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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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wesentlich verschoben. Früher war es die Beherrschung der lateinischen Welt¬
sprache, jetzt ist es die Orientierung in der Kultur der klassischen Völker, vor
allem durch die gründliche Einführung in eine Anzahl ihrer Originalschrift¬
werke; die Sprachen sind uns nur noch Mittel zum Zweck. Was Sie mit
dem, was Sie bei uns gelernt haben, später einmal machen, ob Sie später
die antiken Klassiker auch gar nicht mehr ansehen und die Formen der grie¬
chischen Bedingungssätze oder die Vorschriften der lateinischen Moduslehre
Ihnen etwas verblassen sollten, darauf kommt es nicht an, nnr darauf, daß
Sie den Überblick über diese Kultur und ihre Sprachen einmal gewonnen
haben, den Ihnen die Universität, weil sie mehr und mehr in Fachhochschulen
zerfallen ist, nicht bietet, daß Sie gelernt haben, wissenschaftliche Dinge wissen¬
schaftlich, d. h. gründlich und quellenmüßig anzusehen und anzufassen, daß Ihnen
das Altertum zu Ihrer eignen geistigen Jugendzeit geworden ist, in die Sie
auch als Männer gern zurückschauen werden.

Aber weil heute die Wirksamkeit des Gymnasiums darauf beruht, daß wir
Ihnen lebendig machen, was wir Ihnen bieten, daß wir in Ihnen die Über¬
zeugung von dem hohen Werte dieser Kultur erwecken, ohne die alle unsre
Arbeit vergeblich wäre, so muß auch in uns leben, was wir lehren. Das ist
heute leichter als ehemals, weil sich die Kenntnis des antiken Lebens außer¬
ordentlich vertieft und erweitert hat, es ist aber auch wieder schwerer, weil
auch andre Interessen übermächtig auf uns eindringen und eine Beschränkung
wie früher ganz unmöglich geworden ist. Eins der allerwichtigsten Mittel dazu
ist die eigne Anschauung der klassischen Länder. Nicht daß sie unbedingt er¬
forderlich wäre; es giebt Gott sei Dank genug treffliche Lehrer, die niemals
in Italien oder Griechenland gewesen sind und doch Herz und Phantasie genug
haben, lebendig zu machen, was sie lehren; aber daß sie sehr wünschenswert
ist, das haben auch die deutschen Regierungen anerkannt, indem sie seit 1891
alljährlich eine Anzahl Schulmänner nach Italien schicken, und ich freue mich,
daß unter den zweiundzwanzig Altphilologen und Theologen -- denn auch
diese kommen hier in Frage --, die unser Kollegium jetzt zählt, nicht weniger
als zehn, also fast die Hälfte, Italien oder Griechenland oder beides gesehen
haben. Daher soll man solche Reisen, auch wenn sie nicht unter der Leitung
des Kaiserlichen Archäologischen Instituts unternommen werden, von oben her
fördern, nicht erschweren, denn was etwa während dieser Wochen zu Hause
versäumt wird, das kommt reichlich wieder ein durch die Anregung und Er¬
frischung, die eine solche Reise bieten kann, wenn der Mann danach ist. Und
darum will ich heute sprechen über die Anschauung der klassischen Länder in
ihrem Werte für den klassischen Unterricht.

Vielleicht werden Sie fragen: Was geht das uns an, wie unsre Lehrer
sich für ihre Aufgabe vorbereiten? Ich denke, es geht Sie doch recht viel an,
sich einmal zu vergegenwärtigen, was auf Ihre Lehrer wirkt, und wie es wirkt,
und mancher von Ihnen, unter denen sich diesesmal drei für das Studium
der Philologie, sechs für Theologie entschieden haben, mag selbst in die Lage


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wesentlich verschoben. Früher war es die Beherrschung der lateinischen Welt¬
sprache, jetzt ist es die Orientierung in der Kultur der klassischen Völker, vor
allem durch die gründliche Einführung in eine Anzahl ihrer Originalschrift¬
werke; die Sprachen sind uns nur noch Mittel zum Zweck. Was Sie mit
dem, was Sie bei uns gelernt haben, später einmal machen, ob Sie später
die antiken Klassiker auch gar nicht mehr ansehen und die Formen der grie¬
chischen Bedingungssätze oder die Vorschriften der lateinischen Moduslehre
Ihnen etwas verblassen sollten, darauf kommt es nicht an, nnr darauf, daß
Sie den Überblick über diese Kultur und ihre Sprachen einmal gewonnen
haben, den Ihnen die Universität, weil sie mehr und mehr in Fachhochschulen
zerfallen ist, nicht bietet, daß Sie gelernt haben, wissenschaftliche Dinge wissen¬
schaftlich, d. h. gründlich und quellenmüßig anzusehen und anzufassen, daß Ihnen
das Altertum zu Ihrer eignen geistigen Jugendzeit geworden ist, in die Sie
auch als Männer gern zurückschauen werden.

Aber weil heute die Wirksamkeit des Gymnasiums darauf beruht, daß wir
Ihnen lebendig machen, was wir Ihnen bieten, daß wir in Ihnen die Über¬
zeugung von dem hohen Werte dieser Kultur erwecken, ohne die alle unsre
Arbeit vergeblich wäre, so muß auch in uns leben, was wir lehren. Das ist
heute leichter als ehemals, weil sich die Kenntnis des antiken Lebens außer¬
ordentlich vertieft und erweitert hat, es ist aber auch wieder schwerer, weil
auch andre Interessen übermächtig auf uns eindringen und eine Beschränkung
wie früher ganz unmöglich geworden ist. Eins der allerwichtigsten Mittel dazu
ist die eigne Anschauung der klassischen Länder. Nicht daß sie unbedingt er¬
forderlich wäre; es giebt Gott sei Dank genug treffliche Lehrer, die niemals
in Italien oder Griechenland gewesen sind und doch Herz und Phantasie genug
haben, lebendig zu machen, was sie lehren; aber daß sie sehr wünschenswert
ist, das haben auch die deutschen Regierungen anerkannt, indem sie seit 1891
alljährlich eine Anzahl Schulmänner nach Italien schicken, und ich freue mich,
daß unter den zweiundzwanzig Altphilologen und Theologen — denn auch
diese kommen hier in Frage —, die unser Kollegium jetzt zählt, nicht weniger
als zehn, also fast die Hälfte, Italien oder Griechenland oder beides gesehen
haben. Daher soll man solche Reisen, auch wenn sie nicht unter der Leitung
des Kaiserlichen Archäologischen Instituts unternommen werden, von oben her
fördern, nicht erschweren, denn was etwa während dieser Wochen zu Hause
versäumt wird, das kommt reichlich wieder ein durch die Anregung und Er¬
frischung, die eine solche Reise bieten kann, wenn der Mann danach ist. Und
darum will ich heute sprechen über die Anschauung der klassischen Länder in
ihrem Werte für den klassischen Unterricht.

Vielleicht werden Sie fragen: Was geht das uns an, wie unsre Lehrer
sich für ihre Aufgabe vorbereiten? Ich denke, es geht Sie doch recht viel an,
sich einmal zu vergegenwärtigen, was auf Ihre Lehrer wirkt, und wie es wirkt,
und mancher von Ihnen, unter denen sich diesesmal drei für das Studium
der Philologie, sechs für Theologie entschieden haben, mag selbst in die Lage


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[0023] «Line Lntlassungsrede wesentlich verschoben. Früher war es die Beherrschung der lateinischen Welt¬ sprache, jetzt ist es die Orientierung in der Kultur der klassischen Völker, vor allem durch die gründliche Einführung in eine Anzahl ihrer Originalschrift¬ werke; die Sprachen sind uns nur noch Mittel zum Zweck. Was Sie mit dem, was Sie bei uns gelernt haben, später einmal machen, ob Sie später die antiken Klassiker auch gar nicht mehr ansehen und die Formen der grie¬ chischen Bedingungssätze oder die Vorschriften der lateinischen Moduslehre Ihnen etwas verblassen sollten, darauf kommt es nicht an, nnr darauf, daß Sie den Überblick über diese Kultur und ihre Sprachen einmal gewonnen haben, den Ihnen die Universität, weil sie mehr und mehr in Fachhochschulen zerfallen ist, nicht bietet, daß Sie gelernt haben, wissenschaftliche Dinge wissen¬ schaftlich, d. h. gründlich und quellenmüßig anzusehen und anzufassen, daß Ihnen das Altertum zu Ihrer eignen geistigen Jugendzeit geworden ist, in die Sie auch als Männer gern zurückschauen werden. Aber weil heute die Wirksamkeit des Gymnasiums darauf beruht, daß wir Ihnen lebendig machen, was wir Ihnen bieten, daß wir in Ihnen die Über¬ zeugung von dem hohen Werte dieser Kultur erwecken, ohne die alle unsre Arbeit vergeblich wäre, so muß auch in uns leben, was wir lehren. Das ist heute leichter als ehemals, weil sich die Kenntnis des antiken Lebens außer¬ ordentlich vertieft und erweitert hat, es ist aber auch wieder schwerer, weil auch andre Interessen übermächtig auf uns eindringen und eine Beschränkung wie früher ganz unmöglich geworden ist. Eins der allerwichtigsten Mittel dazu ist die eigne Anschauung der klassischen Länder. Nicht daß sie unbedingt er¬ forderlich wäre; es giebt Gott sei Dank genug treffliche Lehrer, die niemals in Italien oder Griechenland gewesen sind und doch Herz und Phantasie genug haben, lebendig zu machen, was sie lehren; aber daß sie sehr wünschenswert ist, das haben auch die deutschen Regierungen anerkannt, indem sie seit 1891 alljährlich eine Anzahl Schulmänner nach Italien schicken, und ich freue mich, daß unter den zweiundzwanzig Altphilologen und Theologen — denn auch diese kommen hier in Frage —, die unser Kollegium jetzt zählt, nicht weniger als zehn, also fast die Hälfte, Italien oder Griechenland oder beides gesehen haben. Daher soll man solche Reisen, auch wenn sie nicht unter der Leitung des Kaiserlichen Archäologischen Instituts unternommen werden, von oben her fördern, nicht erschweren, denn was etwa während dieser Wochen zu Hause versäumt wird, das kommt reichlich wieder ein durch die Anregung und Er¬ frischung, die eine solche Reise bieten kann, wenn der Mann danach ist. Und darum will ich heute sprechen über die Anschauung der klassischen Länder in ihrem Werte für den klassischen Unterricht. Vielleicht werden Sie fragen: Was geht das uns an, wie unsre Lehrer sich für ihre Aufgabe vorbereiten? Ich denke, es geht Sie doch recht viel an, sich einmal zu vergegenwärtigen, was auf Ihre Lehrer wirkt, und wie es wirkt, und mancher von Ihnen, unter denen sich diesesmal drei für das Studium der Philologie, sechs für Theologie entschieden haben, mag selbst in die Lage

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/23>, abgerufen am 01.07.2024.