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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Ibsens romantische Stücke

Dr, Brandes zu irren, wenn er glaubt, Ibsens Feindschaft gegen die jetzt
lebenden Menschen entspringe dem Glauben an eine mögliche Erneuerung der
Welt."

Der Ibsen, den unsre Jbseniten feiern, ist hier richtig charakterisiert, und
eine Ursache seines Zurückbleibens unter dem Gipfel -- oder seines Abfalls
beim Kummer -- zur Genüge aufgedeckt. Aber wir werden sehen, daß Ibsen
nicht von Haus aus Menschenhasser gewesen ist, und es könnte wohl sein, daß
ihn die von anderswoher entspringende Unmöglichkeit, ein Größter zu werden,
erst zum Hasser gemacht hätte, daß er wirklich die Anlage zum Allergrößten
in sich getragen, aber verhindert worden wäre, sie zu entfalten, und daß da¬
durch seine ursprüngliche Liebe in Haß verwandelt worden wäre. Liebe ist
eine unerläßliche Bedingung, aber nicht das Wesen der Dichtergröße. Liebe
für sich allein macht noch nicht zum Dichter. Es giebt glücklicherweise
milliardenmal mehr Liebende und viel tausendmal mehr vou großer und reiner
Liebe erfüllte Menschen als große Dichter. Und es gehören außer den oben
angeführten Gaben auch noch äußere Bedingungen dazu, wenn sich diese Gaben
entfalten sollen. Der Satz, den Lessing dem Maler Conti in den Mund legt,
daß Naffael auch denn "das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er
unglücklicherweise ohne Hände wäre geboren worden," bedeutet doch uicht, daß
Naffael auch in diesem Falle der größte Maler sein.Würde, wie gedankenlose
Zitierer den scharfsinnigen Ästhetiker sagen lassen. Sondern er drückt die traurige
Wahrheit aus, daß eine geniale Anlage, auch die allergrößte, infolge äußer¬
licher Hindernisse unentfaltet bleiben kann. Bei Ibsen dürfte die Nationalität
das Hindernis gewesen sein. Größte Dichter können nur großen Nationen
entsprießen, Nationen, deren Kulturen Wclttulturen, und deren Sprachen Welt¬
sprachen sind. Das gilt von den alten Griechen, von den Deutschen, von den
Franzosen, den Italienern, von den Engländern. Camoens und Jost van den
Vorbei möchten immerhin die größten Dichtergenies der Welt gewesen sein,
ihre kleinen Heimatstaaten wären nicht der geeignete Boden zur Entfaltung,
und ihre Heimntsprachen nicht das geeignete Medium gewesen, sich der Welt
W offenbaren. Die Norweger sind ein echtes Germanenvolk, ein Volk von
außerordentlicher Tüchtigkeit und heute bis in ihre untersten Schichten gebildet,
ein Volk ohne eigentliches Proletariat. Aber es sind ihrer noch nicht so viel,
als die Stadt Paris Einwohner hat; sie leben über ein 240 Meilen langes
Land zerstreut, dessen Küste dem Eismeer zugekehrt ist. Sie haben nie anders
als durch Wikiugerfahrten, d. h. Raub- und Plünderungsfahrten, in die Welt¬
geschichte eingegriffen; sie mußten der Natur ihres Landes gemäß auf der
wirtschaftlichen Stufe der Urprodnktion und eines nicht im Dienste der Fabri¬
kation stehenden Seehandels verharre,?, sie konnten nur wenig Industrie, nur
wenig städtisches Leben entwickeln, sie blieben an eine Lebensweise gebunden,
die zwar die Leiber und die Seelen gesund erhält, den Zugang zu den höchsten
Höhen der Kultur und der Zivilisation aber verwehrt, und so wenig wie am
politischen, haben sie sich vor Ibsen am Kulturleben Europas beteiligt. Zur


Ibsens romantische Stücke

Dr, Brandes zu irren, wenn er glaubt, Ibsens Feindschaft gegen die jetzt
lebenden Menschen entspringe dem Glauben an eine mögliche Erneuerung der
Welt."

Der Ibsen, den unsre Jbseniten feiern, ist hier richtig charakterisiert, und
eine Ursache seines Zurückbleibens unter dem Gipfel — oder seines Abfalls
beim Kummer — zur Genüge aufgedeckt. Aber wir werden sehen, daß Ibsen
nicht von Haus aus Menschenhasser gewesen ist, und es könnte wohl sein, daß
ihn die von anderswoher entspringende Unmöglichkeit, ein Größter zu werden,
erst zum Hasser gemacht hätte, daß er wirklich die Anlage zum Allergrößten
in sich getragen, aber verhindert worden wäre, sie zu entfalten, und daß da¬
durch seine ursprüngliche Liebe in Haß verwandelt worden wäre. Liebe ist
eine unerläßliche Bedingung, aber nicht das Wesen der Dichtergröße. Liebe
für sich allein macht noch nicht zum Dichter. Es giebt glücklicherweise
milliardenmal mehr Liebende und viel tausendmal mehr vou großer und reiner
Liebe erfüllte Menschen als große Dichter. Und es gehören außer den oben
angeführten Gaben auch noch äußere Bedingungen dazu, wenn sich diese Gaben
entfalten sollen. Der Satz, den Lessing dem Maler Conti in den Mund legt,
daß Naffael auch denn „das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er
unglücklicherweise ohne Hände wäre geboren worden," bedeutet doch uicht, daß
Naffael auch in diesem Falle der größte Maler sein.Würde, wie gedankenlose
Zitierer den scharfsinnigen Ästhetiker sagen lassen. Sondern er drückt die traurige
Wahrheit aus, daß eine geniale Anlage, auch die allergrößte, infolge äußer¬
licher Hindernisse unentfaltet bleiben kann. Bei Ibsen dürfte die Nationalität
das Hindernis gewesen sein. Größte Dichter können nur großen Nationen
entsprießen, Nationen, deren Kulturen Wclttulturen, und deren Sprachen Welt¬
sprachen sind. Das gilt von den alten Griechen, von den Deutschen, von den
Franzosen, den Italienern, von den Engländern. Camoens und Jost van den
Vorbei möchten immerhin die größten Dichtergenies der Welt gewesen sein,
ihre kleinen Heimatstaaten wären nicht der geeignete Boden zur Entfaltung,
und ihre Heimntsprachen nicht das geeignete Medium gewesen, sich der Welt
W offenbaren. Die Norweger sind ein echtes Germanenvolk, ein Volk von
außerordentlicher Tüchtigkeit und heute bis in ihre untersten Schichten gebildet,
ein Volk ohne eigentliches Proletariat. Aber es sind ihrer noch nicht so viel,
als die Stadt Paris Einwohner hat; sie leben über ein 240 Meilen langes
Land zerstreut, dessen Küste dem Eismeer zugekehrt ist. Sie haben nie anders
als durch Wikiugerfahrten, d. h. Raub- und Plünderungsfahrten, in die Welt¬
geschichte eingegriffen; sie mußten der Natur ihres Landes gemäß auf der
wirtschaftlichen Stufe der Urprodnktion und eines nicht im Dienste der Fabri¬
kation stehenden Seehandels verharre,?, sie konnten nur wenig Industrie, nur
wenig städtisches Leben entwickeln, sie blieben an eine Lebensweise gebunden,
die zwar die Leiber und die Seelen gesund erhält, den Zugang zu den höchsten
Höhen der Kultur und der Zivilisation aber verwehrt, und so wenig wie am
politischen, haben sie sich vor Ibsen am Kulturleben Europas beteiligt. Zur


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[0343] Ibsens romantische Stücke Dr, Brandes zu irren, wenn er glaubt, Ibsens Feindschaft gegen die jetzt lebenden Menschen entspringe dem Glauben an eine mögliche Erneuerung der Welt." Der Ibsen, den unsre Jbseniten feiern, ist hier richtig charakterisiert, und eine Ursache seines Zurückbleibens unter dem Gipfel — oder seines Abfalls beim Kummer — zur Genüge aufgedeckt. Aber wir werden sehen, daß Ibsen nicht von Haus aus Menschenhasser gewesen ist, und es könnte wohl sein, daß ihn die von anderswoher entspringende Unmöglichkeit, ein Größter zu werden, erst zum Hasser gemacht hätte, daß er wirklich die Anlage zum Allergrößten in sich getragen, aber verhindert worden wäre, sie zu entfalten, und daß da¬ durch seine ursprüngliche Liebe in Haß verwandelt worden wäre. Liebe ist eine unerläßliche Bedingung, aber nicht das Wesen der Dichtergröße. Liebe für sich allein macht noch nicht zum Dichter. Es giebt glücklicherweise milliardenmal mehr Liebende und viel tausendmal mehr vou großer und reiner Liebe erfüllte Menschen als große Dichter. Und es gehören außer den oben angeführten Gaben auch noch äußere Bedingungen dazu, wenn sich diese Gaben entfalten sollen. Der Satz, den Lessing dem Maler Conti in den Mund legt, daß Naffael auch denn „das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er unglücklicherweise ohne Hände wäre geboren worden," bedeutet doch uicht, daß Naffael auch in diesem Falle der größte Maler sein.Würde, wie gedankenlose Zitierer den scharfsinnigen Ästhetiker sagen lassen. Sondern er drückt die traurige Wahrheit aus, daß eine geniale Anlage, auch die allergrößte, infolge äußer¬ licher Hindernisse unentfaltet bleiben kann. Bei Ibsen dürfte die Nationalität das Hindernis gewesen sein. Größte Dichter können nur großen Nationen entsprießen, Nationen, deren Kulturen Wclttulturen, und deren Sprachen Welt¬ sprachen sind. Das gilt von den alten Griechen, von den Deutschen, von den Franzosen, den Italienern, von den Engländern. Camoens und Jost van den Vorbei möchten immerhin die größten Dichtergenies der Welt gewesen sein, ihre kleinen Heimatstaaten wären nicht der geeignete Boden zur Entfaltung, und ihre Heimntsprachen nicht das geeignete Medium gewesen, sich der Welt W offenbaren. Die Norweger sind ein echtes Germanenvolk, ein Volk von außerordentlicher Tüchtigkeit und heute bis in ihre untersten Schichten gebildet, ein Volk ohne eigentliches Proletariat. Aber es sind ihrer noch nicht so viel, als die Stadt Paris Einwohner hat; sie leben über ein 240 Meilen langes Land zerstreut, dessen Küste dem Eismeer zugekehrt ist. Sie haben nie anders als durch Wikiugerfahrten, d. h. Raub- und Plünderungsfahrten, in die Welt¬ geschichte eingegriffen; sie mußten der Natur ihres Landes gemäß auf der wirtschaftlichen Stufe der Urprodnktion und eines nicht im Dienste der Fabri¬ kation stehenden Seehandels verharre,?, sie konnten nur wenig Industrie, nur wenig städtisches Leben entwickeln, sie blieben an eine Lebensweise gebunden, die zwar die Leiber und die Seelen gesund erhält, den Zugang zu den höchsten Höhen der Kultur und der Zivilisation aber verwehrt, und so wenig wie am politischen, haben sie sich vor Ibsen am Kulturleben Europas beteiligt. Zur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/343>, abgerufen am 03.07.2024.