Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lhamberlcnns Religion?- und Rassenxhilosoxhie

Pforte klopft, empfunden" (S. 374). Der neuern, alles umkehrenden Bibel¬
kritik folgend glaubt er, daß das Verbot der Vermischung mit andern Völkern
erst gegeben worden sei, nachdem das Unheil schon geschehen war, von Esra
und seinen Nachfolgern. Von da ab erst sei der eigentliche Jude, der unduld¬
same, entstanden; erst in der letzten Zeit vor dem Exil und nach der Rückkehr
sei das Volk von der Wahnvorstellung besessen worden, daß es allein im Besitz
der Wahrheit und des einen wahren Gottes und berufen sei, alle andern
Völker teils zu beherrschen, teils auszurotten. Die bekannte Rechtfertigung
des Ausrottnngsgebots, das nach der Bibel schon Moses erlassen hat, macht
Chamberlain zu nichte, indem er den Völkern Kanaans einen unschuldigen,
freundlichen und friedlichen Naturdienst zuschreibt; von Moloch und Astarte,
die doch auch von nichtbiblischen Autoren einigermaßen bezeugt sind, weiß er
nichts. Über den Charakter des nach dem Exil entstehenden Pharisüismus
und Talmudismus sind ja alle Christen mit Chamberlain einverstanden; aber
dieser bringt nicht bloß die eben genannten beiden Formen des spätjüdischen
Geisteslebens, sondern das ganze Prophetentum in Gegensatz zum Christentum
und versichert, er begreife nicht, wie irgend ein Mensch, sich einbilden könne,
daß dieses aus jenem, als seine Blüte, hervorgegangen sei. Mit den jüdischen
Propheten habe der "arische" Jesus rein gar nichts zu schaffen. Er sei die
verkörperte Religion, die Juden aber hätten gar keine Religion und hätten nie
eine gehabt, sondern nur Moral, Gesetz, blinden Glauben, Fetischismus; nicht
einmal der große Jesajas und der noch größere Deuterojesajas seien religiöse
Genies. Religion sei das dnrch innere Erfahrung gewonnene Bewußtsein der
Einheit mit Gott, also Mystik. Aus dieser innern Erfahrung würden Über¬
zeugungen von dem Wesen Gottes, der Welt und des Menschen geschöpft, die
die Volksphantasie in Mythen kleide; im Mittelpunkt dieser Mythologie
stünden die Ideen der Sünde und Erlösung, wobei die Sünde als ein kosmisch-
metaphysischer Vorgang, als Erbsünde, die Erlösung als innere Wiedergeburt
verstanden werde. All das finde sich bei den indischen Denkern, in der arischen
Mythologie und in der Lehre Jesu, von alle dem aber hätten die Juden nie
etwas gewußt. Die tiefsinnigen Mythen hätten sie zu vermeintlichen geschicht¬
lichen Thatsachen vergröbert und aus der Mythologie eine Chronik gemacht;
sie und überhaupt die Semiten hätten keine Mythologie, keine Mystik, keine
Metaphysik; ihre sogenannte Religion sei nichts als ein Herrendienst um Lohn;
sie hätten mit dem Gott, der sich in ihrer Geschichte bezeugt habe, einen Ver¬
trag geschlossen, nach dem sie für vertragstreues Handeln belohnt, für Vertrags¬
bruch bestraft würden, und dergleichen sei eben nicht Religion.

Chamberlains Charakteristik der Juden weicht von der gewöhnlichen, wie
zu erwarten war, nur darin ab, daß sie in der Form geistreicher ist und mit
seiner philosophischen Grundansicht in Verbindung gesetzt wird; das Haupt¬
gewicht legt er darauf, daß im Semiten der Wille ungemein stark und auf
Kosten der übrigen Geistesfähigkeiten einseitig ausgebildet, und daß der semit
ganz und gar dem Diesseits, dem weltlichen Interesse zugewandt sei. Ein


Lhamberlcnns Religion?- und Rassenxhilosoxhie

Pforte klopft, empfunden" (S. 374). Der neuern, alles umkehrenden Bibel¬
kritik folgend glaubt er, daß das Verbot der Vermischung mit andern Völkern
erst gegeben worden sei, nachdem das Unheil schon geschehen war, von Esra
und seinen Nachfolgern. Von da ab erst sei der eigentliche Jude, der unduld¬
same, entstanden; erst in der letzten Zeit vor dem Exil und nach der Rückkehr
sei das Volk von der Wahnvorstellung besessen worden, daß es allein im Besitz
der Wahrheit und des einen wahren Gottes und berufen sei, alle andern
Völker teils zu beherrschen, teils auszurotten. Die bekannte Rechtfertigung
des Ausrottnngsgebots, das nach der Bibel schon Moses erlassen hat, macht
Chamberlain zu nichte, indem er den Völkern Kanaans einen unschuldigen,
freundlichen und friedlichen Naturdienst zuschreibt; von Moloch und Astarte,
die doch auch von nichtbiblischen Autoren einigermaßen bezeugt sind, weiß er
nichts. Über den Charakter des nach dem Exil entstehenden Pharisüismus
und Talmudismus sind ja alle Christen mit Chamberlain einverstanden; aber
dieser bringt nicht bloß die eben genannten beiden Formen des spätjüdischen
Geisteslebens, sondern das ganze Prophetentum in Gegensatz zum Christentum
und versichert, er begreife nicht, wie irgend ein Mensch, sich einbilden könne,
daß dieses aus jenem, als seine Blüte, hervorgegangen sei. Mit den jüdischen
Propheten habe der „arische" Jesus rein gar nichts zu schaffen. Er sei die
verkörperte Religion, die Juden aber hätten gar keine Religion und hätten nie
eine gehabt, sondern nur Moral, Gesetz, blinden Glauben, Fetischismus; nicht
einmal der große Jesajas und der noch größere Deuterojesajas seien religiöse
Genies. Religion sei das dnrch innere Erfahrung gewonnene Bewußtsein der
Einheit mit Gott, also Mystik. Aus dieser innern Erfahrung würden Über¬
zeugungen von dem Wesen Gottes, der Welt und des Menschen geschöpft, die
die Volksphantasie in Mythen kleide; im Mittelpunkt dieser Mythologie
stünden die Ideen der Sünde und Erlösung, wobei die Sünde als ein kosmisch-
metaphysischer Vorgang, als Erbsünde, die Erlösung als innere Wiedergeburt
verstanden werde. All das finde sich bei den indischen Denkern, in der arischen
Mythologie und in der Lehre Jesu, von alle dem aber hätten die Juden nie
etwas gewußt. Die tiefsinnigen Mythen hätten sie zu vermeintlichen geschicht¬
lichen Thatsachen vergröbert und aus der Mythologie eine Chronik gemacht;
sie und überhaupt die Semiten hätten keine Mythologie, keine Mystik, keine
Metaphysik; ihre sogenannte Religion sei nichts als ein Herrendienst um Lohn;
sie hätten mit dem Gott, der sich in ihrer Geschichte bezeugt habe, einen Ver¬
trag geschlossen, nach dem sie für vertragstreues Handeln belohnt, für Vertrags¬
bruch bestraft würden, und dergleichen sei eben nicht Religion.

Chamberlains Charakteristik der Juden weicht von der gewöhnlichen, wie
zu erwarten war, nur darin ab, daß sie in der Form geistreicher ist und mit
seiner philosophischen Grundansicht in Verbindung gesetzt wird; das Haupt¬
gewicht legt er darauf, daß im Semiten der Wille ungemein stark und auf
Kosten der übrigen Geistesfähigkeiten einseitig ausgebildet, und daß der semit
ganz und gar dem Diesseits, dem weltlichen Interesse zugewandt sei. Ein


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0032" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290443"/>
          <fw type="header" place="top"> Lhamberlcnns Religion?- und Rassenxhilosoxhie</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_69" prev="#ID_68"> Pforte klopft, empfunden" (S. 374). Der neuern, alles umkehrenden Bibel¬<lb/>
kritik folgend glaubt er, daß das Verbot der Vermischung mit andern Völkern<lb/>
erst gegeben worden sei, nachdem das Unheil schon geschehen war, von Esra<lb/>
und seinen Nachfolgern. Von da ab erst sei der eigentliche Jude, der unduld¬<lb/>
same, entstanden; erst in der letzten Zeit vor dem Exil und nach der Rückkehr<lb/>
sei das Volk von der Wahnvorstellung besessen worden, daß es allein im Besitz<lb/>
der Wahrheit und des einen wahren Gottes und berufen sei, alle andern<lb/>
Völker teils zu beherrschen, teils auszurotten. Die bekannte Rechtfertigung<lb/>
des Ausrottnngsgebots, das nach der Bibel schon Moses erlassen hat, macht<lb/>
Chamberlain zu nichte, indem er den Völkern Kanaans einen unschuldigen,<lb/>
freundlichen und friedlichen Naturdienst zuschreibt; von Moloch und Astarte,<lb/>
die doch auch von nichtbiblischen Autoren einigermaßen bezeugt sind, weiß er<lb/>
nichts. Über den Charakter des nach dem Exil entstehenden Pharisüismus<lb/>
und Talmudismus sind ja alle Christen mit Chamberlain einverstanden; aber<lb/>
dieser bringt nicht bloß die eben genannten beiden Formen des spätjüdischen<lb/>
Geisteslebens, sondern das ganze Prophetentum in Gegensatz zum Christentum<lb/>
und versichert, er begreife nicht, wie irgend ein Mensch, sich einbilden könne,<lb/>
daß dieses aus jenem, als seine Blüte, hervorgegangen sei. Mit den jüdischen<lb/>
Propheten habe der &#x201E;arische" Jesus rein gar nichts zu schaffen. Er sei die<lb/>
verkörperte Religion, die Juden aber hätten gar keine Religion und hätten nie<lb/>
eine gehabt, sondern nur Moral, Gesetz, blinden Glauben, Fetischismus; nicht<lb/>
einmal der große Jesajas und der noch größere Deuterojesajas seien religiöse<lb/>
Genies. Religion sei das dnrch innere Erfahrung gewonnene Bewußtsein der<lb/>
Einheit mit Gott, also Mystik. Aus dieser innern Erfahrung würden Über¬<lb/>
zeugungen von dem Wesen Gottes, der Welt und des Menschen geschöpft, die<lb/>
die Volksphantasie in Mythen kleide; im Mittelpunkt dieser Mythologie<lb/>
stünden die Ideen der Sünde und Erlösung, wobei die Sünde als ein kosmisch-<lb/>
metaphysischer Vorgang, als Erbsünde, die Erlösung als innere Wiedergeburt<lb/>
verstanden werde. All das finde sich bei den indischen Denkern, in der arischen<lb/>
Mythologie und in der Lehre Jesu, von alle dem aber hätten die Juden nie<lb/>
etwas gewußt. Die tiefsinnigen Mythen hätten sie zu vermeintlichen geschicht¬<lb/>
lichen Thatsachen vergröbert und aus der Mythologie eine Chronik gemacht;<lb/>
sie und überhaupt die Semiten hätten keine Mythologie, keine Mystik, keine<lb/>
Metaphysik; ihre sogenannte Religion sei nichts als ein Herrendienst um Lohn;<lb/>
sie hätten mit dem Gott, der sich in ihrer Geschichte bezeugt habe, einen Ver¬<lb/>
trag geschlossen, nach dem sie für vertragstreues Handeln belohnt, für Vertrags¬<lb/>
bruch bestraft würden, und dergleichen sei eben nicht Religion.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_70" next="#ID_71"> Chamberlains Charakteristik der Juden weicht von der gewöhnlichen, wie<lb/>
zu erwarten war, nur darin ab, daß sie in der Form geistreicher ist und mit<lb/>
seiner philosophischen Grundansicht in Verbindung gesetzt wird; das Haupt¬<lb/>
gewicht legt er darauf, daß im Semiten der Wille ungemein stark und auf<lb/>
Kosten der übrigen Geistesfähigkeiten einseitig ausgebildet, und daß der semit<lb/>
ganz und gar dem Diesseits, dem weltlichen Interesse zugewandt sei. Ein</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0032] Lhamberlcnns Religion?- und Rassenxhilosoxhie Pforte klopft, empfunden" (S. 374). Der neuern, alles umkehrenden Bibel¬ kritik folgend glaubt er, daß das Verbot der Vermischung mit andern Völkern erst gegeben worden sei, nachdem das Unheil schon geschehen war, von Esra und seinen Nachfolgern. Von da ab erst sei der eigentliche Jude, der unduld¬ same, entstanden; erst in der letzten Zeit vor dem Exil und nach der Rückkehr sei das Volk von der Wahnvorstellung besessen worden, daß es allein im Besitz der Wahrheit und des einen wahren Gottes und berufen sei, alle andern Völker teils zu beherrschen, teils auszurotten. Die bekannte Rechtfertigung des Ausrottnngsgebots, das nach der Bibel schon Moses erlassen hat, macht Chamberlain zu nichte, indem er den Völkern Kanaans einen unschuldigen, freundlichen und friedlichen Naturdienst zuschreibt; von Moloch und Astarte, die doch auch von nichtbiblischen Autoren einigermaßen bezeugt sind, weiß er nichts. Über den Charakter des nach dem Exil entstehenden Pharisüismus und Talmudismus sind ja alle Christen mit Chamberlain einverstanden; aber dieser bringt nicht bloß die eben genannten beiden Formen des spätjüdischen Geisteslebens, sondern das ganze Prophetentum in Gegensatz zum Christentum und versichert, er begreife nicht, wie irgend ein Mensch, sich einbilden könne, daß dieses aus jenem, als seine Blüte, hervorgegangen sei. Mit den jüdischen Propheten habe der „arische" Jesus rein gar nichts zu schaffen. Er sei die verkörperte Religion, die Juden aber hätten gar keine Religion und hätten nie eine gehabt, sondern nur Moral, Gesetz, blinden Glauben, Fetischismus; nicht einmal der große Jesajas und der noch größere Deuterojesajas seien religiöse Genies. Religion sei das dnrch innere Erfahrung gewonnene Bewußtsein der Einheit mit Gott, also Mystik. Aus dieser innern Erfahrung würden Über¬ zeugungen von dem Wesen Gottes, der Welt und des Menschen geschöpft, die die Volksphantasie in Mythen kleide; im Mittelpunkt dieser Mythologie stünden die Ideen der Sünde und Erlösung, wobei die Sünde als ein kosmisch- metaphysischer Vorgang, als Erbsünde, die Erlösung als innere Wiedergeburt verstanden werde. All das finde sich bei den indischen Denkern, in der arischen Mythologie und in der Lehre Jesu, von alle dem aber hätten die Juden nie etwas gewußt. Die tiefsinnigen Mythen hätten sie zu vermeintlichen geschicht¬ lichen Thatsachen vergröbert und aus der Mythologie eine Chronik gemacht; sie und überhaupt die Semiten hätten keine Mythologie, keine Mystik, keine Metaphysik; ihre sogenannte Religion sei nichts als ein Herrendienst um Lohn; sie hätten mit dem Gott, der sich in ihrer Geschichte bezeugt habe, einen Ver¬ trag geschlossen, nach dem sie für vertragstreues Handeln belohnt, für Vertrags¬ bruch bestraft würden, und dergleichen sei eben nicht Religion. Chamberlains Charakteristik der Juden weicht von der gewöhnlichen, wie zu erwarten war, nur darin ab, daß sie in der Form geistreicher ist und mit seiner philosophischen Grundansicht in Verbindung gesetzt wird; das Haupt¬ gewicht legt er darauf, daß im Semiten der Wille ungemein stark und auf Kosten der übrigen Geistesfähigkeiten einseitig ausgebildet, und daß der semit ganz und gar dem Diesseits, dem weltlichen Interesse zugewandt sei. Ein

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/32
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/32>, abgerufen am 01.07.2024.