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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Lhamberlains Religion5- und Rassenphilosoxhie

sind ihm eben über; hat doch ein gelehrter Sonderling in allem Ernste nach¬
zuweisen gesucht, daß die Engländer die Nachkommen der verschwundnen zehn
Stämme Israels seien. Aber die Ähnlichkeit beschränkt sich nicht auf die
Angelsachsen und die Schotten und auch nicht auf den sich vielfach in reli¬
giöse Formen kleidenden Erwerbsinn und auf Äußerlichkeiten, sie erstreckt sich
weiter und geht tiefer. Wir haben bei einer andern Gelegenheit an die Ähn¬
lichkeit des Calvinismus mit dem Judentum und dem Islam erinnert und an
die Sympathie der drei zu einander, die sich im sechzehnten Jahrhundert in
einigen Übertritten kalvinischer Geistlichen zum Islam offenbarte. Wir finden
hier wie dort strengen Monotheismus; Calvin hatte zwar die Dreieinigkeits¬
lehre, von der Chamberlain meint, daß sie urarisch sei und die Christen vor
der äußersten Verjudung bewahrt habe, noch festgehalten, aber einzelne Calvi-
nisten bezeichneten sie als Abgötterei; jedenfalls wissen die Reformierten mit
der zweiten und dritten Person der Gottheit nicht viel anzufangen; hier wie
dort Geringschätzung der bildenden Künste, Bilderstürmerei, eine dem Vor¬
herrschen des Verstandes und Willens über Phantasie und Gemüt zu ver¬
dankende Freiheit von Mythologie und Aberglauben; nüchternen Rationalismus,
Unfähigkeit zu künstlerischen Schöpfungen, einen Fatalismus, der bei den Cal-
vinisten Prädestination heißt, unbedingtes Vertrauen auf das Fatum oder auf
den Gott, von dem man sich erwählt glaubt, heroische Tapferkeit in diesem
Glauben, aber auch fanatische Unduldsamkeit gegen die Nichterwählten und
einen Nationalhochmut, der sich auf den Glauben an die Erwählung des
ganzen Volkes stützt. Und wir sehen, daß sich die holländischen Calvinisten
wie die schottisch-englischen Puritaner zur Erbauung weit mehr des Alten als
des Neuen Testaments bedienen, und daß die Jankees ihren Kindern noch heute
mit Vorliebe alttestamentliche Namen geben.

Natürlich hat Calvin nicht etwa den Holländern, den Engländern und
den Schotten ihren heutigen Nationalcharakter geschaffen, sondern er ist nur
der Prophet des Geistes gewesen, der einen großen Teil der Westgcrmanen
beseelte, und der sich allerdings von da ab an der neuen ihm ganz angemessenen
Religionsform nicht wenig gestärkt hat. Selbstverständlich geht die Ähnlichkeit
zwischen Reformierten -- auch die Schweizer tragen einige Züge des gezeich¬
neten Bildes -- und den Semiten nicht bis zur völligen Übereinstimmung;
gerade einer der wichtigsten Charakterzüge der Semiten fehlt glücklicherweise:
die Schweizer, Hugenotten und Puritaner haben nicht bloß gleich den Semiten
die Kraft, organische Gebilde zu zersetzen und zu zerstören, sondern sie erfreuen
sich gleich allen übrigen Germanen der großartigsten Schöpferkraft, namentlich
auf dem politischen und auf dem gewerblichen Gebiete. Aber eine so gewaltige
und sozusagen dicke Thatsache darf doch in einer Geschichtsphilosophie*) nicht



Eine solche will freilich Chamberlain nicht liefern, der Name erinnert ihn zu sehr an
willkürliche Theorien; aber nachweisen, wie unsre heutige Kultur entstanden ist, das heißt eben
doch Geschichtsphilosophie treiben.
Lhamberlains Religion5- und Rassenphilosoxhie

sind ihm eben über; hat doch ein gelehrter Sonderling in allem Ernste nach¬
zuweisen gesucht, daß die Engländer die Nachkommen der verschwundnen zehn
Stämme Israels seien. Aber die Ähnlichkeit beschränkt sich nicht auf die
Angelsachsen und die Schotten und auch nicht auf den sich vielfach in reli¬
giöse Formen kleidenden Erwerbsinn und auf Äußerlichkeiten, sie erstreckt sich
weiter und geht tiefer. Wir haben bei einer andern Gelegenheit an die Ähn¬
lichkeit des Calvinismus mit dem Judentum und dem Islam erinnert und an
die Sympathie der drei zu einander, die sich im sechzehnten Jahrhundert in
einigen Übertritten kalvinischer Geistlichen zum Islam offenbarte. Wir finden
hier wie dort strengen Monotheismus; Calvin hatte zwar die Dreieinigkeits¬
lehre, von der Chamberlain meint, daß sie urarisch sei und die Christen vor
der äußersten Verjudung bewahrt habe, noch festgehalten, aber einzelne Calvi-
nisten bezeichneten sie als Abgötterei; jedenfalls wissen die Reformierten mit
der zweiten und dritten Person der Gottheit nicht viel anzufangen; hier wie
dort Geringschätzung der bildenden Künste, Bilderstürmerei, eine dem Vor¬
herrschen des Verstandes und Willens über Phantasie und Gemüt zu ver¬
dankende Freiheit von Mythologie und Aberglauben; nüchternen Rationalismus,
Unfähigkeit zu künstlerischen Schöpfungen, einen Fatalismus, der bei den Cal-
vinisten Prädestination heißt, unbedingtes Vertrauen auf das Fatum oder auf
den Gott, von dem man sich erwählt glaubt, heroische Tapferkeit in diesem
Glauben, aber auch fanatische Unduldsamkeit gegen die Nichterwählten und
einen Nationalhochmut, der sich auf den Glauben an die Erwählung des
ganzen Volkes stützt. Und wir sehen, daß sich die holländischen Calvinisten
wie die schottisch-englischen Puritaner zur Erbauung weit mehr des Alten als
des Neuen Testaments bedienen, und daß die Jankees ihren Kindern noch heute
mit Vorliebe alttestamentliche Namen geben.

Natürlich hat Calvin nicht etwa den Holländern, den Engländern und
den Schotten ihren heutigen Nationalcharakter geschaffen, sondern er ist nur
der Prophet des Geistes gewesen, der einen großen Teil der Westgcrmanen
beseelte, und der sich allerdings von da ab an der neuen ihm ganz angemessenen
Religionsform nicht wenig gestärkt hat. Selbstverständlich geht die Ähnlichkeit
zwischen Reformierten — auch die Schweizer tragen einige Züge des gezeich¬
neten Bildes — und den Semiten nicht bis zur völligen Übereinstimmung;
gerade einer der wichtigsten Charakterzüge der Semiten fehlt glücklicherweise:
die Schweizer, Hugenotten und Puritaner haben nicht bloß gleich den Semiten
die Kraft, organische Gebilde zu zersetzen und zu zerstören, sondern sie erfreuen
sich gleich allen übrigen Germanen der großartigsten Schöpferkraft, namentlich
auf dem politischen und auf dem gewerblichen Gebiete. Aber eine so gewaltige
und sozusagen dicke Thatsache darf doch in einer Geschichtsphilosophie*) nicht



Eine solche will freilich Chamberlain nicht liefern, der Name erinnert ihn zu sehr an
willkürliche Theorien; aber nachweisen, wie unsre heutige Kultur entstanden ist, das heißt eben
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/34>, abgerufen am 01.07.2024.