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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Eine Gntlassungsrede

Dem heutigen Bewohner Ägyptens sind die Tempel und Pyramiden der Pha¬
raonen lediglich Gegenstände der Neugierde für Fremde, also Gelegenheit zu
eignem Verdienst, innere Beziehungen zu ihnen hat er nicht, er weiß kaum,
daß er vielleicht selbst von dem Volke abstammt, das sie einst geschaffen hat,
und die syrischen Araber sehen in den erhabnen Trümmern von Palmyra und
Heliopolis nur Schlupfwinkel für schweifende Beduinen. Auch auf altgriechischen
Boden ist die Erkenntnis, daß die antike Vergangenheit die des eignen Volks
ist, mehr das Erzeugnis der neugriechischen Renaissance, so gut wie die heutige
Sprache der Gebildeten, der Zeitungen und der Litteratur, als einer unmittel¬
baren, fortwirkenden Tradition, denn allzu tief und breit ist der Strom der
Barbarei und der Verwüstungsgreuel gewesen, der über dieses arme Land
hinweggegangen ist. Über das Mittelalter zum Altertum führt hier kaum eine
Brücke.

Unter diesen Umständen ist es kein Wunder, wenn unsre Philologen der
alten Schule die antiken Autoren, mit denen sie sich Zeit ihres Lebens be¬
schäftigten, als Erzeugnisse einer nntergegnngnen Kultur betrachteten, die ihnen
zwar schlechthin als klassisch erschien, aber von der Gegenwart durch eine un¬
überbrückbare Kluft getrennt und von der Erdoberfläche spurlos verschwunden
war. Selbst in ihren Kommentaren tritt diese Auffassung unwillkürlich hervor.
Da kann man lesen: Die Ortygia war eine Insel, die Arethusa war eine
Quelle in Syrakus, die Via Appia war mit großen Lavasteinen gepflastert.
Nein, die Ortygia liegt heute noch so unbeweglich fest, wie vor Jahrtausenden,
als die ersten griechischen Ansiedler an ihrem Felsengestade landeten, und trägt
noch heute die Altstadt von Syrakus, die Arethusa sprudelt noch heute, und
die antiken Lavasteine liegen noch heute auf der Via Appia. Denn Italien
hat allerdings einen Vorzug vor Griechenland: hier ist die Kette der Zeiten
niemals abgerissen, das Altertum hat hier niemals aufgehört lebendig zu sein,
die Barbarei hat hier niemals so vollständig gesiegt wie im Osten. Könige
aus gotischem, langobardischem, normännischen, deutschen und spanischem
Stamme haben hier geboten, aber als einheimische Herrscher kraft des Landes¬
recht^ der heutige italienische Adel ist größtenteils germanischen, im Süden
wohl auch spanischen Bluts, auf Sizilien haben Griechen, Punier und Araber
gesessen, aber alle diese fremden Beimischungen sind aufgesogen worden, und
Italien ist auch im Mittelalter ein Land alter und hoher Kultur und dem
ganzen übrigen christlichen Westen überlegen geblieben.

Dieser ununterbrochne Zusammenhang der Zeiten tritt überall hervor.
Die Stadtanlagen sind die antiken, oft hoch oben auf steilem Felsplateau, wie
es im grauen Altertum die alles beherrschende Rücksicht auf die Sicherheit er¬
forderte, möglichst uubeauem für den modernen Verkehr; und diese Städte be¬
herrschen noch heute politisch, administrativ und wirtschaftlich das platte Land,
wie im Altertum; es giebt noch im heutigen Italien ebenso wenig selbständige
Dorfgemeinden wie damals, und der Adel ist städtisch, nicht feudal. Söhne
der vornehmsten Geschlechter halten es deshalb für eine Ehre, städtische Ämter


Eine Gntlassungsrede

Dem heutigen Bewohner Ägyptens sind die Tempel und Pyramiden der Pha¬
raonen lediglich Gegenstände der Neugierde für Fremde, also Gelegenheit zu
eignem Verdienst, innere Beziehungen zu ihnen hat er nicht, er weiß kaum,
daß er vielleicht selbst von dem Volke abstammt, das sie einst geschaffen hat,
und die syrischen Araber sehen in den erhabnen Trümmern von Palmyra und
Heliopolis nur Schlupfwinkel für schweifende Beduinen. Auch auf altgriechischen
Boden ist die Erkenntnis, daß die antike Vergangenheit die des eignen Volks
ist, mehr das Erzeugnis der neugriechischen Renaissance, so gut wie die heutige
Sprache der Gebildeten, der Zeitungen und der Litteratur, als einer unmittel¬
baren, fortwirkenden Tradition, denn allzu tief und breit ist der Strom der
Barbarei und der Verwüstungsgreuel gewesen, der über dieses arme Land
hinweggegangen ist. Über das Mittelalter zum Altertum führt hier kaum eine
Brücke.

Unter diesen Umständen ist es kein Wunder, wenn unsre Philologen der
alten Schule die antiken Autoren, mit denen sie sich Zeit ihres Lebens be¬
schäftigten, als Erzeugnisse einer nntergegnngnen Kultur betrachteten, die ihnen
zwar schlechthin als klassisch erschien, aber von der Gegenwart durch eine un¬
überbrückbare Kluft getrennt und von der Erdoberfläche spurlos verschwunden
war. Selbst in ihren Kommentaren tritt diese Auffassung unwillkürlich hervor.
Da kann man lesen: Die Ortygia war eine Insel, die Arethusa war eine
Quelle in Syrakus, die Via Appia war mit großen Lavasteinen gepflastert.
Nein, die Ortygia liegt heute noch so unbeweglich fest, wie vor Jahrtausenden,
als die ersten griechischen Ansiedler an ihrem Felsengestade landeten, und trägt
noch heute die Altstadt von Syrakus, die Arethusa sprudelt noch heute, und
die antiken Lavasteine liegen noch heute auf der Via Appia. Denn Italien
hat allerdings einen Vorzug vor Griechenland: hier ist die Kette der Zeiten
niemals abgerissen, das Altertum hat hier niemals aufgehört lebendig zu sein,
die Barbarei hat hier niemals so vollständig gesiegt wie im Osten. Könige
aus gotischem, langobardischem, normännischen, deutschen und spanischem
Stamme haben hier geboten, aber als einheimische Herrscher kraft des Landes¬
recht^ der heutige italienische Adel ist größtenteils germanischen, im Süden
wohl auch spanischen Bluts, auf Sizilien haben Griechen, Punier und Araber
gesessen, aber alle diese fremden Beimischungen sind aufgesogen worden, und
Italien ist auch im Mittelalter ein Land alter und hoher Kultur und dem
ganzen übrigen christlichen Westen überlegen geblieben.

Dieser ununterbrochne Zusammenhang der Zeiten tritt überall hervor.
Die Stadtanlagen sind die antiken, oft hoch oben auf steilem Felsplateau, wie
es im grauen Altertum die alles beherrschende Rücksicht auf die Sicherheit er¬
forderte, möglichst uubeauem für den modernen Verkehr; und diese Städte be¬
herrschen noch heute politisch, administrativ und wirtschaftlich das platte Land,
wie im Altertum; es giebt noch im heutigen Italien ebenso wenig selbständige
Dorfgemeinden wie damals, und der Adel ist städtisch, nicht feudal. Söhne
der vornehmsten Geschlechter halten es deshalb für eine Ehre, städtische Ämter


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[0027] Eine Gntlassungsrede Dem heutigen Bewohner Ägyptens sind die Tempel und Pyramiden der Pha¬ raonen lediglich Gegenstände der Neugierde für Fremde, also Gelegenheit zu eignem Verdienst, innere Beziehungen zu ihnen hat er nicht, er weiß kaum, daß er vielleicht selbst von dem Volke abstammt, das sie einst geschaffen hat, und die syrischen Araber sehen in den erhabnen Trümmern von Palmyra und Heliopolis nur Schlupfwinkel für schweifende Beduinen. Auch auf altgriechischen Boden ist die Erkenntnis, daß die antike Vergangenheit die des eignen Volks ist, mehr das Erzeugnis der neugriechischen Renaissance, so gut wie die heutige Sprache der Gebildeten, der Zeitungen und der Litteratur, als einer unmittel¬ baren, fortwirkenden Tradition, denn allzu tief und breit ist der Strom der Barbarei und der Verwüstungsgreuel gewesen, der über dieses arme Land hinweggegangen ist. Über das Mittelalter zum Altertum führt hier kaum eine Brücke. Unter diesen Umständen ist es kein Wunder, wenn unsre Philologen der alten Schule die antiken Autoren, mit denen sie sich Zeit ihres Lebens be¬ schäftigten, als Erzeugnisse einer nntergegnngnen Kultur betrachteten, die ihnen zwar schlechthin als klassisch erschien, aber von der Gegenwart durch eine un¬ überbrückbare Kluft getrennt und von der Erdoberfläche spurlos verschwunden war. Selbst in ihren Kommentaren tritt diese Auffassung unwillkürlich hervor. Da kann man lesen: Die Ortygia war eine Insel, die Arethusa war eine Quelle in Syrakus, die Via Appia war mit großen Lavasteinen gepflastert. Nein, die Ortygia liegt heute noch so unbeweglich fest, wie vor Jahrtausenden, als die ersten griechischen Ansiedler an ihrem Felsengestade landeten, und trägt noch heute die Altstadt von Syrakus, die Arethusa sprudelt noch heute, und die antiken Lavasteine liegen noch heute auf der Via Appia. Denn Italien hat allerdings einen Vorzug vor Griechenland: hier ist die Kette der Zeiten niemals abgerissen, das Altertum hat hier niemals aufgehört lebendig zu sein, die Barbarei hat hier niemals so vollständig gesiegt wie im Osten. Könige aus gotischem, langobardischem, normännischen, deutschen und spanischem Stamme haben hier geboten, aber als einheimische Herrscher kraft des Landes¬ recht^ der heutige italienische Adel ist größtenteils germanischen, im Süden wohl auch spanischen Bluts, auf Sizilien haben Griechen, Punier und Araber gesessen, aber alle diese fremden Beimischungen sind aufgesogen worden, und Italien ist auch im Mittelalter ein Land alter und hoher Kultur und dem ganzen übrigen christlichen Westen überlegen geblieben. Dieser ununterbrochne Zusammenhang der Zeiten tritt überall hervor. Die Stadtanlagen sind die antiken, oft hoch oben auf steilem Felsplateau, wie es im grauen Altertum die alles beherrschende Rücksicht auf die Sicherheit er¬ forderte, möglichst uubeauem für den modernen Verkehr; und diese Städte be¬ herrschen noch heute politisch, administrativ und wirtschaftlich das platte Land, wie im Altertum; es giebt noch im heutigen Italien ebenso wenig selbständige Dorfgemeinden wie damals, und der Adel ist städtisch, nicht feudal. Söhne der vornehmsten Geschlechter halten es deshalb für eine Ehre, städtische Ämter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/27>, abgerufen am 01.07.2024.