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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Europa und England

das hat es denn auch seitdem nicht gethan, bis auf den einen Punkt, wo
seine Seemacht aufhört, nämlich Rußland, den asiatischen Nachbar und Neben¬
buhler,

Aber wenn sich England um Europa wenig mehr kümmert, so ist es für
Europa keineswegs gleichgiltig, welche Überraschungen das uuabhüugige Welt¬
reich ihm bereitet. Besonders da Europa uicht bloß materielle Interessen gegen
England zu verteidige" hat, sondern bisher noch an dem Anspruch festhält,
der Quell europäischer, nicht bloß englischer Kultur zu sein, keineswegs
aber, wie Herr Dilke meint, sich durch England von der Teilnahme an den
Welthändeln ausschließen zu lassen. Die kontinentalen Staaten können nicht
gleichgiltig der völligen Mißachtung ihrer materiellen wie immateriellen Inter¬
essen dnrch England zuschaun. Und England sorgt in der letzten Zeit sehr
eifrig dafür, diese Mißachtung dem kontinentalen Enropa immer wieder ins
Gedächtnis zu rufen.

"Es scheint, sagt Steffen in dem oben zitierten Werke (S. 411), als
ob die klarblickender englischen Staatsangehörigen im letzten halben Jahr¬
hundert die merkwürdige Entdeckung gemacht hätten, daß es im Wesen und in
den Handlungen des Staates etwas im tiefern Sinne Ideelles eigentlich nicht
gebe. Aus einer solchen Denkweise erklärt es sich ungezwungen, daß auf¬
geklärte und kulturell interessierte Engländer jetzt die zunehmende Neigung
zeigen, unbedacht die Leitung des Staates bürgerlichen und militärischen Be¬
amten und, soweit die Volksvertretung selbst wirklich die Initiative ergreift,
den Gesellschaftsklassen zu überantworten, die von wenig anderm als der Trieb¬
feder wirtschaftlichen Interesses beeinflußt werden, wenn sie die politische Macht
sich anmaßen und ausüben." -- "Staatsnihilismns" menues Steffen, Ohne
Zweifel die Kehrseite oder die Wirkung dieser einseitig wirtschaftlichen Richtung,
die alle Politik auf Gelderwerb, alle Berechnungen der Staatskunst ans den
einzigen Nenner der Gabel- und Messerfrage zurückführt, eine Richtung, der
England zwar schon seit Jahrhunderten folgt, aber die doch erst zur übermäch¬
tigen, fast allein gebietenden geworden ist, seit die Plutokratie von der obersten
in die mittlere Volksschicht vorgeschritten ist. Heute herrschen nicht mehr die
alten reichen Aristokraten des Adels, sondern die mindestens ebenso reichen
Industriellen, .Kaufleute und Börscnlente, wodurch die Politik nicht eigentlich
in demokratischere Hände, aber in solche geraten ist, die weder von Tradition
"och von ideellen Kulturbedürfnissen oder Kulturpflichten beeinflußt werden,
sondern mit kommerzieller Einseitigkeit Geld lind Gewinn suchen. Das haben
"ur jn ganz neuerlich wieder bemerken können.

Die großen kaufmännischen Kompagnien haben in der englischen Politik
von jeher eine bedeutende Stimme gehabt. Die Ostindische Kompagnie war
bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts so mächtig als irgend ein
Minister; in neuster Zeit haben die Niger-Kompagnie und dann die Süd¬
afrikanische Kompagnie dem Kabinett gegenüber ihren Willen so herrisch zur
Geltung gebracht, daß die Nigergesellschaft England fast in einen Krieg mit


Europa und England

das hat es denn auch seitdem nicht gethan, bis auf den einen Punkt, wo
seine Seemacht aufhört, nämlich Rußland, den asiatischen Nachbar und Neben¬
buhler,

Aber wenn sich England um Europa wenig mehr kümmert, so ist es für
Europa keineswegs gleichgiltig, welche Überraschungen das uuabhüugige Welt¬
reich ihm bereitet. Besonders da Europa uicht bloß materielle Interessen gegen
England zu verteidige» hat, sondern bisher noch an dem Anspruch festhält,
der Quell europäischer, nicht bloß englischer Kultur zu sein, keineswegs
aber, wie Herr Dilke meint, sich durch England von der Teilnahme an den
Welthändeln ausschließen zu lassen. Die kontinentalen Staaten können nicht
gleichgiltig der völligen Mißachtung ihrer materiellen wie immateriellen Inter¬
essen dnrch England zuschaun. Und England sorgt in der letzten Zeit sehr
eifrig dafür, diese Mißachtung dem kontinentalen Enropa immer wieder ins
Gedächtnis zu rufen.

„Es scheint, sagt Steffen in dem oben zitierten Werke (S. 411), als
ob die klarblickender englischen Staatsangehörigen im letzten halben Jahr¬
hundert die merkwürdige Entdeckung gemacht hätten, daß es im Wesen und in
den Handlungen des Staates etwas im tiefern Sinne Ideelles eigentlich nicht
gebe. Aus einer solchen Denkweise erklärt es sich ungezwungen, daß auf¬
geklärte und kulturell interessierte Engländer jetzt die zunehmende Neigung
zeigen, unbedacht die Leitung des Staates bürgerlichen und militärischen Be¬
amten und, soweit die Volksvertretung selbst wirklich die Initiative ergreift,
den Gesellschaftsklassen zu überantworten, die von wenig anderm als der Trieb¬
feder wirtschaftlichen Interesses beeinflußt werden, wenn sie die politische Macht
sich anmaßen und ausüben." — „Staatsnihilismns" menues Steffen, Ohne
Zweifel die Kehrseite oder die Wirkung dieser einseitig wirtschaftlichen Richtung,
die alle Politik auf Gelderwerb, alle Berechnungen der Staatskunst ans den
einzigen Nenner der Gabel- und Messerfrage zurückführt, eine Richtung, der
England zwar schon seit Jahrhunderten folgt, aber die doch erst zur übermäch¬
tigen, fast allein gebietenden geworden ist, seit die Plutokratie von der obersten
in die mittlere Volksschicht vorgeschritten ist. Heute herrschen nicht mehr die
alten reichen Aristokraten des Adels, sondern die mindestens ebenso reichen
Industriellen, .Kaufleute und Börscnlente, wodurch die Politik nicht eigentlich
in demokratischere Hände, aber in solche geraten ist, die weder von Tradition
»och von ideellen Kulturbedürfnissen oder Kulturpflichten beeinflußt werden,
sondern mit kommerzieller Einseitigkeit Geld lind Gewinn suchen. Das haben
"ur jn ganz neuerlich wieder bemerken können.

Die großen kaufmännischen Kompagnien haben in der englischen Politik
von jeher eine bedeutende Stimme gehabt. Die Ostindische Kompagnie war
bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts so mächtig als irgend ein
Minister; in neuster Zeit haben die Niger-Kompagnie und dann die Süd¬
afrikanische Kompagnie dem Kabinett gegenüber ihren Willen so herrisch zur
Geltung gebracht, daß die Nigergesellschaft England fast in einen Krieg mit


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[0379] Europa und England das hat es denn auch seitdem nicht gethan, bis auf den einen Punkt, wo seine Seemacht aufhört, nämlich Rußland, den asiatischen Nachbar und Neben¬ buhler, Aber wenn sich England um Europa wenig mehr kümmert, so ist es für Europa keineswegs gleichgiltig, welche Überraschungen das uuabhüugige Welt¬ reich ihm bereitet. Besonders da Europa uicht bloß materielle Interessen gegen England zu verteidige» hat, sondern bisher noch an dem Anspruch festhält, der Quell europäischer, nicht bloß englischer Kultur zu sein, keineswegs aber, wie Herr Dilke meint, sich durch England von der Teilnahme an den Welthändeln ausschließen zu lassen. Die kontinentalen Staaten können nicht gleichgiltig der völligen Mißachtung ihrer materiellen wie immateriellen Inter¬ essen dnrch England zuschaun. Und England sorgt in der letzten Zeit sehr eifrig dafür, diese Mißachtung dem kontinentalen Enropa immer wieder ins Gedächtnis zu rufen. „Es scheint, sagt Steffen in dem oben zitierten Werke (S. 411), als ob die klarblickender englischen Staatsangehörigen im letzten halben Jahr¬ hundert die merkwürdige Entdeckung gemacht hätten, daß es im Wesen und in den Handlungen des Staates etwas im tiefern Sinne Ideelles eigentlich nicht gebe. Aus einer solchen Denkweise erklärt es sich ungezwungen, daß auf¬ geklärte und kulturell interessierte Engländer jetzt die zunehmende Neigung zeigen, unbedacht die Leitung des Staates bürgerlichen und militärischen Be¬ amten und, soweit die Volksvertretung selbst wirklich die Initiative ergreift, den Gesellschaftsklassen zu überantworten, die von wenig anderm als der Trieb¬ feder wirtschaftlichen Interesses beeinflußt werden, wenn sie die politische Macht sich anmaßen und ausüben." — „Staatsnihilismns" menues Steffen, Ohne Zweifel die Kehrseite oder die Wirkung dieser einseitig wirtschaftlichen Richtung, die alle Politik auf Gelderwerb, alle Berechnungen der Staatskunst ans den einzigen Nenner der Gabel- und Messerfrage zurückführt, eine Richtung, der England zwar schon seit Jahrhunderten folgt, aber die doch erst zur übermäch¬ tigen, fast allein gebietenden geworden ist, seit die Plutokratie von der obersten in die mittlere Volksschicht vorgeschritten ist. Heute herrschen nicht mehr die alten reichen Aristokraten des Adels, sondern die mindestens ebenso reichen Industriellen, .Kaufleute und Börscnlente, wodurch die Politik nicht eigentlich in demokratischere Hände, aber in solche geraten ist, die weder von Tradition »och von ideellen Kulturbedürfnissen oder Kulturpflichten beeinflußt werden, sondern mit kommerzieller Einseitigkeit Geld lind Gewinn suchen. Das haben "ur jn ganz neuerlich wieder bemerken können. Die großen kaufmännischen Kompagnien haben in der englischen Politik von jeher eine bedeutende Stimme gehabt. Die Ostindische Kompagnie war bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts so mächtig als irgend ein Minister; in neuster Zeit haben die Niger-Kompagnie und dann die Süd¬ afrikanische Kompagnie dem Kabinett gegenüber ihren Willen so herrisch zur Geltung gebracht, daß die Nigergesellschaft England fast in einen Krieg mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/379>, abgerufen am 01.10.2024.