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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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kommen, nach dem Süden zu ziehn, und er mag es thun, sobald er kann,
aber nicht als Tourist, der die "Sehenswürdigkeiten" "abläuft," sondern als
ein wissenschaftlich gebildeter Mann, der ein inneres Verhältnis hat zu dem,
was er sieht und erlebt.

Der Wert dieser Anschauung besteht, kurz gesagt, darin, daß sie uns das
Altertum lebendig macht, einmal durch die unmittelbare Kenntnis der Länder
und Völker, die die Träger dieser Kultur gewesen sind, sodann durch die Er¬
kenntnis, daß das klassische Altertum in diesen Ländern heute noch fortlebt,
für sie selbst nichts Todes, sondern etwas Lebendes ist.

Ein guter Teil dessen, wovon wir im Gymnasium reden, ist ein Erzeugnis
fremder Völker auf fremdem Boden. Der Religionsunterricht führt die Schüler
nach Palästina, Ägypten, Mesopotamien, Kleinasien, die altphilologische Lektüre
nach Griechenland und Italien. Da ist es doch höchst wünschenswert, daß
der Lehrer wenigstens überhaupt einmal über die Grenzen des eignen Volks-
tums, des ganzen nordisch-germanischen .Kulturkreises hinausgekommen ist. Sonst
liegt die Gefahr nahe, entweder alles Fremde an dem Maßstabe des eignen
Volkstums zu messen, oder anch das Fremde in kritikloser Bewundrung zu
überschätzen. Wie lebendig wird dagegen alles, was aus einer auch fernen
Vergangenheit stammt, in dem Lande, wo sie sich abgespielt hat, unter dein
Volke, das auf demselben Boden, unter denselben natürlichen Bedingungen
lebt! Den Schauplatz können ja Karten und Bilder vergegenwärtigen, aber
die scharfe, farbenreiche Beleuchtung, den Gegensatz zwischen der brennenden
Sonne und dem kühlen Schatten, zwischen ödem kahlem Felsgestein und
üppigem Fruchtland, die Felsküsten mit ihren Vorgebirgen und Buchten und
Inseln am blauen Meer, das alles in seiner Gesamtwirkung kann kein Bild
wiedergeben. Und erst dann gewinnen die Dinge der alten Welt die volle
Farbe. Gerade so wie heute haben die Berge des Peloponnes und der saro-
nische Golf, die Schneeketten des Taygetos, der riesige Ätna und die Fels¬
boden von Syrakus, das Albaner- und Sabinergebirge ausgesehen, gerade so
strahlend brannte die Sonne und leuchteten Himmel und Meer, als Perikles
donnerte, und die Dramen des Sophokles über die Bühne gingen, als sich
die jungen Spartiaten auf den Ringplützen übten, als die Athener vor Syrakus
standen und Horaz die Via Appia zog. Und wie sinnlich anschaulich werden
hier die weißmühnigen Rosse Poseidons, die silberfüßige Thetis, die purpurne
Salzflut, die Grotten der Nymphen, die rosenfingrige Eos! Was uns als
ein schmückendes Beiwort, als ein poetisches Bild erschien, hier sehen wir es
in Wirklichkeit vor uns. Darum wurde für Goethe erst an der Küste Siziliens
Homer lebendig. Und wenn auch die Vaureste des Altertums uns aus
Bildern schon längst bekannt sind, es ist doch noch etwas andres, nun wirklich
vor den goldbraunem Säulen des Parthenons zu stehn,, durch die Trümmer¬
welt des Forums und der Kaiserpcilüste auf dem Palatin zu wandern, durch
die füllen und doch so lebensvollen Gassen von Pompeji und die engen Räume
seiner Häuser zu schreiten, von den Epipolä auf die Achradina und den großen


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kommen, nach dem Süden zu ziehn, und er mag es thun, sobald er kann,
aber nicht als Tourist, der die „Sehenswürdigkeiten" „abläuft," sondern als
ein wissenschaftlich gebildeter Mann, der ein inneres Verhältnis hat zu dem,
was er sieht und erlebt.

Der Wert dieser Anschauung besteht, kurz gesagt, darin, daß sie uns das
Altertum lebendig macht, einmal durch die unmittelbare Kenntnis der Länder
und Völker, die die Träger dieser Kultur gewesen sind, sodann durch die Er¬
kenntnis, daß das klassische Altertum in diesen Ländern heute noch fortlebt,
für sie selbst nichts Todes, sondern etwas Lebendes ist.

Ein guter Teil dessen, wovon wir im Gymnasium reden, ist ein Erzeugnis
fremder Völker auf fremdem Boden. Der Religionsunterricht führt die Schüler
nach Palästina, Ägypten, Mesopotamien, Kleinasien, die altphilologische Lektüre
nach Griechenland und Italien. Da ist es doch höchst wünschenswert, daß
der Lehrer wenigstens überhaupt einmal über die Grenzen des eignen Volks-
tums, des ganzen nordisch-germanischen .Kulturkreises hinausgekommen ist. Sonst
liegt die Gefahr nahe, entweder alles Fremde an dem Maßstabe des eignen
Volkstums zu messen, oder anch das Fremde in kritikloser Bewundrung zu
überschätzen. Wie lebendig wird dagegen alles, was aus einer auch fernen
Vergangenheit stammt, in dem Lande, wo sie sich abgespielt hat, unter dein
Volke, das auf demselben Boden, unter denselben natürlichen Bedingungen
lebt! Den Schauplatz können ja Karten und Bilder vergegenwärtigen, aber
die scharfe, farbenreiche Beleuchtung, den Gegensatz zwischen der brennenden
Sonne und dem kühlen Schatten, zwischen ödem kahlem Felsgestein und
üppigem Fruchtland, die Felsküsten mit ihren Vorgebirgen und Buchten und
Inseln am blauen Meer, das alles in seiner Gesamtwirkung kann kein Bild
wiedergeben. Und erst dann gewinnen die Dinge der alten Welt die volle
Farbe. Gerade so wie heute haben die Berge des Peloponnes und der saro-
nische Golf, die Schneeketten des Taygetos, der riesige Ätna und die Fels¬
boden von Syrakus, das Albaner- und Sabinergebirge ausgesehen, gerade so
strahlend brannte die Sonne und leuchteten Himmel und Meer, als Perikles
donnerte, und die Dramen des Sophokles über die Bühne gingen, als sich
die jungen Spartiaten auf den Ringplützen übten, als die Athener vor Syrakus
standen und Horaz die Via Appia zog. Und wie sinnlich anschaulich werden
hier die weißmühnigen Rosse Poseidons, die silberfüßige Thetis, die purpurne
Salzflut, die Grotten der Nymphen, die rosenfingrige Eos! Was uns als
ein schmückendes Beiwort, als ein poetisches Bild erschien, hier sehen wir es
in Wirklichkeit vor uns. Darum wurde für Goethe erst an der Küste Siziliens
Homer lebendig. Und wenn auch die Vaureste des Altertums uns aus
Bildern schon längst bekannt sind, es ist doch noch etwas andres, nun wirklich
vor den goldbraunem Säulen des Parthenons zu stehn,, durch die Trümmer¬
welt des Forums und der Kaiserpcilüste auf dem Palatin zu wandern, durch
die füllen und doch so lebensvollen Gassen von Pompeji und die engen Räume
seiner Häuser zu schreiten, von den Epipolä auf die Achradina und den großen


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[0024] Line Lntlassungsrede kommen, nach dem Süden zu ziehn, und er mag es thun, sobald er kann, aber nicht als Tourist, der die „Sehenswürdigkeiten" „abläuft," sondern als ein wissenschaftlich gebildeter Mann, der ein inneres Verhältnis hat zu dem, was er sieht und erlebt. Der Wert dieser Anschauung besteht, kurz gesagt, darin, daß sie uns das Altertum lebendig macht, einmal durch die unmittelbare Kenntnis der Länder und Völker, die die Träger dieser Kultur gewesen sind, sodann durch die Er¬ kenntnis, daß das klassische Altertum in diesen Ländern heute noch fortlebt, für sie selbst nichts Todes, sondern etwas Lebendes ist. Ein guter Teil dessen, wovon wir im Gymnasium reden, ist ein Erzeugnis fremder Völker auf fremdem Boden. Der Religionsunterricht führt die Schüler nach Palästina, Ägypten, Mesopotamien, Kleinasien, die altphilologische Lektüre nach Griechenland und Italien. Da ist es doch höchst wünschenswert, daß der Lehrer wenigstens überhaupt einmal über die Grenzen des eignen Volks- tums, des ganzen nordisch-germanischen .Kulturkreises hinausgekommen ist. Sonst liegt die Gefahr nahe, entweder alles Fremde an dem Maßstabe des eignen Volkstums zu messen, oder anch das Fremde in kritikloser Bewundrung zu überschätzen. Wie lebendig wird dagegen alles, was aus einer auch fernen Vergangenheit stammt, in dem Lande, wo sie sich abgespielt hat, unter dein Volke, das auf demselben Boden, unter denselben natürlichen Bedingungen lebt! Den Schauplatz können ja Karten und Bilder vergegenwärtigen, aber die scharfe, farbenreiche Beleuchtung, den Gegensatz zwischen der brennenden Sonne und dem kühlen Schatten, zwischen ödem kahlem Felsgestein und üppigem Fruchtland, die Felsküsten mit ihren Vorgebirgen und Buchten und Inseln am blauen Meer, das alles in seiner Gesamtwirkung kann kein Bild wiedergeben. Und erst dann gewinnen die Dinge der alten Welt die volle Farbe. Gerade so wie heute haben die Berge des Peloponnes und der saro- nische Golf, die Schneeketten des Taygetos, der riesige Ätna und die Fels¬ boden von Syrakus, das Albaner- und Sabinergebirge ausgesehen, gerade so strahlend brannte die Sonne und leuchteten Himmel und Meer, als Perikles donnerte, und die Dramen des Sophokles über die Bühne gingen, als sich die jungen Spartiaten auf den Ringplützen übten, als die Athener vor Syrakus standen und Horaz die Via Appia zog. Und wie sinnlich anschaulich werden hier die weißmühnigen Rosse Poseidons, die silberfüßige Thetis, die purpurne Salzflut, die Grotten der Nymphen, die rosenfingrige Eos! Was uns als ein schmückendes Beiwort, als ein poetisches Bild erschien, hier sehen wir es in Wirklichkeit vor uns. Darum wurde für Goethe erst an der Küste Siziliens Homer lebendig. Und wenn auch die Vaureste des Altertums uns aus Bildern schon längst bekannt sind, es ist doch noch etwas andres, nun wirklich vor den goldbraunem Säulen des Parthenons zu stehn,, durch die Trümmer¬ welt des Forums und der Kaiserpcilüste auf dem Palatin zu wandern, durch die füllen und doch so lebensvollen Gassen von Pompeji und die engen Räume seiner Häuser zu schreiten, von den Epipolä auf die Achradina und den großen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/24>, abgerufen am 01.07.2024.