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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Europa und England

ihre volle Stärke und unter der Königin Viktoria ihre förmliche Ausbildung
erreichte. Nach außen ebenso kriegerisch und unternehmend wie irgend eine
Monarchie oder Demokratie, aber zäher, kühner, klarer, methodischer als die
meisten, findet sie eine Parallele in der neuern Geschichte Europas nur in
der Handelsaristokratie voll Venedig, Die seit dem Emporkommen der Gro߬
industrie mehr merkantile als feudale Aristokratie Englands hat die britische
Weltmacht geschaffen, und es ist sehr wahrscheinlich, daß diese Weltmacht das
aristokratische Regiment Englands nicht überleben wird; denn wie sich unter
diesem Regiment, nicht unter dem Absolutismus sei es des Fürsten oder der
rohen Masse, die sozialen und staatlichen Kräfte frei entfaltet haben, denen
England seine Größe verdankt, so werden sie untergraben durch jede Über¬
spannung in der Richtung auf eine andre, ob nun demokratische oder pluto-
kratische Jnteressenherrschaft hin.

So bekannt mich die Geschichte Englands im ganzen sein mag, so gewinnt
sie eben jetzt in ihrem äußern Teil wieder ein besondres Interesse insoweit,
als sie die Grundlage der heute so grell hervortretenden Sonderstellung Eng¬
lands gegenüber dem kontinentalen Europa ist, Vou der Entdeckung Amerikas
her datieren alle umfassenden Versuche europäischer Völker, sich in über¬
seeischen Ländern festzusetzen. Aber England war damals weder für Handel
noch für Kolonisation vorbereitet, vielmehr gerade so kontinental abgeschlossen
wie die eigentlichen Kontinentalländer; seine äußern Interessen waren gänzlich
auf das europäische Festland beschränkt. Diese enge Verbindung stammte von
der Zeit her, wo mit dem Tode der Enkelin Wilhelms des Eroberers England
an deren Sohn Heinrich von Anjou kam, der dann seinerseits seinen Besitz in
Frankreich durch Heirat so erweiterte, daß er über mehr als das halbe Frank¬
reich gebot. Aus dynastischen Erbansprüchen flössen dann später die endlosen
Kriege der beiden französischen Dynastien Anjou und Valois, die England bis
in die zweite Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts nach außen hin beschäftigten,
während zugleich im Lande selbst ebenso endlose Kämpfe um die Krone zwischen
den Häusern von Aork und Lancaster tobten. Erst unter Elisabeth traten die
maritimen Interessen des Jnsellandes in den Vordergrund durch den Krieg
mit Philipp II. von Spanien und durch die kolonialen Unternehmungen in
Nordamerika und Ostindien.

Es ist fast programmatisch für die fernere politische Handlungsweise Eng¬
lands, wie die ersten großen maritimen und kolonialen Erfolge herbeigeführt
wurden. Den Kampf gegen Spanien führte England Seite an Seite mit
Holland, und aus diesem Kampf gingen beide als die stärksten Seemächte
Europas hervor. Unter den Stuarts wurde die Flotte vernachlässigt, sodaß
die Generalstaaten an die Spitze der Seemächte traten, zugleich mächtig er¬
blühend durch ihre Kolonien und ihren Zwischenhandel. Besonders in Indien
hatten sie große Besitzungen erworben, nachdem sie sich, durch Vertrag im
Jahre 1619 mit England verbunden, gegen die dort herrschenden Portugiesen
gewandt hatten. Cromwell suchte diese Macht durch ein Bündnis an England


Europa und England

ihre volle Stärke und unter der Königin Viktoria ihre förmliche Ausbildung
erreichte. Nach außen ebenso kriegerisch und unternehmend wie irgend eine
Monarchie oder Demokratie, aber zäher, kühner, klarer, methodischer als die
meisten, findet sie eine Parallele in der neuern Geschichte Europas nur in
der Handelsaristokratie voll Venedig, Die seit dem Emporkommen der Gro߬
industrie mehr merkantile als feudale Aristokratie Englands hat die britische
Weltmacht geschaffen, und es ist sehr wahrscheinlich, daß diese Weltmacht das
aristokratische Regiment Englands nicht überleben wird; denn wie sich unter
diesem Regiment, nicht unter dem Absolutismus sei es des Fürsten oder der
rohen Masse, die sozialen und staatlichen Kräfte frei entfaltet haben, denen
England seine Größe verdankt, so werden sie untergraben durch jede Über¬
spannung in der Richtung auf eine andre, ob nun demokratische oder pluto-
kratische Jnteressenherrschaft hin.

So bekannt mich die Geschichte Englands im ganzen sein mag, so gewinnt
sie eben jetzt in ihrem äußern Teil wieder ein besondres Interesse insoweit,
als sie die Grundlage der heute so grell hervortretenden Sonderstellung Eng¬
lands gegenüber dem kontinentalen Europa ist, Vou der Entdeckung Amerikas
her datieren alle umfassenden Versuche europäischer Völker, sich in über¬
seeischen Ländern festzusetzen. Aber England war damals weder für Handel
noch für Kolonisation vorbereitet, vielmehr gerade so kontinental abgeschlossen
wie die eigentlichen Kontinentalländer; seine äußern Interessen waren gänzlich
auf das europäische Festland beschränkt. Diese enge Verbindung stammte von
der Zeit her, wo mit dem Tode der Enkelin Wilhelms des Eroberers England
an deren Sohn Heinrich von Anjou kam, der dann seinerseits seinen Besitz in
Frankreich durch Heirat so erweiterte, daß er über mehr als das halbe Frank¬
reich gebot. Aus dynastischen Erbansprüchen flössen dann später die endlosen
Kriege der beiden französischen Dynastien Anjou und Valois, die England bis
in die zweite Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts nach außen hin beschäftigten,
während zugleich im Lande selbst ebenso endlose Kämpfe um die Krone zwischen
den Häusern von Aork und Lancaster tobten. Erst unter Elisabeth traten die
maritimen Interessen des Jnsellandes in den Vordergrund durch den Krieg
mit Philipp II. von Spanien und durch die kolonialen Unternehmungen in
Nordamerika und Ostindien.

Es ist fast programmatisch für die fernere politische Handlungsweise Eng¬
lands, wie die ersten großen maritimen und kolonialen Erfolge herbeigeführt
wurden. Den Kampf gegen Spanien führte England Seite an Seite mit
Holland, und aus diesem Kampf gingen beide als die stärksten Seemächte
Europas hervor. Unter den Stuarts wurde die Flotte vernachlässigt, sodaß
die Generalstaaten an die Spitze der Seemächte traten, zugleich mächtig er¬
blühend durch ihre Kolonien und ihren Zwischenhandel. Besonders in Indien
hatten sie große Besitzungen erworben, nachdem sie sich, durch Vertrag im
Jahre 1619 mit England verbunden, gegen die dort herrschenden Portugiesen
gewandt hatten. Cromwell suchte diese Macht durch ein Bündnis an England


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[0324] Europa und England ihre volle Stärke und unter der Königin Viktoria ihre förmliche Ausbildung erreichte. Nach außen ebenso kriegerisch und unternehmend wie irgend eine Monarchie oder Demokratie, aber zäher, kühner, klarer, methodischer als die meisten, findet sie eine Parallele in der neuern Geschichte Europas nur in der Handelsaristokratie voll Venedig, Die seit dem Emporkommen der Gro߬ industrie mehr merkantile als feudale Aristokratie Englands hat die britische Weltmacht geschaffen, und es ist sehr wahrscheinlich, daß diese Weltmacht das aristokratische Regiment Englands nicht überleben wird; denn wie sich unter diesem Regiment, nicht unter dem Absolutismus sei es des Fürsten oder der rohen Masse, die sozialen und staatlichen Kräfte frei entfaltet haben, denen England seine Größe verdankt, so werden sie untergraben durch jede Über¬ spannung in der Richtung auf eine andre, ob nun demokratische oder pluto- kratische Jnteressenherrschaft hin. So bekannt mich die Geschichte Englands im ganzen sein mag, so gewinnt sie eben jetzt in ihrem äußern Teil wieder ein besondres Interesse insoweit, als sie die Grundlage der heute so grell hervortretenden Sonderstellung Eng¬ lands gegenüber dem kontinentalen Europa ist, Vou der Entdeckung Amerikas her datieren alle umfassenden Versuche europäischer Völker, sich in über¬ seeischen Ländern festzusetzen. Aber England war damals weder für Handel noch für Kolonisation vorbereitet, vielmehr gerade so kontinental abgeschlossen wie die eigentlichen Kontinentalländer; seine äußern Interessen waren gänzlich auf das europäische Festland beschränkt. Diese enge Verbindung stammte von der Zeit her, wo mit dem Tode der Enkelin Wilhelms des Eroberers England an deren Sohn Heinrich von Anjou kam, der dann seinerseits seinen Besitz in Frankreich durch Heirat so erweiterte, daß er über mehr als das halbe Frank¬ reich gebot. Aus dynastischen Erbansprüchen flössen dann später die endlosen Kriege der beiden französischen Dynastien Anjou und Valois, die England bis in die zweite Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts nach außen hin beschäftigten, während zugleich im Lande selbst ebenso endlose Kämpfe um die Krone zwischen den Häusern von Aork und Lancaster tobten. Erst unter Elisabeth traten die maritimen Interessen des Jnsellandes in den Vordergrund durch den Krieg mit Philipp II. von Spanien und durch die kolonialen Unternehmungen in Nordamerika und Ostindien. Es ist fast programmatisch für die fernere politische Handlungsweise Eng¬ lands, wie die ersten großen maritimen und kolonialen Erfolge herbeigeführt wurden. Den Kampf gegen Spanien führte England Seite an Seite mit Holland, und aus diesem Kampf gingen beide als die stärksten Seemächte Europas hervor. Unter den Stuarts wurde die Flotte vernachlässigt, sodaß die Generalstaaten an die Spitze der Seemächte traten, zugleich mächtig er¬ blühend durch ihre Kolonien und ihren Zwischenhandel. Besonders in Indien hatten sie große Besitzungen erworben, nachdem sie sich, durch Vertrag im Jahre 1619 mit England verbunden, gegen die dort herrschenden Portugiesen gewandt hatten. Cromwell suchte diese Macht durch ein Bündnis an England

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/324>, abgerufen am 03.07.2024.