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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Luropa und England

Mittelamerika nicht in der Hand europäischer Mächte blieben, indem es ihnen
zu der Anerkennung ihrer Unabhängigkeit verhalf.

Nun ging England in aller Ruhe an den Ausbau seines Kolonialreiches
und die Sicherung der gewonnenen Seeherrschaft, vorerst auf dem Mittelmeer,
Den Eingang hatte es seit 1713 in der Hand, seit 1800 auch Malta, Der
Wiener Frieden ließ die Dardanellen frei, obgleich noch 1807 eine englische
Flotte im Marmarameer erschienen war; denn damals war nicht Nußland,
sondern England für Konstantinopel gefährlich. Als Nußland eine Flotte im
Schwarzen Meer geschaffen hatte, kehrte sich das Interesse um, und 1841 schloß
der Meerengenvertrag den Ausgang zum Mittelmeer für alle, besonders aber
für Rußland, Die türkisch-ägyptische Seemacht wurde 1827 bei Navarin ver¬
nichtet von England im Bunde mit Frankreich und Rußland, was Wellington
im englischen Interesse freilich für ein "beklagenswertes Ereignis" erklärte.
Der Krimkrieg gab England Gelegenheit, die russische Flotte des Schwarzen
Meeres zu vernichten, und der Pariser Frieden von 1850 verbot sie wieder
herzustellen, ein Verbot, von dem sich Nußland erst 1871 wieder befreite. Unter
den gegenwärtigen Verhältnissen ist es Rußland wahrscheinlich nur recht, wenn
die Meerengen geschlossen bleiben. Es wird den Meerengenvertrag und die
Bestimmungen des Pariser Friedens erst zerreißen, wenn es selbst am Bosporus
festsitzt und den Durchgang sperren kaun. Im Jahre 1882 erschien dann Eng¬
land in Ägypten, bombardierte mit seiner Flotte mitten in: Frieden Alexandria,
und General Wolseley begann das Land zu besetzen und damit den Kanal,
der sich zu einer der wichtigsten Straßen des Seeverkehrs entwickelte, in die
Hand Englands zu spielen, ein Spiel, das allmählich in einen sehr ernstlichen
Besitz sowohl des Kanals als ganz Ägyptens überging, aus dem sich England
heute sicher nicht ohne den heftigsten und blutigsten Widerstand wird vertreiben
lassen. Als Rußland 1877 wieder einmal vor Konstantinopel stand, da
hinderte der Meerengenvertrag England nicht, vor dem Goldner Horn mit
einer Flotte zu erscheinen und sich dann zu größerer Sicherheit gegen russische
Vorstöße im Berliner Frieden Cypern abtreten zu lassen.

Damit war das Werk einer weitschauenden und kühnen Stantskuust in
seinen Grundlagen gesichert: rund um Europa hatte England sozusagen ein
Schanzwerk zu Wasser errichtet, das, vou einer großen Flotte verteidigt, nicht
leicht durchbrochen werden konnte. Von England aus werden Ostsee und
Nordsee bewacht, an der atlantischen Küste ist nach dem Verschwinden der
spanischen Flotte nur Frankreich ein möglicher Gegner, im Mittelmeer hat
England die weitaus stärkste maritime Stellung, da es die beideu wichtigsten
Zugänge in der Hand hält und Italien von der Seeseite her sehr verwundbar
ist. Es ist die Umkehr der bewaffneten Neutralität: Europa ist dauernd im
Zustand der Blockade durch die englische Seemacht. So lange die Kontinental¬
mächte nicht, ob vereinzelt oder durch Koalition, eine Flotte aufbringen, die
der englischen einigermaßen gewachsen ist, braucht sich England um Europa
nicht zu kümmern bei der Verfolgung seiner außereuropäischen Interessen, Und


Luropa und England

Mittelamerika nicht in der Hand europäischer Mächte blieben, indem es ihnen
zu der Anerkennung ihrer Unabhängigkeit verhalf.

Nun ging England in aller Ruhe an den Ausbau seines Kolonialreiches
und die Sicherung der gewonnenen Seeherrschaft, vorerst auf dem Mittelmeer,
Den Eingang hatte es seit 1713 in der Hand, seit 1800 auch Malta, Der
Wiener Frieden ließ die Dardanellen frei, obgleich noch 1807 eine englische
Flotte im Marmarameer erschienen war; denn damals war nicht Nußland,
sondern England für Konstantinopel gefährlich. Als Nußland eine Flotte im
Schwarzen Meer geschaffen hatte, kehrte sich das Interesse um, und 1841 schloß
der Meerengenvertrag den Ausgang zum Mittelmeer für alle, besonders aber
für Rußland, Die türkisch-ägyptische Seemacht wurde 1827 bei Navarin ver¬
nichtet von England im Bunde mit Frankreich und Rußland, was Wellington
im englischen Interesse freilich für ein „beklagenswertes Ereignis" erklärte.
Der Krimkrieg gab England Gelegenheit, die russische Flotte des Schwarzen
Meeres zu vernichten, und der Pariser Frieden von 1850 verbot sie wieder
herzustellen, ein Verbot, von dem sich Nußland erst 1871 wieder befreite. Unter
den gegenwärtigen Verhältnissen ist es Rußland wahrscheinlich nur recht, wenn
die Meerengen geschlossen bleiben. Es wird den Meerengenvertrag und die
Bestimmungen des Pariser Friedens erst zerreißen, wenn es selbst am Bosporus
festsitzt und den Durchgang sperren kaun. Im Jahre 1882 erschien dann Eng¬
land in Ägypten, bombardierte mit seiner Flotte mitten in: Frieden Alexandria,
und General Wolseley begann das Land zu besetzen und damit den Kanal,
der sich zu einer der wichtigsten Straßen des Seeverkehrs entwickelte, in die
Hand Englands zu spielen, ein Spiel, das allmählich in einen sehr ernstlichen
Besitz sowohl des Kanals als ganz Ägyptens überging, aus dem sich England
heute sicher nicht ohne den heftigsten und blutigsten Widerstand wird vertreiben
lassen. Als Rußland 1877 wieder einmal vor Konstantinopel stand, da
hinderte der Meerengenvertrag England nicht, vor dem Goldner Horn mit
einer Flotte zu erscheinen und sich dann zu größerer Sicherheit gegen russische
Vorstöße im Berliner Frieden Cypern abtreten zu lassen.

Damit war das Werk einer weitschauenden und kühnen Stantskuust in
seinen Grundlagen gesichert: rund um Europa hatte England sozusagen ein
Schanzwerk zu Wasser errichtet, das, vou einer großen Flotte verteidigt, nicht
leicht durchbrochen werden konnte. Von England aus werden Ostsee und
Nordsee bewacht, an der atlantischen Küste ist nach dem Verschwinden der
spanischen Flotte nur Frankreich ein möglicher Gegner, im Mittelmeer hat
England die weitaus stärkste maritime Stellung, da es die beideu wichtigsten
Zugänge in der Hand hält und Italien von der Seeseite her sehr verwundbar
ist. Es ist die Umkehr der bewaffneten Neutralität: Europa ist dauernd im
Zustand der Blockade durch die englische Seemacht. So lange die Kontinental¬
mächte nicht, ob vereinzelt oder durch Koalition, eine Flotte aufbringen, die
der englischen einigermaßen gewachsen ist, braucht sich England um Europa
nicht zu kümmern bei der Verfolgung seiner außereuropäischen Interessen, Und


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[0378] Luropa und England Mittelamerika nicht in der Hand europäischer Mächte blieben, indem es ihnen zu der Anerkennung ihrer Unabhängigkeit verhalf. Nun ging England in aller Ruhe an den Ausbau seines Kolonialreiches und die Sicherung der gewonnenen Seeherrschaft, vorerst auf dem Mittelmeer, Den Eingang hatte es seit 1713 in der Hand, seit 1800 auch Malta, Der Wiener Frieden ließ die Dardanellen frei, obgleich noch 1807 eine englische Flotte im Marmarameer erschienen war; denn damals war nicht Nußland, sondern England für Konstantinopel gefährlich. Als Nußland eine Flotte im Schwarzen Meer geschaffen hatte, kehrte sich das Interesse um, und 1841 schloß der Meerengenvertrag den Ausgang zum Mittelmeer für alle, besonders aber für Rußland, Die türkisch-ägyptische Seemacht wurde 1827 bei Navarin ver¬ nichtet von England im Bunde mit Frankreich und Rußland, was Wellington im englischen Interesse freilich für ein „beklagenswertes Ereignis" erklärte. Der Krimkrieg gab England Gelegenheit, die russische Flotte des Schwarzen Meeres zu vernichten, und der Pariser Frieden von 1850 verbot sie wieder herzustellen, ein Verbot, von dem sich Nußland erst 1871 wieder befreite. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen ist es Rußland wahrscheinlich nur recht, wenn die Meerengen geschlossen bleiben. Es wird den Meerengenvertrag und die Bestimmungen des Pariser Friedens erst zerreißen, wenn es selbst am Bosporus festsitzt und den Durchgang sperren kaun. Im Jahre 1882 erschien dann Eng¬ land in Ägypten, bombardierte mit seiner Flotte mitten in: Frieden Alexandria, und General Wolseley begann das Land zu besetzen und damit den Kanal, der sich zu einer der wichtigsten Straßen des Seeverkehrs entwickelte, in die Hand Englands zu spielen, ein Spiel, das allmählich in einen sehr ernstlichen Besitz sowohl des Kanals als ganz Ägyptens überging, aus dem sich England heute sicher nicht ohne den heftigsten und blutigsten Widerstand wird vertreiben lassen. Als Rußland 1877 wieder einmal vor Konstantinopel stand, da hinderte der Meerengenvertrag England nicht, vor dem Goldner Horn mit einer Flotte zu erscheinen und sich dann zu größerer Sicherheit gegen russische Vorstöße im Berliner Frieden Cypern abtreten zu lassen. Damit war das Werk einer weitschauenden und kühnen Stantskuust in seinen Grundlagen gesichert: rund um Europa hatte England sozusagen ein Schanzwerk zu Wasser errichtet, das, vou einer großen Flotte verteidigt, nicht leicht durchbrochen werden konnte. Von England aus werden Ostsee und Nordsee bewacht, an der atlantischen Küste ist nach dem Verschwinden der spanischen Flotte nur Frankreich ein möglicher Gegner, im Mittelmeer hat England die weitaus stärkste maritime Stellung, da es die beideu wichtigsten Zugänge in der Hand hält und Italien von der Seeseite her sehr verwundbar ist. Es ist die Umkehr der bewaffneten Neutralität: Europa ist dauernd im Zustand der Blockade durch die englische Seemacht. So lange die Kontinental¬ mächte nicht, ob vereinzelt oder durch Koalition, eine Flotte aufbringen, die der englischen einigermaßen gewachsen ist, braucht sich England um Europa nicht zu kümmern bei der Verfolgung seiner außereuropäischen Interessen, Und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/378>, abgerufen am 01.07.2024.