekleidet; noch sieht man auch die Namen der fürstlichen Persönlichkeiten, nach denen die einzelnen der neun „Keile" (Ab¬ teilungen des Zuschauerraums) benannt wurden. Vor diesen Sitzreihen oder wenigstens an dieser Stelle sind 472 v. Chr. die Perser von Äschylos über die Bühne gegangen, denn das Theater mag schon im fünften Jahrhundert vor¬ handen gewesen sein, obgleich es seine Vollendung erst unter Hieron II. erhalten hat. Jetzt wuchert Gras und Gestrüpp auf dem Boden der Orchestra, und auf der Stelle des ehemaligen Bühnengebäudes, droben über dem obersten Umgange liegt ein weißes Bauernhaus, unten eine Mühle. Von oben klang das Rauschen der uralten Wasserleitung des Anapos, die an der Ostseite des Theaters vorüberführt und in einem Aquädukt aus der Zeit Karls V. auf hohen Bogen die Straße überschreitet, um nach der Achradina weiter zu ziehn. Sonst war es ganz still. Im Westen stand das purpurne Abendrot, im Osten stieg die goldne Mondsichel empor, und aus der Jnselstadt jenseits der bnnmbesetzten Niederung blitzten aus dem dunkeln Hintergrunde des weiten Meeres die elek¬ trischen Lichter aus. Schweigend, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, wan¬ derten wir im Mondlicht zwischen Gartenmauern und über öde Weideflächen zu der stillen Villa Politi zurück. An den Felsen der Küste tief unten rollte die weiße Brandung, und halb im hellen silbernen Lichte, halb im tiefen Schatten lagen der Garten und die Latomia der Kapuziner. Zur Kenntnis von Syrakus gehört auch eine Fahrt über den Großen Hafen und den Anapos hinauf. Die Syrakuscmer betonen, den lateinischen und italienischen Accentgesetzen zuwider, nach griechischer Weise den Namen Arayo auf der ersten Silbe, und altgriechische Tradition mag auch noch un¬ bewußt in dem hohen Vordersteven und der bunten Bemalung der schlanken Boote fortleben, besonders in dem niemals fehlenden Auge zu beiden Seiten des Buges, das offenbar den immer als Augen gestalteten Ankerklüsen der alt¬ griechischen Kriegsschiffe nachgebildet ist, obwohl es an den heutigen Booten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/404>, abgerufen am 03.07.2024.