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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Ibsens romantische Stücke

politischen Selbständigkeit haben sie es nur vorübergehend in ältern Zeiten
gebracht; im spätern Mittelalter waren sie Unterthanen Dänemarks, jetzt ge¬
hören sie zu Schweden, Ja sie haben nicht einmal ihre eigne Sprache zur
Schriftsprache ausgebildet, sie bedienen sich der dänischen, die ihrerseits keine
Weltsprache ist, wenn sie auch seit einigen Jahrzehnten von verdienten Dichtern
und Novellisten gepflegt wird, die jedoch mehr für uns Deutsche, als für den
kleinen Kreis ihrer Landsleute schreiben, und die vielleicht gar nicht den Mut
zum Schreiben haben würden, wenn sie nicht wüßten, daß sie übersetzt werden.
Sind ein solches Land, ein solches Volk und eine solche Sprache der Boden,
auf dem sich ein großes Dichtergenie entfalten könnte? Die Schweizer sind
zwar anch ein kleines Volk*) -- immerhin ein wenig zahlreicher als die Nor¬
weger --, aber sie erfreuen sich einer viel günstigern Lage. Sie wohnen im
Herzen Europas, umschlossen von dreien der vier bedeutendsten Kulturvölker der
alten Welt, jahrhundertelang bald, in freundlicher, bald feindlicher Wechsel¬
wirkung mit ihnen und heute im Mittelpunkt eines Weltverkehrs, wie es keinen
zweiten giebt. Sie haben Industrie und liefern seit Jahrhunderten der Kunst
und Wissenschaft Europas wichtige Beitrüge. So haben sie denn auch zahl¬
lose Gelehrte und Künstler hervorgebracht -- trotzdem aber keinen Größten;
ihrer größten und teuersten nationalen Erinnerung hat ein Deutscher zur Un¬
sterblichkeit verholfen. Wenn nun in einem solchen Lande, wie Norwegen eines
ist, ein Dichtergenie geboren wird, und wenn es sich der Schranken bewußt
wird, die seine Heimat und Nationalität der Entfaltung ziehn, muß es dn nicht
von Bitterkeit erfüllt werden und der Verzweiflung oder wenigstens einer vor¬
herrschend pessimistischen Stimmung verfallen? Und erzeugt nicht überdies auch
noch die lange Winternncht des Nordens Melancholie? Wie oft tritt in Ibsens
Gedichten die Angst vor der Nacht hervor, das Gespenstische, das die an sich
schon schreckliche Natur der Eiswüsten, des stürmenden Meeres und der finstern
Wolkengebilde in der Dunkelheit annimmt! Die alten Wikinger, ja die haben
sich die Melancholie noch einigermaßen fernzuhalten gewußt! Im Sommer
besuchten sie die freundlichen Gestade südlicher Länder, und die Winternacht
erheiterten sie sich mit dem Wein und den Weibern, die sie dort geraubt
hatten, und mit dem Gesang, den Gott ihren Statten in den Busen legte.
Aber womit soll sie sich ein armer Jüngling erheitern, der Pillen drehen muß,
während ihm eine geistige Welt im Busen gürt, und der dann unter den
härtesten Entbehrungen Medizin studiert, um sich die materielle Grundlage für
die Ausübung seines eigentlichen Berufs zu schaffen? Wie gut versteht man
es. daß er als ersten Stoss für ein Drama Catilina wählte! Es war damit
noch nichts verloren; die Revolution ist der Jugend sympathisch, und einer unter
solchen Umstünden lebenden Jugend drängen sich revolutionäre Gedanken von
selbst auf; auch Schiller hat mit den Räubern und mit Kabale und Liebe, und
sogar Goethe hat mit Werther und Götz begonnen. Die Stücke, die Ibsen



*) Natürlich weiß ich, das; sie ein Volk im ethnographischen Sinne überhaupt nicht sind.
Ibsens romantische Stücke

politischen Selbständigkeit haben sie es nur vorübergehend in ältern Zeiten
gebracht; im spätern Mittelalter waren sie Unterthanen Dänemarks, jetzt ge¬
hören sie zu Schweden, Ja sie haben nicht einmal ihre eigne Sprache zur
Schriftsprache ausgebildet, sie bedienen sich der dänischen, die ihrerseits keine
Weltsprache ist, wenn sie auch seit einigen Jahrzehnten von verdienten Dichtern
und Novellisten gepflegt wird, die jedoch mehr für uns Deutsche, als für den
kleinen Kreis ihrer Landsleute schreiben, und die vielleicht gar nicht den Mut
zum Schreiben haben würden, wenn sie nicht wüßten, daß sie übersetzt werden.
Sind ein solches Land, ein solches Volk und eine solche Sprache der Boden,
auf dem sich ein großes Dichtergenie entfalten könnte? Die Schweizer sind
zwar anch ein kleines Volk*) — immerhin ein wenig zahlreicher als die Nor¬
weger —, aber sie erfreuen sich einer viel günstigern Lage. Sie wohnen im
Herzen Europas, umschlossen von dreien der vier bedeutendsten Kulturvölker der
alten Welt, jahrhundertelang bald, in freundlicher, bald feindlicher Wechsel¬
wirkung mit ihnen und heute im Mittelpunkt eines Weltverkehrs, wie es keinen
zweiten giebt. Sie haben Industrie und liefern seit Jahrhunderten der Kunst
und Wissenschaft Europas wichtige Beitrüge. So haben sie denn auch zahl¬
lose Gelehrte und Künstler hervorgebracht — trotzdem aber keinen Größten;
ihrer größten und teuersten nationalen Erinnerung hat ein Deutscher zur Un¬
sterblichkeit verholfen. Wenn nun in einem solchen Lande, wie Norwegen eines
ist, ein Dichtergenie geboren wird, und wenn es sich der Schranken bewußt
wird, die seine Heimat und Nationalität der Entfaltung ziehn, muß es dn nicht
von Bitterkeit erfüllt werden und der Verzweiflung oder wenigstens einer vor¬
herrschend pessimistischen Stimmung verfallen? Und erzeugt nicht überdies auch
noch die lange Winternncht des Nordens Melancholie? Wie oft tritt in Ibsens
Gedichten die Angst vor der Nacht hervor, das Gespenstische, das die an sich
schon schreckliche Natur der Eiswüsten, des stürmenden Meeres und der finstern
Wolkengebilde in der Dunkelheit annimmt! Die alten Wikinger, ja die haben
sich die Melancholie noch einigermaßen fernzuhalten gewußt! Im Sommer
besuchten sie die freundlichen Gestade südlicher Länder, und die Winternacht
erheiterten sie sich mit dem Wein und den Weibern, die sie dort geraubt
hatten, und mit dem Gesang, den Gott ihren Statten in den Busen legte.
Aber womit soll sie sich ein armer Jüngling erheitern, der Pillen drehen muß,
während ihm eine geistige Welt im Busen gürt, und der dann unter den
härtesten Entbehrungen Medizin studiert, um sich die materielle Grundlage für
die Ausübung seines eigentlichen Berufs zu schaffen? Wie gut versteht man
es. daß er als ersten Stoss für ein Drama Catilina wählte! Es war damit
noch nichts verloren; die Revolution ist der Jugend sympathisch, und einer unter
solchen Umstünden lebenden Jugend drängen sich revolutionäre Gedanken von
selbst auf; auch Schiller hat mit den Räubern und mit Kabale und Liebe, und
sogar Goethe hat mit Werther und Götz begonnen. Die Stücke, die Ibsen



*) Natürlich weiß ich, das; sie ein Volk im ethnographischen Sinne überhaupt nicht sind.
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[0344] Ibsens romantische Stücke politischen Selbständigkeit haben sie es nur vorübergehend in ältern Zeiten gebracht; im spätern Mittelalter waren sie Unterthanen Dänemarks, jetzt ge¬ hören sie zu Schweden, Ja sie haben nicht einmal ihre eigne Sprache zur Schriftsprache ausgebildet, sie bedienen sich der dänischen, die ihrerseits keine Weltsprache ist, wenn sie auch seit einigen Jahrzehnten von verdienten Dichtern und Novellisten gepflegt wird, die jedoch mehr für uns Deutsche, als für den kleinen Kreis ihrer Landsleute schreiben, und die vielleicht gar nicht den Mut zum Schreiben haben würden, wenn sie nicht wüßten, daß sie übersetzt werden. Sind ein solches Land, ein solches Volk und eine solche Sprache der Boden, auf dem sich ein großes Dichtergenie entfalten könnte? Die Schweizer sind zwar anch ein kleines Volk*) — immerhin ein wenig zahlreicher als die Nor¬ weger —, aber sie erfreuen sich einer viel günstigern Lage. Sie wohnen im Herzen Europas, umschlossen von dreien der vier bedeutendsten Kulturvölker der alten Welt, jahrhundertelang bald, in freundlicher, bald feindlicher Wechsel¬ wirkung mit ihnen und heute im Mittelpunkt eines Weltverkehrs, wie es keinen zweiten giebt. Sie haben Industrie und liefern seit Jahrhunderten der Kunst und Wissenschaft Europas wichtige Beitrüge. So haben sie denn auch zahl¬ lose Gelehrte und Künstler hervorgebracht — trotzdem aber keinen Größten; ihrer größten und teuersten nationalen Erinnerung hat ein Deutscher zur Un¬ sterblichkeit verholfen. Wenn nun in einem solchen Lande, wie Norwegen eines ist, ein Dichtergenie geboren wird, und wenn es sich der Schranken bewußt wird, die seine Heimat und Nationalität der Entfaltung ziehn, muß es dn nicht von Bitterkeit erfüllt werden und der Verzweiflung oder wenigstens einer vor¬ herrschend pessimistischen Stimmung verfallen? Und erzeugt nicht überdies auch noch die lange Winternncht des Nordens Melancholie? Wie oft tritt in Ibsens Gedichten die Angst vor der Nacht hervor, das Gespenstische, das die an sich schon schreckliche Natur der Eiswüsten, des stürmenden Meeres und der finstern Wolkengebilde in der Dunkelheit annimmt! Die alten Wikinger, ja die haben sich die Melancholie noch einigermaßen fernzuhalten gewußt! Im Sommer besuchten sie die freundlichen Gestade südlicher Länder, und die Winternacht erheiterten sie sich mit dem Wein und den Weibern, die sie dort geraubt hatten, und mit dem Gesang, den Gott ihren Statten in den Busen legte. Aber womit soll sie sich ein armer Jüngling erheitern, der Pillen drehen muß, während ihm eine geistige Welt im Busen gürt, und der dann unter den härtesten Entbehrungen Medizin studiert, um sich die materielle Grundlage für die Ausübung seines eigentlichen Berufs zu schaffen? Wie gut versteht man es. daß er als ersten Stoss für ein Drama Catilina wählte! Es war damit noch nichts verloren; die Revolution ist der Jugend sympathisch, und einer unter solchen Umstünden lebenden Jugend drängen sich revolutionäre Gedanken von selbst auf; auch Schiller hat mit den Räubern und mit Kabale und Liebe, und sogar Goethe hat mit Werther und Götz begonnen. Die Stücke, die Ibsen *) Natürlich weiß ich, das; sie ein Volk im ethnographischen Sinne überhaupt nicht sind.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/344>, abgerufen am 22.07.2024.