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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Lese", Schreiben und Sprechen

Mit dem Grundsatz l'^re pour 1'g.re hängt ein zvieites Zeitgebilde eng zu¬
sammen: die Kunst soll das ganze Leben durchdringen, geivissermaßen stilisieren,
was zunächst für die schaffenden Künstler und ihre Stellung sehr wertvoll sein
würde. Auch manche Kunstschriftsteller predigen ja so, als hätten wir leine
nähern Bedürfnisse, und rechnen alles Kunstinteresse ihrer Zeitgenosse" noch
für gar nichts. So lange aber Brot und Fleisch für Geld gekauft werden
müssen, meint mit Recht der Verfasser, wird es außer den vielfachen Millio-
nüren niemand möglich sein, das Leben anders als in einzelnen hohen Augen-
blicken zur Kunst umzubilden. Eine solche Kunstwirtschaft würde aber auch zum
völligen Bankrott führen; fortschreitende Verfeinerung und Genußsucht würden
bald alle Kräfte geschwächt haben, die zur Verteidigung jeder menschlichen
.Kultur nötig sind.

Die echte Dichtung ist das Dauerhafteste, beständiger als die vornehmsten
Wissenschaften, die sich immer verändern. Diese Dichtung kauu, wie Schvu-
bach anderwärts im Anschluß an eine Definition Jakob Grimms ("das Leben
selbst, gefaßt in Reinheit und gehalten im Zauber der Sprache") bemerkt, nie
etwas andres darstellen als "ein Ideal des Lebens, eine höhere Stufe, von
der ans gesehen die Dinge der Welt in einer großen Ordnung zusammen¬
hängen." Nu" meint er an einer dritten Stelle, die Menschen seien hente
durch die Leserei der unbedeutendsten Belletristik so träge geworden, daß sie
den Vers als unangenehmes Hindernis empfänden; darum müßten Lyrik und
Epos verkümmern, und alles schlüge in den Roman um. Hiergegen ist zu
erinnern, daß doch zunächst die Dichter mit Versen, die nicht als Hindernis
empfunden werden, den Anfang machen müßten. Scheffel hat seiner Zeit jeder
gern gelesen, und das war noch nicht die höchste Gattung der Poesie. Rvsegger
dagegen wäre gewiß nicht der glückliche Verfasser von einundvierzig Bänden
und der fruchtbarste Schriftsteller der Gegenwart <S. 190) geworden, wenn er,
anstatt Erzählungen zu schreiben, bei den Poesien, von denen er ausging, ge¬
blieben wäre. Ich habe schon oft ausgesprochen, daß es doch nicht zu ver¬
wundern sein würde, wenn eine Zeit, die so Ungeheures ans ganz andern Ge¬
bieten leistet, plötzlich einmal keine Dichter mehr hervorbringen wollte. Das
ist dann aber noch lange kein zureichender Grund für den Verfall der schönen
Litteratur überhaupt. Gute Prosa wird keinem im Traume beschert, sie fordert
viel Arbeit, und daran fehlt es in den meisten Fällen, wo das Talent lange
ausreicht.

Wie viel man lesen soll, was und wie, z. B. nicht ohne Merkbuch, wie
auch Hills rät, und noch vieles andre findet man verständig erörtert. Als
Haupteindruck wird auf den Leser die Sicherheit und die Tiefe des Wissens
wirken. Eine solche Belesenheit ist staunenswert. Der Versasser hat zugleich
seine frühern kleinern Schriften erscheinen lassen (Gesammelte Aufsätze zur
neuern Litteratur); etwa die Hälfte davou handelt über amerikanische Prosa
litteratur, in deren Kenntnis es nicht viele Deutsche mit ihm werden ans
nehmen können. Seine Schätzung von Emerson und Hawthorne geht mir


Lese», Schreiben und Sprechen

Mit dem Grundsatz l'^re pour 1'g.re hängt ein zvieites Zeitgebilde eng zu¬
sammen: die Kunst soll das ganze Leben durchdringen, geivissermaßen stilisieren,
was zunächst für die schaffenden Künstler und ihre Stellung sehr wertvoll sein
würde. Auch manche Kunstschriftsteller predigen ja so, als hätten wir leine
nähern Bedürfnisse, und rechnen alles Kunstinteresse ihrer Zeitgenosse» noch
für gar nichts. So lange aber Brot und Fleisch für Geld gekauft werden
müssen, meint mit Recht der Verfasser, wird es außer den vielfachen Millio-
nüren niemand möglich sein, das Leben anders als in einzelnen hohen Augen-
blicken zur Kunst umzubilden. Eine solche Kunstwirtschaft würde aber auch zum
völligen Bankrott führen; fortschreitende Verfeinerung und Genußsucht würden
bald alle Kräfte geschwächt haben, die zur Verteidigung jeder menschlichen
.Kultur nötig sind.

Die echte Dichtung ist das Dauerhafteste, beständiger als die vornehmsten
Wissenschaften, die sich immer verändern. Diese Dichtung kauu, wie Schvu-
bach anderwärts im Anschluß an eine Definition Jakob Grimms („das Leben
selbst, gefaßt in Reinheit und gehalten im Zauber der Sprache") bemerkt, nie
etwas andres darstellen als „ein Ideal des Lebens, eine höhere Stufe, von
der ans gesehen die Dinge der Welt in einer großen Ordnung zusammen¬
hängen." Nu» meint er an einer dritten Stelle, die Menschen seien hente
durch die Leserei der unbedeutendsten Belletristik so träge geworden, daß sie
den Vers als unangenehmes Hindernis empfänden; darum müßten Lyrik und
Epos verkümmern, und alles schlüge in den Roman um. Hiergegen ist zu
erinnern, daß doch zunächst die Dichter mit Versen, die nicht als Hindernis
empfunden werden, den Anfang machen müßten. Scheffel hat seiner Zeit jeder
gern gelesen, und das war noch nicht die höchste Gattung der Poesie. Rvsegger
dagegen wäre gewiß nicht der glückliche Verfasser von einundvierzig Bänden
und der fruchtbarste Schriftsteller der Gegenwart <S. 190) geworden, wenn er,
anstatt Erzählungen zu schreiben, bei den Poesien, von denen er ausging, ge¬
blieben wäre. Ich habe schon oft ausgesprochen, daß es doch nicht zu ver¬
wundern sein würde, wenn eine Zeit, die so Ungeheures ans ganz andern Ge¬
bieten leistet, plötzlich einmal keine Dichter mehr hervorbringen wollte. Das
ist dann aber noch lange kein zureichender Grund für den Verfall der schönen
Litteratur überhaupt. Gute Prosa wird keinem im Traume beschert, sie fordert
viel Arbeit, und daran fehlt es in den meisten Fällen, wo das Talent lange
ausreicht.

Wie viel man lesen soll, was und wie, z. B. nicht ohne Merkbuch, wie
auch Hills rät, und noch vieles andre findet man verständig erörtert. Als
Haupteindruck wird auf den Leser die Sicherheit und die Tiefe des Wissens
wirken. Eine solche Belesenheit ist staunenswert. Der Versasser hat zugleich
seine frühern kleinern Schriften erscheinen lassen (Gesammelte Aufsätze zur
neuern Litteratur); etwa die Hälfte davou handelt über amerikanische Prosa
litteratur, in deren Kenntnis es nicht viele Deutsche mit ihm werden ans
nehmen können. Seine Schätzung von Emerson und Hawthorne geht mir


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[0394] Lese», Schreiben und Sprechen Mit dem Grundsatz l'^re pour 1'g.re hängt ein zvieites Zeitgebilde eng zu¬ sammen: die Kunst soll das ganze Leben durchdringen, geivissermaßen stilisieren, was zunächst für die schaffenden Künstler und ihre Stellung sehr wertvoll sein würde. Auch manche Kunstschriftsteller predigen ja so, als hätten wir leine nähern Bedürfnisse, und rechnen alles Kunstinteresse ihrer Zeitgenosse» noch für gar nichts. So lange aber Brot und Fleisch für Geld gekauft werden müssen, meint mit Recht der Verfasser, wird es außer den vielfachen Millio- nüren niemand möglich sein, das Leben anders als in einzelnen hohen Augen- blicken zur Kunst umzubilden. Eine solche Kunstwirtschaft würde aber auch zum völligen Bankrott führen; fortschreitende Verfeinerung und Genußsucht würden bald alle Kräfte geschwächt haben, die zur Verteidigung jeder menschlichen .Kultur nötig sind. Die echte Dichtung ist das Dauerhafteste, beständiger als die vornehmsten Wissenschaften, die sich immer verändern. Diese Dichtung kauu, wie Schvu- bach anderwärts im Anschluß an eine Definition Jakob Grimms („das Leben selbst, gefaßt in Reinheit und gehalten im Zauber der Sprache") bemerkt, nie etwas andres darstellen als „ein Ideal des Lebens, eine höhere Stufe, von der ans gesehen die Dinge der Welt in einer großen Ordnung zusammen¬ hängen." Nu» meint er an einer dritten Stelle, die Menschen seien hente durch die Leserei der unbedeutendsten Belletristik so träge geworden, daß sie den Vers als unangenehmes Hindernis empfänden; darum müßten Lyrik und Epos verkümmern, und alles schlüge in den Roman um. Hiergegen ist zu erinnern, daß doch zunächst die Dichter mit Versen, die nicht als Hindernis empfunden werden, den Anfang machen müßten. Scheffel hat seiner Zeit jeder gern gelesen, und das war noch nicht die höchste Gattung der Poesie. Rvsegger dagegen wäre gewiß nicht der glückliche Verfasser von einundvierzig Bänden und der fruchtbarste Schriftsteller der Gegenwart <S. 190) geworden, wenn er, anstatt Erzählungen zu schreiben, bei den Poesien, von denen er ausging, ge¬ blieben wäre. Ich habe schon oft ausgesprochen, daß es doch nicht zu ver¬ wundern sein würde, wenn eine Zeit, die so Ungeheures ans ganz andern Ge¬ bieten leistet, plötzlich einmal keine Dichter mehr hervorbringen wollte. Das ist dann aber noch lange kein zureichender Grund für den Verfall der schönen Litteratur überhaupt. Gute Prosa wird keinem im Traume beschert, sie fordert viel Arbeit, und daran fehlt es in den meisten Fällen, wo das Talent lange ausreicht. Wie viel man lesen soll, was und wie, z. B. nicht ohne Merkbuch, wie auch Hills rät, und noch vieles andre findet man verständig erörtert. Als Haupteindruck wird auf den Leser die Sicherheit und die Tiefe des Wissens wirken. Eine solche Belesenheit ist staunenswert. Der Versasser hat zugleich seine frühern kleinern Schriften erscheinen lassen (Gesammelte Aufsätze zur neuern Litteratur); etwa die Hälfte davou handelt über amerikanische Prosa litteratur, in deren Kenntnis es nicht viele Deutsche mit ihm werden ans nehmen können. Seine Schätzung von Emerson und Hawthorne geht mir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/394>, abgerufen am 03.07.2024.