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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Schulreform in Sicht?

statte als unsre Gymnasien, und nicht Griechen und Römer und Republikaner
erziehen wir schon jetzt, sondern monarchisch gesinnte Deutsche, Daß die Re¬
formschule besseres oder auch nur dasselbe leisten könne, das soll sie uns erst
noch durch die That beweisen. Man hat den Gymnasien gelegentlich auch
vorgeworfen, sie hätten der Regierung keine Hilfe geleistet gegen die Sozial¬
demokratie. Direkt haben sie das allerdings nicht gethan, denn es liegt jen¬
seits der Aufgabe der Schule, in den politischen Tagesstreit einzugreifen; thut
sie das, so ruiniert sie sich. Aber indirekt haben sie es gethan, wenn sie ihre
Jugend zu Kvnigstreue und Vaterlandsliebe erzogen, und das erstreben sie
wenigstens und haben es erstrebt.

Wenn man den klassischen Unterricht fallen laßt oder soweit beschränkt, daß
er wertlos wird, dann muß man Ersatz suchen in Gegenständen, die vielleicht
für das "praktische Leben", für den "Kampf ums Dasein" besser Schulen. Fran¬
zösische und englische Litteratur und Sprache werden die Stelle des Lateinischen
und Griechischen einnehmen, als fertige Franzosen und Engländer werden unsre
Abiturienten das Gymnasium verlassen, vermutlich auch als höchst moderne
Leute, für die Shakespeare und die französischen Klassiker des siebzehnten Jahr¬
hunderts gerade so gut überwundue Standpunkte sein werden, wie Sophokles
und Horaz, und sie werden draußen in der Welt vortrefflich fortkommen, viel
Geld verdienen und ihren Ruhm darin suchen, schleunigst Franzosen, Engländer
oder Amerikaner zu werden. Sie werden auch in der Mathematik und in den
Naturwissenschaften mehr wissen, sich also rascher in diesen Fächern zurecht
finden. Nun bieten gerade diese Wissenschaften als allgemeine Bildungsmittel
keinen Ersatz für die Geisteswissenschaften, so wenig sie fehlen dürfen, denn
während diese alle Kräfte der menschlichen Seele, Verstand, Phantasie und
Gemüt gleichmäßig in Anspruch nehmen und entwickeln, richten sich die exakten
Wissenschaften ganz und gar auf den Verstand, nur wenig auf die Phantasie
und gar nicht auf das Gemüt; sie wirken also höchst einseitig, führen leicht zu
einer allzu großen Überschätzung des verstandesmäßig Erfaßbaren, zur Unter¬
schätzung dessen, was nur mit dem Gemüt ergriffen werden kann, der "Im¬
ponderabilien" des Völker- und des Einzellebens, sind demnach nicht geeignet,
die vorwiegende Grundlage der allgemeinen höhern Bildung zu sein. Von einer
Schulreform, die sich in dieser Richtung entwickeln soll, sehen wir daher eine
geistige Verarmung und Verobcrflächlichung unsers deutschen Lebens voraus.

Soll nun etwa alles beim alten bleiben? Bis zu einem gewissen Grade
allerdings, nämlich insofern, als wir zwar noch eine Verstärkung des klassischen
Elements nach der Seite der bildenden Kunst hin wünschen, aber jede weitere
"Konzession" an die modernen Fächer innerhalb der Gymnasien schlechterdings
verwerfen, also auch die sogenannte Einheitsschule, die kein Ideal ist, sondern
ein Hirngespinst, und insofern als wir das Gymnasium als ein organisches Ganze
mit einheitlichen Lehrzielen erhalten und nicht in ein Ober- und Untergym¬
nasium zerschneiden wollen zu Gunsten eines "Abschlusses" in der Mitte, der doch
keiner ist. Aber gerade deshalb sind wir dafür, den Realgymnasien und Ober¬
realschulen jede mögliche Erweiterung ihrer Rechte zu gewähren. Daß sich


Schulreform in Sicht?

statte als unsre Gymnasien, und nicht Griechen und Römer und Republikaner
erziehen wir schon jetzt, sondern monarchisch gesinnte Deutsche, Daß die Re¬
formschule besseres oder auch nur dasselbe leisten könne, das soll sie uns erst
noch durch die That beweisen. Man hat den Gymnasien gelegentlich auch
vorgeworfen, sie hätten der Regierung keine Hilfe geleistet gegen die Sozial¬
demokratie. Direkt haben sie das allerdings nicht gethan, denn es liegt jen¬
seits der Aufgabe der Schule, in den politischen Tagesstreit einzugreifen; thut
sie das, so ruiniert sie sich. Aber indirekt haben sie es gethan, wenn sie ihre
Jugend zu Kvnigstreue und Vaterlandsliebe erzogen, und das erstreben sie
wenigstens und haben es erstrebt.

Wenn man den klassischen Unterricht fallen laßt oder soweit beschränkt, daß
er wertlos wird, dann muß man Ersatz suchen in Gegenständen, die vielleicht
für das „praktische Leben", für den „Kampf ums Dasein" besser Schulen. Fran¬
zösische und englische Litteratur und Sprache werden die Stelle des Lateinischen
und Griechischen einnehmen, als fertige Franzosen und Engländer werden unsre
Abiturienten das Gymnasium verlassen, vermutlich auch als höchst moderne
Leute, für die Shakespeare und die französischen Klassiker des siebzehnten Jahr¬
hunderts gerade so gut überwundue Standpunkte sein werden, wie Sophokles
und Horaz, und sie werden draußen in der Welt vortrefflich fortkommen, viel
Geld verdienen und ihren Ruhm darin suchen, schleunigst Franzosen, Engländer
oder Amerikaner zu werden. Sie werden auch in der Mathematik und in den
Naturwissenschaften mehr wissen, sich also rascher in diesen Fächern zurecht
finden. Nun bieten gerade diese Wissenschaften als allgemeine Bildungsmittel
keinen Ersatz für die Geisteswissenschaften, so wenig sie fehlen dürfen, denn
während diese alle Kräfte der menschlichen Seele, Verstand, Phantasie und
Gemüt gleichmäßig in Anspruch nehmen und entwickeln, richten sich die exakten
Wissenschaften ganz und gar auf den Verstand, nur wenig auf die Phantasie
und gar nicht auf das Gemüt; sie wirken also höchst einseitig, führen leicht zu
einer allzu großen Überschätzung des verstandesmäßig Erfaßbaren, zur Unter¬
schätzung dessen, was nur mit dem Gemüt ergriffen werden kann, der „Im¬
ponderabilien" des Völker- und des Einzellebens, sind demnach nicht geeignet,
die vorwiegende Grundlage der allgemeinen höhern Bildung zu sein. Von einer
Schulreform, die sich in dieser Richtung entwickeln soll, sehen wir daher eine
geistige Verarmung und Verobcrflächlichung unsers deutschen Lebens voraus.

Soll nun etwa alles beim alten bleiben? Bis zu einem gewissen Grade
allerdings, nämlich insofern, als wir zwar noch eine Verstärkung des klassischen
Elements nach der Seite der bildenden Kunst hin wünschen, aber jede weitere
„Konzession" an die modernen Fächer innerhalb der Gymnasien schlechterdings
verwerfen, also auch die sogenannte Einheitsschule, die kein Ideal ist, sondern
ein Hirngespinst, und insofern als wir das Gymnasium als ein organisches Ganze
mit einheitlichen Lehrzielen erhalten und nicht in ein Ober- und Untergym¬
nasium zerschneiden wollen zu Gunsten eines „Abschlusses" in der Mitte, der doch
keiner ist. Aber gerade deshalb sind wir dafür, den Realgymnasien und Ober¬
realschulen jede mögliche Erweiterung ihrer Rechte zu gewähren. Daß sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/244>, abgerufen am 03.07.2024.