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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Die Fürsorge für mittellose Hinterblielme von Beamten und Arbeitern

"ach den voll der Mehrheit des Reichstags gebilligte!! aber leider von dem
Vertreter der Regierung, Grafen Posadowsky, aufs schärfste als zur Zeit un-
durchführbar abgekehrte!! Borschlag des Freiherrn von Stunun ist die Ein¬
richtung als eine Versicherung im Sinne der bestehenden Arbeiterversichernngs-
gesetze gedacht. Aber ohne großen Reichszuschnß würde wohl auch dieses
Projekt nicht zu verwirklichen sein.

Der Staatssekretär des Innern machte am 12. Januar zunächst gegen
den Antrag Stumm geltend, daß man erst den völligen Ausbau der drei schon
eingerichteten Zweige der Arbeiterversicherung, der Unfall-, Kranken- und Alters¬
und Jnvaliditätsversicherung, abwarten müsse, ehe man an die Witwen- und
Waiseuversicherung herangehn könne. Das ist ganz gewiß nicht stichhaltig.
Den Anfang mit der Witwen- und Waisenversichcrung zu machen ist jedenfalls
viel dringender, als der letzte Ausputz der bisherigen Einrichtung. Und wer
kann überhaupt Nüssen, wann man damit einmal fertig sein wird? Dann
meinte Graf Posadowsky weiter, der Industrie gehe es zwar jetzt sehr gut,
aber das könne sich ändern, und dann würde es ihr wahrscheinlich zu schwer
fallen, die Kosten für die neue Leistung auf sich zu nehmen. An eine Mehr¬
belastung der Landwirtschaft sei gar nicht zu denken. Die Vertreter der In¬
dustrie, voran Herr von Stumm selbst, erklärte" zwar einmütig, daß sie unter
allen Umstünden die Kosten tragen könnten, aber der Sprecher der Landwirt¬
schaft protestierte um so energischer nicht nur gegen die Neubelastung seines
Standes, sondern auch dagegen, daß etwa für die Industrie allein die Witwen¬
uno Waisenversicherung eingeführt werde, da dann die Landflucht nur noch
größer werden würde. Auf diesen Standpunkt stellte sich auch der Staats¬
sekretär, der die Jahreskosten der Maßregel übrigens auf nahezu hundert
Millionen einschätzte.

Von nichtamtlicher und nichtparlamentarischer Seite sind mehrfach Vor¬
schläge laut geworden, die die Deckung ganz aus Reichs-, Staats- und Kom-
mnnnlmitteln geleistet sehe" wollen. Von eiuer Versicherung sollte man dann
besser nicht mehr reden, es wird ja auch meist zur Begründung direkt auf die
Erleichterung der Armenlast verwiesen. Es würde sich dabei in der That
wesentlich um eine Verbesserung der Armenpflege handeln, wogegen wir grund¬
sätzlich auch gar nichts einzuwenden hätten. Vorläufig muß man abwarten,
was die Zukunft in dieser Beziehung bringt.

In recht eigentümlicher Weise ist in den Verhandlungen der Budgetkom¬
mission über die Flvttenvorlage, in der - mich abgesehen von dem Handel
um den Getreidezoll -- die fernliegendsten, schwierigsten Fragen so nebenher
mit abgethan werden zu sollen scheinen, die Witwen- und Waisenversorgung
muss Tapet gebracht worden. Die Majorität will bekanntlich die Flotte nur
bewilligen, wenn von der Deckung durch Anleihen ganz Abstand genommen
wird. Mau schlägt deshalb alle möglichen neuen Steuern vor, obgleich man
noch keine Ahnung hat, ob nicht die Zolleinnahmen des Reichs nach der Neu¬
ordnung des Zolltarifs und der Handelsverträge solche Mehreinnahmen bringen


Die Fürsorge für mittellose Hinterblielme von Beamten und Arbeitern

»ach den voll der Mehrheit des Reichstags gebilligte!! aber leider von dem
Vertreter der Regierung, Grafen Posadowsky, aufs schärfste als zur Zeit un-
durchführbar abgekehrte!! Borschlag des Freiherrn von Stunun ist die Ein¬
richtung als eine Versicherung im Sinne der bestehenden Arbeiterversichernngs-
gesetze gedacht. Aber ohne großen Reichszuschnß würde wohl auch dieses
Projekt nicht zu verwirklichen sein.

Der Staatssekretär des Innern machte am 12. Januar zunächst gegen
den Antrag Stumm geltend, daß man erst den völligen Ausbau der drei schon
eingerichteten Zweige der Arbeiterversicherung, der Unfall-, Kranken- und Alters¬
und Jnvaliditätsversicherung, abwarten müsse, ehe man an die Witwen- und
Waiseuversicherung herangehn könne. Das ist ganz gewiß nicht stichhaltig.
Den Anfang mit der Witwen- und Waisenversichcrung zu machen ist jedenfalls
viel dringender, als der letzte Ausputz der bisherigen Einrichtung. Und wer
kann überhaupt Nüssen, wann man damit einmal fertig sein wird? Dann
meinte Graf Posadowsky weiter, der Industrie gehe es zwar jetzt sehr gut,
aber das könne sich ändern, und dann würde es ihr wahrscheinlich zu schwer
fallen, die Kosten für die neue Leistung auf sich zu nehmen. An eine Mehr¬
belastung der Landwirtschaft sei gar nicht zu denken. Die Vertreter der In¬
dustrie, voran Herr von Stumm selbst, erklärte» zwar einmütig, daß sie unter
allen Umstünden die Kosten tragen könnten, aber der Sprecher der Landwirt¬
schaft protestierte um so energischer nicht nur gegen die Neubelastung seines
Standes, sondern auch dagegen, daß etwa für die Industrie allein die Witwen¬
uno Waisenversicherung eingeführt werde, da dann die Landflucht nur noch
größer werden würde. Auf diesen Standpunkt stellte sich auch der Staats¬
sekretär, der die Jahreskosten der Maßregel übrigens auf nahezu hundert
Millionen einschätzte.

Von nichtamtlicher und nichtparlamentarischer Seite sind mehrfach Vor¬
schläge laut geworden, die die Deckung ganz aus Reichs-, Staats- und Kom-
mnnnlmitteln geleistet sehe» wollen. Von eiuer Versicherung sollte man dann
besser nicht mehr reden, es wird ja auch meist zur Begründung direkt auf die
Erleichterung der Armenlast verwiesen. Es würde sich dabei in der That
wesentlich um eine Verbesserung der Armenpflege handeln, wogegen wir grund¬
sätzlich auch gar nichts einzuwenden hätten. Vorläufig muß man abwarten,
was die Zukunft in dieser Beziehung bringt.

In recht eigentümlicher Weise ist in den Verhandlungen der Budgetkom¬
mission über die Flvttenvorlage, in der - mich abgesehen von dem Handel
um den Getreidezoll — die fernliegendsten, schwierigsten Fragen so nebenher
mit abgethan werden zu sollen scheinen, die Witwen- und Waisenversorgung
muss Tapet gebracht worden. Die Majorität will bekanntlich die Flotte nur
bewilligen, wenn von der Deckung durch Anleihen ganz Abstand genommen
wird. Mau schlägt deshalb alle möglichen neuen Steuern vor, obgleich man
noch keine Ahnung hat, ob nicht die Zolleinnahmen des Reichs nach der Neu¬
ordnung des Zolltarifs und der Handelsverträge solche Mehreinnahmen bringen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/375>, abgerufen am 03.07.2024.