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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Erdboden

neulich riet eine große Zeitung (die Frankfurter vom 31. März 1900) dein
Landarbeiter, dem es schlecht geht, "dorthin abzuwandern, wo er erst ein
Mensch würde -- in die Stadt, ins Industriezentrum."

Diese abstrakten Sozialpolitiker und besonders die Philosophen der Finanz
und der Goldwährung sind unheimlich wie Hegel; man versteht sie nicht oder
mißversteht sie, und wenn man ihren wolkenhohen Abstraktionen andächtig zu¬
hören will, muß oft der Glaube die Vernunft ersetzen. Aber man staunt sie
um, wie man Hegel anstaunte -- eben wegen ihrer UnVerständlichkeit, und so
finden sie Anhänger und werden praktisch wirksam. Denn die große Menge
läßt sich gern durch Zahlen leiten. Es wird zum wirtschaftlichen Ideal, den
Erdboden bis zum höchsten Maß und bis in die letzte Scholle hin auszunutzen.
Ein solcher Zustand aber kann wohl das Ergebnis harter Notwendigkeit, aber
gewiß nicht ein an sich wünschenswertes Ziel sein. Den Ertrag des Erdbodens
aufs höchste zu steigern darf und soll der Einzelne, der Lnndmcmn anstreben.
Aber vom Gesichtspunkte des Volkswohls aus sind Zustände wie in Belgien
oder in England nicht wünschenswert, trotz allen Reichtums. Die von den
Geldphilosophen so gepriesene "Landenge," die den Landarbeiter zum Fabrik¬
arbeiter machen soll, bedeutet für ein Volk den Mangel an dem nötigsten, an
der Notdurft. Übervölkerung heißt auch bei dem größten Reichtum jedesmal
Massenelend und wird trotz sozialer Reformen und sozialistischer Revolutionen
jedesmal Massenelend bedeuten, wenn nicht heute, so morgen. Eine Handels¬
stockung, ein Krieg, und der industriell-kommerzielle Bau kracht in allen Fugen,
Tausende von Menschenleben geraten in Gefahr. Landenge ist Übervölkerung.
Das natürlich-gesunde Streben des Landvolks geht nicht in die Stadt. Die
Söhne verlassen den väterlichen Hof am liebsten, um einen eignen Hof zu
gründen, der Ackerknecht spart, um ein Stück Land zu kaufen. Wo das fehlt,
da ist das Wachstum des Volks in der Wurzel gehemmt. Die heutige Ent¬
völkerung des platten Landes zu Gunsten der Städte ist eine Erscheinung, die
vorübergehn wird. Sobald die Aufnahmefähigkeit der fremden Märkte nach¬
läßt, oder sobald unser Handel durch einen Krieg bedroht werden wird, muß
der industrielle Verdienst stocken und ein Teil der Arbeitermenge zum Landbau
zurückkehren. Aber diese Beweglichkeit des Sandmanns dient so wenig wie
die heutige Wanderarbeit zur Erhaltung eines gesunden Volkscharakters. Auf
der Stufe unsrer gegenwärtigen Kultur bedürfen wir zum gefunden Fortschreiten
nicht der Landenge, sondern der Erweiterung unsrer Landesgrenzen. Aber wie
man den Erdboden mobilisiert, so auch den Landmann, den Ackerbauer. Und
wo, wie in Ostelbien, die Landwirtschaft durch diese Mobilisierung des Acker¬
knechts in eine schwierige Lage gerät, da denkt man zu helfen, indem man
auch dort die Industrie vermehrt. Das ist homöopathische Heilmethode in der
Volkswirtschaft, ein fragwürdiges Unternehmen. Niemals wird die Industrie
oder das Geld den sittlichen Wert des Erdbodens für den Volkscharakter er¬
setzen. Und dieser Wert schwindet, je weiter sich das industriell-kommerzielle
Nomadcntum ausbreitet. Nicht darauf kommt es an, dein Arbeiter die vor-


Erdboden

neulich riet eine große Zeitung (die Frankfurter vom 31. März 1900) dein
Landarbeiter, dem es schlecht geht, „dorthin abzuwandern, wo er erst ein
Mensch würde — in die Stadt, ins Industriezentrum."

Diese abstrakten Sozialpolitiker und besonders die Philosophen der Finanz
und der Goldwährung sind unheimlich wie Hegel; man versteht sie nicht oder
mißversteht sie, und wenn man ihren wolkenhohen Abstraktionen andächtig zu¬
hören will, muß oft der Glaube die Vernunft ersetzen. Aber man staunt sie
um, wie man Hegel anstaunte — eben wegen ihrer UnVerständlichkeit, und so
finden sie Anhänger und werden praktisch wirksam. Denn die große Menge
läßt sich gern durch Zahlen leiten. Es wird zum wirtschaftlichen Ideal, den
Erdboden bis zum höchsten Maß und bis in die letzte Scholle hin auszunutzen.
Ein solcher Zustand aber kann wohl das Ergebnis harter Notwendigkeit, aber
gewiß nicht ein an sich wünschenswertes Ziel sein. Den Ertrag des Erdbodens
aufs höchste zu steigern darf und soll der Einzelne, der Lnndmcmn anstreben.
Aber vom Gesichtspunkte des Volkswohls aus sind Zustände wie in Belgien
oder in England nicht wünschenswert, trotz allen Reichtums. Die von den
Geldphilosophen so gepriesene „Landenge," die den Landarbeiter zum Fabrik¬
arbeiter machen soll, bedeutet für ein Volk den Mangel an dem nötigsten, an
der Notdurft. Übervölkerung heißt auch bei dem größten Reichtum jedesmal
Massenelend und wird trotz sozialer Reformen und sozialistischer Revolutionen
jedesmal Massenelend bedeuten, wenn nicht heute, so morgen. Eine Handels¬
stockung, ein Krieg, und der industriell-kommerzielle Bau kracht in allen Fugen,
Tausende von Menschenleben geraten in Gefahr. Landenge ist Übervölkerung.
Das natürlich-gesunde Streben des Landvolks geht nicht in die Stadt. Die
Söhne verlassen den väterlichen Hof am liebsten, um einen eignen Hof zu
gründen, der Ackerknecht spart, um ein Stück Land zu kaufen. Wo das fehlt,
da ist das Wachstum des Volks in der Wurzel gehemmt. Die heutige Ent¬
völkerung des platten Landes zu Gunsten der Städte ist eine Erscheinung, die
vorübergehn wird. Sobald die Aufnahmefähigkeit der fremden Märkte nach¬
läßt, oder sobald unser Handel durch einen Krieg bedroht werden wird, muß
der industrielle Verdienst stocken und ein Teil der Arbeitermenge zum Landbau
zurückkehren. Aber diese Beweglichkeit des Sandmanns dient so wenig wie
die heutige Wanderarbeit zur Erhaltung eines gesunden Volkscharakters. Auf
der Stufe unsrer gegenwärtigen Kultur bedürfen wir zum gefunden Fortschreiten
nicht der Landenge, sondern der Erweiterung unsrer Landesgrenzen. Aber wie
man den Erdboden mobilisiert, so auch den Landmann, den Ackerbauer. Und
wo, wie in Ostelbien, die Landwirtschaft durch diese Mobilisierung des Acker¬
knechts in eine schwierige Lage gerät, da denkt man zu helfen, indem man
auch dort die Industrie vermehrt. Das ist homöopathische Heilmethode in der
Volkswirtschaft, ein fragwürdiges Unternehmen. Niemals wird die Industrie
oder das Geld den sittlichen Wert des Erdbodens für den Volkscharakter er¬
setzen. Und dieser Wert schwindet, je weiter sich das industriell-kommerzielle
Nomadcntum ausbreitet. Nicht darauf kommt es an, dein Arbeiter die vor-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/278>, abgerufen am 03.07.2024.