Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Europa und England

Was aber damit gemeint war, hat mit unübertrefflicher Klarheit der inzwischen
vorbereitete und ausgeführte Überfall in Südafrika gezeigt, denn hier erklärte
England jeglichen friedlichen Weg, der nicht zu der gewünschten Unterwerfung
der beiden Republiken führte, für ungangbar. Dieser Punkt 1 also war für
England von Haus aus inhaltslos. Den Punkt 2, der die Revision der
Gebräuche im Landkriege betrifft, nahm England an und änderte zugleich
seine alten, wenig humanen Gebräuche im Kriege gegen die Buren durchaus
nicht; dieser Punkt bleibt also auch nur auf dem Papier. Von den vier
übrigen, auf Milderung der Gebräuche im Land- und Seekrieg zielenden Punkten
nahm England einen, aber nicht bedingungslos wie die beiden ersten, sondern
nur unter Vorbehalt und drei gar nicht an. Hiernach ist doch wohl als
Summe zu ziehn, daß England von irgend welcher Normierung im Gebrauch
von Kriegsmitteln, von internationaler Vereinbarung auf den? Gebiete des
Krieges nichts wissen will. .Am wenigsten wird es sich je ohne Zwang herbei¬
lassen, dem von deutscher Seite geäußerten Wunsche nach völkerrechtlicher
Regelung im Seekriege entgegenzukommen. Englands Interessen stimmen längst
nicht mehr genng mit den Interessen der kontinentalen Staaten Europas
überein. daß Europa es für seine innre Ordnung zu Rate ziehen könnte. Es
steht längst außerhalb Europas, und man wird immer einer Täuschung aus¬
gesetzt sein, wenn man fortfährt, England als europäische Großmacht zu be¬
handeln. Es giebt fünf Großmächte in Europa, wenn man die asiatische
Weltmacht Rußland einrechnet, und es giebt zwei außereuropäische Weltmächte:
Großbritannien und die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die ihre eignen,
von Europa wenig abhängigen Wege gehn.

England hat lange mit großer Thatkraft und Klugheit an seiner Unab¬
hängigkeit von Europa gearbeitet. In drei Jahrhunderten hat es sich zur
Weltmacht erhoben, planvoll, zähe, kühn, hart seine Ziele verfolgend. Wenn
^ sich heute mit unverständigen und vielleicht gefährlichem Hochmut seiner
großen Stellung bewußt ist, so hat es immerhin mehr Grund zum Stolz als
die meisten andern Völker. Und wenn es eben jetzt an der Arbeit ist, mit
Mißachtung der Meinung und Empfindung der übrigen Kulturwelt, aber mit
Anstrengung aller Kraft und mit rücksichtsloser Energie den Schlußstein für sein
Weltreich zurecht zu meißeln, so weiß es, daß es sich von Europa losgelöst
hat und zwischen der alten und der neuen Welt seine eigne Welt bildet.

Sein Hauptwachstum füllt in die Zeit seit der zweiten Revolution. Und
es ist beachtenswert, daß seit eben derselben Zeit an die Stelle der alten
monarchischen, gerade in der äußern Politik besonders dominierenden Regierung
des Königs die noch heute geltende Regierung eines nicht mehr bloß vom
Könige, sondern vorwiegend von dem Parlament abhängigen Kabinetts ge¬
treten ist. Indem die beiden großen, aus den bürgerlichen Kämpfen des sieb¬
zehnten Jahrhunderts hervorgetretnen Parteien Wilhelm III. auf den Thron
setzten und sich durch Gesetz (die bill ok rignts) den Einfluß auf die Staats¬
geschäfte sicherten, stärkten sie eine aristokratische Herrschaft, die unter Georg III.


Europa und England

Was aber damit gemeint war, hat mit unübertrefflicher Klarheit der inzwischen
vorbereitete und ausgeführte Überfall in Südafrika gezeigt, denn hier erklärte
England jeglichen friedlichen Weg, der nicht zu der gewünschten Unterwerfung
der beiden Republiken führte, für ungangbar. Dieser Punkt 1 also war für
England von Haus aus inhaltslos. Den Punkt 2, der die Revision der
Gebräuche im Landkriege betrifft, nahm England an und änderte zugleich
seine alten, wenig humanen Gebräuche im Kriege gegen die Buren durchaus
nicht; dieser Punkt bleibt also auch nur auf dem Papier. Von den vier
übrigen, auf Milderung der Gebräuche im Land- und Seekrieg zielenden Punkten
nahm England einen, aber nicht bedingungslos wie die beiden ersten, sondern
nur unter Vorbehalt und drei gar nicht an. Hiernach ist doch wohl als
Summe zu ziehn, daß England von irgend welcher Normierung im Gebrauch
von Kriegsmitteln, von internationaler Vereinbarung auf den? Gebiete des
Krieges nichts wissen will. .Am wenigsten wird es sich je ohne Zwang herbei¬
lassen, dem von deutscher Seite geäußerten Wunsche nach völkerrechtlicher
Regelung im Seekriege entgegenzukommen. Englands Interessen stimmen längst
nicht mehr genng mit den Interessen der kontinentalen Staaten Europas
überein. daß Europa es für seine innre Ordnung zu Rate ziehen könnte. Es
steht längst außerhalb Europas, und man wird immer einer Täuschung aus¬
gesetzt sein, wenn man fortfährt, England als europäische Großmacht zu be¬
handeln. Es giebt fünf Großmächte in Europa, wenn man die asiatische
Weltmacht Rußland einrechnet, und es giebt zwei außereuropäische Weltmächte:
Großbritannien und die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die ihre eignen,
von Europa wenig abhängigen Wege gehn.

England hat lange mit großer Thatkraft und Klugheit an seiner Unab¬
hängigkeit von Europa gearbeitet. In drei Jahrhunderten hat es sich zur
Weltmacht erhoben, planvoll, zähe, kühn, hart seine Ziele verfolgend. Wenn
^ sich heute mit unverständigen und vielleicht gefährlichem Hochmut seiner
großen Stellung bewußt ist, so hat es immerhin mehr Grund zum Stolz als
die meisten andern Völker. Und wenn es eben jetzt an der Arbeit ist, mit
Mißachtung der Meinung und Empfindung der übrigen Kulturwelt, aber mit
Anstrengung aller Kraft und mit rücksichtsloser Energie den Schlußstein für sein
Weltreich zurecht zu meißeln, so weiß es, daß es sich von Europa losgelöst
hat und zwischen der alten und der neuen Welt seine eigne Welt bildet.

Sein Hauptwachstum füllt in die Zeit seit der zweiten Revolution. Und
es ist beachtenswert, daß seit eben derselben Zeit an die Stelle der alten
monarchischen, gerade in der äußern Politik besonders dominierenden Regierung
des Königs die noch heute geltende Regierung eines nicht mehr bloß vom
Könige, sondern vorwiegend von dem Parlament abhängigen Kabinetts ge¬
treten ist. Indem die beiden großen, aus den bürgerlichen Kämpfen des sieb¬
zehnten Jahrhunderts hervorgetretnen Parteien Wilhelm III. auf den Thron
setzten und sich durch Gesetz (die bill ok rignts) den Einfluß auf die Staats¬
geschäfte sicherten, stärkten sie eine aristokratische Herrschaft, die unter Georg III.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0323" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290734"/>
          <fw type="header" place="top"> Europa und England</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1204" prev="#ID_1203"> Was aber damit gemeint war, hat mit unübertrefflicher Klarheit der inzwischen<lb/>
vorbereitete und ausgeführte Überfall in Südafrika gezeigt, denn hier erklärte<lb/>
England jeglichen friedlichen Weg, der nicht zu der gewünschten Unterwerfung<lb/>
der beiden Republiken führte, für ungangbar. Dieser Punkt 1 also war für<lb/>
England von Haus aus inhaltslos. Den Punkt 2, der die Revision der<lb/>
Gebräuche im Landkriege betrifft, nahm England an und änderte zugleich<lb/>
seine alten, wenig humanen Gebräuche im Kriege gegen die Buren durchaus<lb/>
nicht; dieser Punkt bleibt also auch nur auf dem Papier. Von den vier<lb/>
übrigen, auf Milderung der Gebräuche im Land- und Seekrieg zielenden Punkten<lb/>
nahm England einen, aber nicht bedingungslos wie die beiden ersten, sondern<lb/>
nur unter Vorbehalt und drei gar nicht an. Hiernach ist doch wohl als<lb/>
Summe zu ziehn, daß England von irgend welcher Normierung im Gebrauch<lb/>
von Kriegsmitteln, von internationaler Vereinbarung auf den? Gebiete des<lb/>
Krieges nichts wissen will. .Am wenigsten wird es sich je ohne Zwang herbei¬<lb/>
lassen, dem von deutscher Seite geäußerten Wunsche nach völkerrechtlicher<lb/>
Regelung im Seekriege entgegenzukommen. Englands Interessen stimmen längst<lb/>
nicht mehr genng mit den Interessen der kontinentalen Staaten Europas<lb/>
überein. daß Europa es für seine innre Ordnung zu Rate ziehen könnte. Es<lb/>
steht längst außerhalb Europas, und man wird immer einer Täuschung aus¬<lb/>
gesetzt sein, wenn man fortfährt, England als europäische Großmacht zu be¬<lb/>
handeln. Es giebt fünf Großmächte in Europa, wenn man die asiatische<lb/>
Weltmacht Rußland einrechnet, und es giebt zwei außereuropäische Weltmächte:<lb/>
Großbritannien und die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die ihre eignen,<lb/>
von Europa wenig abhängigen Wege gehn.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1205"> England hat lange mit großer Thatkraft und Klugheit an seiner Unab¬<lb/>
hängigkeit von Europa gearbeitet. In drei Jahrhunderten hat es sich zur<lb/>
Weltmacht erhoben, planvoll, zähe, kühn, hart seine Ziele verfolgend. Wenn<lb/>
^ sich heute mit unverständigen und vielleicht gefährlichem Hochmut seiner<lb/>
großen Stellung bewußt ist, so hat es immerhin mehr Grund zum Stolz als<lb/>
die meisten andern Völker. Und wenn es eben jetzt an der Arbeit ist, mit<lb/>
Mißachtung der Meinung und Empfindung der übrigen Kulturwelt, aber mit<lb/>
Anstrengung aller Kraft und mit rücksichtsloser Energie den Schlußstein für sein<lb/>
Weltreich zurecht zu meißeln, so weiß es, daß es sich von Europa losgelöst<lb/>
hat und zwischen der alten und der neuen Welt seine eigne Welt bildet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1206" next="#ID_1207"> Sein Hauptwachstum füllt in die Zeit seit der zweiten Revolution. Und<lb/>
es ist beachtenswert, daß seit eben derselben Zeit an die Stelle der alten<lb/>
monarchischen, gerade in der äußern Politik besonders dominierenden Regierung<lb/>
des Königs die noch heute geltende Regierung eines nicht mehr bloß vom<lb/>
Könige, sondern vorwiegend von dem Parlament abhängigen Kabinetts ge¬<lb/>
treten ist. Indem die beiden großen, aus den bürgerlichen Kämpfen des sieb¬<lb/>
zehnten Jahrhunderts hervorgetretnen Parteien Wilhelm III. auf den Thron<lb/>
setzten und sich durch Gesetz (die bill ok rignts) den Einfluß auf die Staats¬<lb/>
geschäfte sicherten, stärkten sie eine aristokratische Herrschaft, die unter Georg III.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0323] Europa und England Was aber damit gemeint war, hat mit unübertrefflicher Klarheit der inzwischen vorbereitete und ausgeführte Überfall in Südafrika gezeigt, denn hier erklärte England jeglichen friedlichen Weg, der nicht zu der gewünschten Unterwerfung der beiden Republiken führte, für ungangbar. Dieser Punkt 1 also war für England von Haus aus inhaltslos. Den Punkt 2, der die Revision der Gebräuche im Landkriege betrifft, nahm England an und änderte zugleich seine alten, wenig humanen Gebräuche im Kriege gegen die Buren durchaus nicht; dieser Punkt bleibt also auch nur auf dem Papier. Von den vier übrigen, auf Milderung der Gebräuche im Land- und Seekrieg zielenden Punkten nahm England einen, aber nicht bedingungslos wie die beiden ersten, sondern nur unter Vorbehalt und drei gar nicht an. Hiernach ist doch wohl als Summe zu ziehn, daß England von irgend welcher Normierung im Gebrauch von Kriegsmitteln, von internationaler Vereinbarung auf den? Gebiete des Krieges nichts wissen will. .Am wenigsten wird es sich je ohne Zwang herbei¬ lassen, dem von deutscher Seite geäußerten Wunsche nach völkerrechtlicher Regelung im Seekriege entgegenzukommen. Englands Interessen stimmen längst nicht mehr genng mit den Interessen der kontinentalen Staaten Europas überein. daß Europa es für seine innre Ordnung zu Rate ziehen könnte. Es steht längst außerhalb Europas, und man wird immer einer Täuschung aus¬ gesetzt sein, wenn man fortfährt, England als europäische Großmacht zu be¬ handeln. Es giebt fünf Großmächte in Europa, wenn man die asiatische Weltmacht Rußland einrechnet, und es giebt zwei außereuropäische Weltmächte: Großbritannien und die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die ihre eignen, von Europa wenig abhängigen Wege gehn. England hat lange mit großer Thatkraft und Klugheit an seiner Unab¬ hängigkeit von Europa gearbeitet. In drei Jahrhunderten hat es sich zur Weltmacht erhoben, planvoll, zähe, kühn, hart seine Ziele verfolgend. Wenn ^ sich heute mit unverständigen und vielleicht gefährlichem Hochmut seiner großen Stellung bewußt ist, so hat es immerhin mehr Grund zum Stolz als die meisten andern Völker. Und wenn es eben jetzt an der Arbeit ist, mit Mißachtung der Meinung und Empfindung der übrigen Kulturwelt, aber mit Anstrengung aller Kraft und mit rücksichtsloser Energie den Schlußstein für sein Weltreich zurecht zu meißeln, so weiß es, daß es sich von Europa losgelöst hat und zwischen der alten und der neuen Welt seine eigne Welt bildet. Sein Hauptwachstum füllt in die Zeit seit der zweiten Revolution. Und es ist beachtenswert, daß seit eben derselben Zeit an die Stelle der alten monarchischen, gerade in der äußern Politik besonders dominierenden Regierung des Königs die noch heute geltende Regierung eines nicht mehr bloß vom Könige, sondern vorwiegend von dem Parlament abhängigen Kabinetts ge¬ treten ist. Indem die beiden großen, aus den bürgerlichen Kämpfen des sieb¬ zehnten Jahrhunderts hervorgetretnen Parteien Wilhelm III. auf den Thron setzten und sich durch Gesetz (die bill ok rignts) den Einfluß auf die Staats¬ geschäfte sicherten, stärkten sie eine aristokratische Herrschaft, die unter Georg III.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/323
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/323>, abgerufen am 03.07.2024.