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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Gine Lntlassungsrede

Theophrast in seinen "Charakteren" schildert. Die geistige Lebendigkeit, der
Sinn für die schöne Form, die liebenswürdige Höflichkeit, die hohe Intelligenz,
die sich allerdings auch in der Neigung zeigt, den Fremden, der die Leute nicht
zu nehmen weiß, zu übervorteilen, der scharfe, klare Realismus, das Bedürfnis,
die eigne Persönlichkeit unbefangen in den Vordergrund zu stellen, die Genüg¬
samkeit im materiellen Lebensgenuß, die Gewohnheit, halb auf der Straße zu
arbeiten und zu leben, der Trieb zu geräuschvollem Verkehr, sie sind die alten
geblieben, und wer davon etwas zu sehen versteht, dem treten die Figuren der
antiken Komiker und Satiriker noch heute überall entgegen. Und auch wer das
nicht versteht, der wird wenigstens in Gefäßen und Geräten vielfach dieselben
Formen gewahren, die er soeben in einem Museum betrachtet hat, und er kann
die Gestalt der athenischen Kanephoren bei jeder schlanken Bäuerin des Sabiner-
gebirgs wiederfinden, die hoch aufgerichtet den kupfernen Wasserkrug von ganz
antiker Form auf dem Kopfe nach Hanse trägt. Vollends in den Straßen
Pompejis kann es nicht viel anders ausgesehen haben als jetzt in den ältern
Teilen des heutigen Neapels: es sind dieselben engen, mit großen Lavablöcken
gepflasterten Gassen, die zahllosen offnen Läden und Schenken, die rauschenden
Brunnen wie dort, und wir glauben jeden Augenblick dort Menschen zu be¬
gegnen wie den heutigen. Endlich die Sprachen der klassischen Völker sind gar
nicht ausgestorben, sondern sie haben sich nur umgewandelt in das Neu¬
griechische und das Italienische; ja diese stehn den antiken Sprachen näher,
als unser Neuhochdeutsch dem Althochdeutschen, ohne daß wir modernen
Deutschen doch deshalb zugeben würden, daß wir nicht die Nachkommen der
Stämme seien, die Otto der Große vor tausend Jahren zum deutschen Reiche
zusammenschweißte, und die vor neunzehnhundert Jahren Arminins gegen die
Römer führte.

Solche Erfahrungen werden in uns nicht nur die Wahrnehmung hervor¬
rufen, daß in uns selbst dadurch die antike Welt lebendig wird, weil wir sie
noch vor uns sehen, sondern auch die nicht minder wertvolle Erkenntnis,
daß sie noch heute im Bewußtsein dieser Völker lebt, daß sie nichts Todes,
sondern etwas durch alle Zeiten bis zur Gegenwart Fortwirkendes ist und ge¬
wesen ist.

Für uns Nordländer ist diese Beobachtung zunächst etwas Neues, Be¬
fremdliches. Was wir bei uns in den Rheinlanden von antiken Bauresten, in
unsern Museen von Werken der antiken Kunst sehen, das hängt weder mit unserm
Volkstum, noch mit unsrer Kultur innerlich zusammen, das ist in der That
etwas Fremdes, von Fremden für Fremde geschaffen, und die römische oder
romanisierte Bevölkerung unsrer Rhein- und Donauländer ist spurlos ver¬
schwunden. Auch im größten Teile des jetzt mohammedanischen Orients hat sich
zwischen die antike Vergangenheit und die Gegenwart ein fremdes Volkstum
und eine fremde Kultur geschoben, die mit dem Altertum keinen Zusammenhang
haben, seine Denkmäler niemals nachgeahmt, seine Überlieferungen nur ganz
vereinzelt und vorübergehend als Bildungselement in sich aufgenommen haben.


Gine Lntlassungsrede

Theophrast in seinen „Charakteren" schildert. Die geistige Lebendigkeit, der
Sinn für die schöne Form, die liebenswürdige Höflichkeit, die hohe Intelligenz,
die sich allerdings auch in der Neigung zeigt, den Fremden, der die Leute nicht
zu nehmen weiß, zu übervorteilen, der scharfe, klare Realismus, das Bedürfnis,
die eigne Persönlichkeit unbefangen in den Vordergrund zu stellen, die Genüg¬
samkeit im materiellen Lebensgenuß, die Gewohnheit, halb auf der Straße zu
arbeiten und zu leben, der Trieb zu geräuschvollem Verkehr, sie sind die alten
geblieben, und wer davon etwas zu sehen versteht, dem treten die Figuren der
antiken Komiker und Satiriker noch heute überall entgegen. Und auch wer das
nicht versteht, der wird wenigstens in Gefäßen und Geräten vielfach dieselben
Formen gewahren, die er soeben in einem Museum betrachtet hat, und er kann
die Gestalt der athenischen Kanephoren bei jeder schlanken Bäuerin des Sabiner-
gebirgs wiederfinden, die hoch aufgerichtet den kupfernen Wasserkrug von ganz
antiker Form auf dem Kopfe nach Hanse trägt. Vollends in den Straßen
Pompejis kann es nicht viel anders ausgesehen haben als jetzt in den ältern
Teilen des heutigen Neapels: es sind dieselben engen, mit großen Lavablöcken
gepflasterten Gassen, die zahllosen offnen Läden und Schenken, die rauschenden
Brunnen wie dort, und wir glauben jeden Augenblick dort Menschen zu be¬
gegnen wie den heutigen. Endlich die Sprachen der klassischen Völker sind gar
nicht ausgestorben, sondern sie haben sich nur umgewandelt in das Neu¬
griechische und das Italienische; ja diese stehn den antiken Sprachen näher,
als unser Neuhochdeutsch dem Althochdeutschen, ohne daß wir modernen
Deutschen doch deshalb zugeben würden, daß wir nicht die Nachkommen der
Stämme seien, die Otto der Große vor tausend Jahren zum deutschen Reiche
zusammenschweißte, und die vor neunzehnhundert Jahren Arminins gegen die
Römer führte.

Solche Erfahrungen werden in uns nicht nur die Wahrnehmung hervor¬
rufen, daß in uns selbst dadurch die antike Welt lebendig wird, weil wir sie
noch vor uns sehen, sondern auch die nicht minder wertvolle Erkenntnis,
daß sie noch heute im Bewußtsein dieser Völker lebt, daß sie nichts Todes,
sondern etwas durch alle Zeiten bis zur Gegenwart Fortwirkendes ist und ge¬
wesen ist.

Für uns Nordländer ist diese Beobachtung zunächst etwas Neues, Be¬
fremdliches. Was wir bei uns in den Rheinlanden von antiken Bauresten, in
unsern Museen von Werken der antiken Kunst sehen, das hängt weder mit unserm
Volkstum, noch mit unsrer Kultur innerlich zusammen, das ist in der That
etwas Fremdes, von Fremden für Fremde geschaffen, und die römische oder
romanisierte Bevölkerung unsrer Rhein- und Donauländer ist spurlos ver¬
schwunden. Auch im größten Teile des jetzt mohammedanischen Orients hat sich
zwischen die antike Vergangenheit und die Gegenwart ein fremdes Volkstum
und eine fremde Kultur geschoben, die mit dem Altertum keinen Zusammenhang
haben, seine Denkmäler niemals nachgeahmt, seine Überlieferungen nur ganz
vereinzelt und vorübergehend als Bildungselement in sich aufgenommen haben.


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[0026] Gine Lntlassungsrede Theophrast in seinen „Charakteren" schildert. Die geistige Lebendigkeit, der Sinn für die schöne Form, die liebenswürdige Höflichkeit, die hohe Intelligenz, die sich allerdings auch in der Neigung zeigt, den Fremden, der die Leute nicht zu nehmen weiß, zu übervorteilen, der scharfe, klare Realismus, das Bedürfnis, die eigne Persönlichkeit unbefangen in den Vordergrund zu stellen, die Genüg¬ samkeit im materiellen Lebensgenuß, die Gewohnheit, halb auf der Straße zu arbeiten und zu leben, der Trieb zu geräuschvollem Verkehr, sie sind die alten geblieben, und wer davon etwas zu sehen versteht, dem treten die Figuren der antiken Komiker und Satiriker noch heute überall entgegen. Und auch wer das nicht versteht, der wird wenigstens in Gefäßen und Geräten vielfach dieselben Formen gewahren, die er soeben in einem Museum betrachtet hat, und er kann die Gestalt der athenischen Kanephoren bei jeder schlanken Bäuerin des Sabiner- gebirgs wiederfinden, die hoch aufgerichtet den kupfernen Wasserkrug von ganz antiker Form auf dem Kopfe nach Hanse trägt. Vollends in den Straßen Pompejis kann es nicht viel anders ausgesehen haben als jetzt in den ältern Teilen des heutigen Neapels: es sind dieselben engen, mit großen Lavablöcken gepflasterten Gassen, die zahllosen offnen Läden und Schenken, die rauschenden Brunnen wie dort, und wir glauben jeden Augenblick dort Menschen zu be¬ gegnen wie den heutigen. Endlich die Sprachen der klassischen Völker sind gar nicht ausgestorben, sondern sie haben sich nur umgewandelt in das Neu¬ griechische und das Italienische; ja diese stehn den antiken Sprachen näher, als unser Neuhochdeutsch dem Althochdeutschen, ohne daß wir modernen Deutschen doch deshalb zugeben würden, daß wir nicht die Nachkommen der Stämme seien, die Otto der Große vor tausend Jahren zum deutschen Reiche zusammenschweißte, und die vor neunzehnhundert Jahren Arminins gegen die Römer führte. Solche Erfahrungen werden in uns nicht nur die Wahrnehmung hervor¬ rufen, daß in uns selbst dadurch die antike Welt lebendig wird, weil wir sie noch vor uns sehen, sondern auch die nicht minder wertvolle Erkenntnis, daß sie noch heute im Bewußtsein dieser Völker lebt, daß sie nichts Todes, sondern etwas durch alle Zeiten bis zur Gegenwart Fortwirkendes ist und ge¬ wesen ist. Für uns Nordländer ist diese Beobachtung zunächst etwas Neues, Be¬ fremdliches. Was wir bei uns in den Rheinlanden von antiken Bauresten, in unsern Museen von Werken der antiken Kunst sehen, das hängt weder mit unserm Volkstum, noch mit unsrer Kultur innerlich zusammen, das ist in der That etwas Fremdes, von Fremden für Fremde geschaffen, und die römische oder romanisierte Bevölkerung unsrer Rhein- und Donauländer ist spurlos ver¬ schwunden. Auch im größten Teile des jetzt mohammedanischen Orients hat sich zwischen die antike Vergangenheit und die Gegenwart ein fremdes Volkstum und eine fremde Kultur geschoben, die mit dem Altertum keinen Zusammenhang haben, seine Denkmäler niemals nachgeahmt, seine Überlieferungen nur ganz vereinzelt und vorübergehend als Bildungselement in sich aufgenommen haben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/26>, abgerufen am 01.07.2024.