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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Die Fürsorge für mittellose kiinterblielme von Beamten und Arbeitern

werden, daß die Regierung die neuen Steuern für den Schiffbau gar nicht
braucht. Deshalb ist man nun auf den Ausweg gekommen, zu erklären -- be¬
schließen konnte die Kommission so etwas natürlich nicht --, daß Mehr¬
einnahmen, die sich aus der verlangten Erhöhung der Getreidezölle ergeben
würden, zur Einrichtung einer Arbeiterwitwen- und Waisenversicherung ver¬
wandt werden sollten. Der Reichsschatzsekretür hat von der Idee dankend
Kenntnis genommen und nun gegen die Bewilligung neuer Steuern gar nichts
mehr einzuwenden.

Was praktisch daraus werden soll, darüber zerbrechen sich die Herren
Schnelllegislatoren der Budgetkommission keinen Augenblick die Köpfe. Wir
wollen es auch uicht thun. Aber daran müssen wir doch erinnern, daß Graf
Posadowsky seinem Hinweis auf die vielleicht bevorstehende Depression der
industriellen Leistungsfähigkeit die unbestreitbar richtige Bemerkung hinzufügte,
es sei wiederholt vom Regierungstisch und vom Reichstage betont worden,
"man solle nicht dauernde Ausgaben auf schwankenden und unsichern Ein¬
nahmen aufbauen." Der Mehrertrag aus der Getreidezollerhöhung ist nun
aber nicht nur sehr schwankend und sehr unsicher, sondern er wird von den
Agrariern selbst, die das Verlangen nach höherm Zoll durch die angeblich da¬
durch zu erreichende Deckung des gauzeu Inlandsbedarfs durch heimisches Ge¬
treide begründen, sogar von vornherein als künftig wegfallend bezeichnet.
Nichtsdestoweniger wird vielleicht nächstens die agrarische Agitationsparole
ausgegeben werden: Keine Zollerhöhnng, keine Witwen- und Waisenversiche-
rung! Auch in dieser Beziehung muß man abwarten, wie weit man die Kon¬
fusion treiben wird.

Leider hat ihr Professor Conrad in Halle in seiner jüngsten, sehr scharfen
Zurückweisung der agrarischen Zollpolitik Nahrung gegeben, indem er sagte,
durch die sehr große Verteuerung der Nahrungsmittel für den Arbeiter, der
bekanntlich verhältnismäßig mehr Getreide verbrauche als der wohlhabende
Mann, gewinne die Zolleinnnhme des Reichs einen sehr häßlichen Beigeschmack,
der nur gemildert werden könnte durch die Verwendung der Beträge zum
Besten der untern Klassen. Sie sollten nicht in die allgemeine Staatskasse
fließen, sondern zu besondern Fonds für wohlthätige Zwecke, z. B. zur Durch¬
führung einer allgemeinen Witwen- und Waisenversicherung oder zur Ver¬
sicherung der Arbeitslosen. Herr Professor Conrad würde gut daran thun,
sich näher darüber zu erklären, wie er sich diese Versicherungen auf so ganz
unsichre Einnahmen aufgebaut denkt. Jedenfalls hat er mit seiner beiläufigen
Bemerkung eine nette Getreidezollerhöhung nicht schmackhaft machen und am
wenigsten eine bessere Fürsorge für die Hiuterbliebnen der Arbeiter von der
/? Zollerhöhuug abhängig machen wollen.




Die Fürsorge für mittellose kiinterblielme von Beamten und Arbeitern

werden, daß die Regierung die neuen Steuern für den Schiffbau gar nicht
braucht. Deshalb ist man nun auf den Ausweg gekommen, zu erklären — be¬
schließen konnte die Kommission so etwas natürlich nicht —, daß Mehr¬
einnahmen, die sich aus der verlangten Erhöhung der Getreidezölle ergeben
würden, zur Einrichtung einer Arbeiterwitwen- und Waisenversicherung ver¬
wandt werden sollten. Der Reichsschatzsekretür hat von der Idee dankend
Kenntnis genommen und nun gegen die Bewilligung neuer Steuern gar nichts
mehr einzuwenden.

Was praktisch daraus werden soll, darüber zerbrechen sich die Herren
Schnelllegislatoren der Budgetkommission keinen Augenblick die Köpfe. Wir
wollen es auch uicht thun. Aber daran müssen wir doch erinnern, daß Graf
Posadowsky seinem Hinweis auf die vielleicht bevorstehende Depression der
industriellen Leistungsfähigkeit die unbestreitbar richtige Bemerkung hinzufügte,
es sei wiederholt vom Regierungstisch und vom Reichstage betont worden,
„man solle nicht dauernde Ausgaben auf schwankenden und unsichern Ein¬
nahmen aufbauen." Der Mehrertrag aus der Getreidezollerhöhung ist nun
aber nicht nur sehr schwankend und sehr unsicher, sondern er wird von den
Agrariern selbst, die das Verlangen nach höherm Zoll durch die angeblich da¬
durch zu erreichende Deckung des gauzeu Inlandsbedarfs durch heimisches Ge¬
treide begründen, sogar von vornherein als künftig wegfallend bezeichnet.
Nichtsdestoweniger wird vielleicht nächstens die agrarische Agitationsparole
ausgegeben werden: Keine Zollerhöhnng, keine Witwen- und Waisenversiche-
rung! Auch in dieser Beziehung muß man abwarten, wie weit man die Kon¬
fusion treiben wird.

Leider hat ihr Professor Conrad in Halle in seiner jüngsten, sehr scharfen
Zurückweisung der agrarischen Zollpolitik Nahrung gegeben, indem er sagte,
durch die sehr große Verteuerung der Nahrungsmittel für den Arbeiter, der
bekanntlich verhältnismäßig mehr Getreide verbrauche als der wohlhabende
Mann, gewinne die Zolleinnnhme des Reichs einen sehr häßlichen Beigeschmack,
der nur gemildert werden könnte durch die Verwendung der Beträge zum
Besten der untern Klassen. Sie sollten nicht in die allgemeine Staatskasse
fließen, sondern zu besondern Fonds für wohlthätige Zwecke, z. B. zur Durch¬
führung einer allgemeinen Witwen- und Waisenversicherung oder zur Ver¬
sicherung der Arbeitslosen. Herr Professor Conrad würde gut daran thun,
sich näher darüber zu erklären, wie er sich diese Versicherungen auf so ganz
unsichre Einnahmen aufgebaut denkt. Jedenfalls hat er mit seiner beiläufigen
Bemerkung eine nette Getreidezollerhöhung nicht schmackhaft machen und am
wenigsten eine bessere Fürsorge für die Hiuterbliebnen der Arbeiter von der
/? Zollerhöhuug abhängig machen wollen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/376>, abgerufen am 01.07.2024.