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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Schulreform in Sicht?

daraus eine weitere Überfüllung der gelehrten Berufe ergeben werde, glauben
wir nicht; eher wird die Frequenz der humanistischen Gymnasien zunächst etwas
zurückgehn, aber das ist kein Unglück. Das sogenannte Monopol hat den
humanistischen Gymnasien niemals etwas genutzt, sondern ihnen nur geschadet,
denn es hat sie gezwungen, ein Zugeständnis nach dem andern auf Kosten seiner
alten Hauptfächer zu machen, ohne doch seine Gegner zu befriedigen, und die
Verschiedenheit der Bildungswege ergiebt sich mit solcher Notwendigkeit aus
dein ganzen Entwicklungsgange der modernen Welt, daß wir uns alle mit ihr
abfinden müssen. Zurückschrauben läßt sich hier nichts mehr. Der einzig mögliche
gemeinsame Unterbau ist die Volksschule, und diesen haben wir längst. Man
möge deshalb auch ruhig kleine Gymnasien in kleinen Städten, wo die über¬
wiegende Mehrzahl der Schüler weder zu Hause sozusagen in gymnasialer Luft
lebt noch ein wirkliches Bedürfnis nach humanistischer Bildung hat, in lateiulose
Realschulen mit Progymnasialklassen verwandeln, und man gründe Realgym¬
nasien und Oberrealschulen soviel man will und kann, denn unsre gewaltige
wirtschaftliche Entwicklung fordert die Vermehrung der Gelegenheiten zu solcher
Vorbildung; aber man mache um Gottes willen nicht den Versuch, das "Frank¬
furter System" zu verallgemeinern, und man schneide denen, die eine huma¬
nistische Bildung nach der bisherigen Art erstreben, diesen Bildungsweg nicht
willkürlich ab; das wäre eine unerträgliche Intoleranz und eine weit schlimmere
Tyrannei, als das alte Gymnasialmonopol je gewesen ist. Die humanistische
Bildung kann nicht mehr allein herrschen, aber sie darf auch nicht aus unserm
Leben verschwinden.

Man sagt, der Kaiser sei der geplanten "Schulreform" günstig gestimmt,
"ut zwar, weil er auf dem Gymnasium in Kassel keine besonders guten Er¬
fahrungen mit der humanistischen Bildung gemacht habe. Das mag sein; darf
es doch auch mindestens bezweifelt werden, ob eine öffentliche Schule die ge¬
eignete Bildungsstätte für Prinzen, namentlich für Thronfolger ist. Aber er
wird eine vereinzelte Erfahrung nicht zum Anlaß nehmen wollen, das huma¬
nistische Gymnasium zu zerstören. Er hat doch auch hundertmal bewiesen, daß
er ernsten, offnen, begründeten Vorstellungen zugänglich ist. Und deshalb liegt
jetzt alles daran, daß nicht mir die Feinde, sondern auch die Freunde der
humanistischen Bildung zu Worte und zu Gehör kommen. Deshalb mögen
sich jetzt vor allem die Universitäten rühren. Oder wollen sie etwa auch hierin
dem Zentrum die Führung überlassen, das jetzt in der bayrischen Kammer für
das humanistische Gymnasium eingetreten ist, wie schon auf der Schulkonferenz
von 1890 der Fürstbischof Kopp von Breslau? Ein erbauliches Schauspiel:
si'r die humanistische Bildung kämpft das Zentrum und gegen die polizeiliche
Bevormundung der Kunst die Sozialdemokratie! Wo bleiben die "nationalen"
Parteien? Ist der Schutz des Nackten in der Kunst wichtiger als die Er¬
haltung des humanistischen Gymnasiums? Also "Burschen heraus!"


Otto Raemmel


Schulreform in Sicht?

daraus eine weitere Überfüllung der gelehrten Berufe ergeben werde, glauben
wir nicht; eher wird die Frequenz der humanistischen Gymnasien zunächst etwas
zurückgehn, aber das ist kein Unglück. Das sogenannte Monopol hat den
humanistischen Gymnasien niemals etwas genutzt, sondern ihnen nur geschadet,
denn es hat sie gezwungen, ein Zugeständnis nach dem andern auf Kosten seiner
alten Hauptfächer zu machen, ohne doch seine Gegner zu befriedigen, und die
Verschiedenheit der Bildungswege ergiebt sich mit solcher Notwendigkeit aus
dein ganzen Entwicklungsgange der modernen Welt, daß wir uns alle mit ihr
abfinden müssen. Zurückschrauben läßt sich hier nichts mehr. Der einzig mögliche
gemeinsame Unterbau ist die Volksschule, und diesen haben wir längst. Man
möge deshalb auch ruhig kleine Gymnasien in kleinen Städten, wo die über¬
wiegende Mehrzahl der Schüler weder zu Hause sozusagen in gymnasialer Luft
lebt noch ein wirkliches Bedürfnis nach humanistischer Bildung hat, in lateiulose
Realschulen mit Progymnasialklassen verwandeln, und man gründe Realgym¬
nasien und Oberrealschulen soviel man will und kann, denn unsre gewaltige
wirtschaftliche Entwicklung fordert die Vermehrung der Gelegenheiten zu solcher
Vorbildung; aber man mache um Gottes willen nicht den Versuch, das „Frank¬
furter System" zu verallgemeinern, und man schneide denen, die eine huma¬
nistische Bildung nach der bisherigen Art erstreben, diesen Bildungsweg nicht
willkürlich ab; das wäre eine unerträgliche Intoleranz und eine weit schlimmere
Tyrannei, als das alte Gymnasialmonopol je gewesen ist. Die humanistische
Bildung kann nicht mehr allein herrschen, aber sie darf auch nicht aus unserm
Leben verschwinden.

Man sagt, der Kaiser sei der geplanten „Schulreform" günstig gestimmt,
»ut zwar, weil er auf dem Gymnasium in Kassel keine besonders guten Er¬
fahrungen mit der humanistischen Bildung gemacht habe. Das mag sein; darf
es doch auch mindestens bezweifelt werden, ob eine öffentliche Schule die ge¬
eignete Bildungsstätte für Prinzen, namentlich für Thronfolger ist. Aber er
wird eine vereinzelte Erfahrung nicht zum Anlaß nehmen wollen, das huma¬
nistische Gymnasium zu zerstören. Er hat doch auch hundertmal bewiesen, daß
er ernsten, offnen, begründeten Vorstellungen zugänglich ist. Und deshalb liegt
jetzt alles daran, daß nicht mir die Feinde, sondern auch die Freunde der
humanistischen Bildung zu Worte und zu Gehör kommen. Deshalb mögen
sich jetzt vor allem die Universitäten rühren. Oder wollen sie etwa auch hierin
dem Zentrum die Führung überlassen, das jetzt in der bayrischen Kammer für
das humanistische Gymnasium eingetreten ist, wie schon auf der Schulkonferenz
von 1890 der Fürstbischof Kopp von Breslau? Ein erbauliches Schauspiel:
si'r die humanistische Bildung kämpft das Zentrum und gegen die polizeiliche
Bevormundung der Kunst die Sozialdemokratie! Wo bleiben die „nationalen"
Parteien? Ist der Schutz des Nackten in der Kunst wichtiger als die Er¬
haltung des humanistischen Gymnasiums? Also „Burschen heraus!"


Otto Raemmel


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/245>, abgerufen am 01.07.2024.