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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Wollen Sie wirklich die Leute, die dem Entwicklungsgang unsrer Kunst und Litte¬
ratur in den letzten Jahrzehnten aufmerksam gefolgt sind, überreden, daß da alles
in Ordnung sei? Wollen Sie mich glauben machen, daß es neben dem Wahrheits¬
und Wirklichkeitsdrange der Berufnen keine wüste, schamlose Spekulation auf die
schlechtesten Instinkte des Publikums gäbe? Daß es lediglich künstlerische Antriebe
wären, die uns mit Tovotes Dirnenromanen, mit Hermann Bcchrs tastenden Ge¬
lüsten nach einer neuen unerhörten Art des sinnlichen Genusses, mit pikanten
Büchern wie Frank Wedekinds "Fürstin Russalka" beglücken? Daß die wirkliche
Kunst, die keusche göttliche Nacktheit der Plastik und die pikant lüsterne Berechnung,
die Stück für Stück auszieht, Zoll für Zoll entblößt, ein und dasselbe wären? Sie
haben vorhin von der Schändlichkeit geredet, Kunst und Künstler in die Nachbar¬
schaft von gemeinen Ruchlosigkeiten, von Dirnen und Zuhältern zu bringen. Ja,
wer hat sich denn selbst dahingestellt, wer hat uns jahrelang, immerwährend auf
die Hintertreppen gedrängt, in Dirnen- und Zuhältertum, im moralischen oder viel¬
mehr unmoralischen Elend der Winkel und Dachkammern und Wenns hoch kam in
einem gewissen parfümierten Aussatz des Börsenspekulanten- und Protzentums die
Blüte alles Lebens angepriesen? Wer hat jeden Menschen, der ein Bedürfnis nach
reinerer Luft und edlern Gesinnungen verriet, bald einen kläglichen Philister und
bald einen dünkelvollen Pharisäer gescholten? Die Art Künstler, Poeten, Erzähler,
Sensationsdramatiker, die von echter Kunst und echtem künstlerischen Drang unge¬
fähr so weit entfernt sind, wie ein Eskimo, der nackt in seiner stinkiger Hütte sitzt,
vom Apoll von Belvedere. Und die stecken sich nun mit ungeheuerm Hallo hinter
die Standbilder großer Geister und großer Naturen, die sie alle die Jahre daher
nicht genug haben lästern und lächerlich machen können! Sehen Sie sich doch die
Zeitungen an, ob nicht gerade die den größten Lärm schlagen, die jeder sogenannten
geistreichen Gemeinheit das Wort geredet, jeder Verkommenheit, wenn sie nur den
Anstrich des Üppigen hatte, Vorschub geleistet haben. Ist es nicht so? Soll man
der fortgesetzten Verrohung und der noch schlimmern fortgesetzten Verwildrung mit
untergeschlagnen Armen zusehen?

Er schwieg eine Weile, und ich konnte hiergegen ja nichts sagen, sondern nur
mit den Schultern zucken. Es ist ja klar, fuhr er dann fort, die Voraussetzung, von
der die Protestierenden ausgehn, läuft auf einen Irrtum hinaus. Was berechtigt
denn die erregten Künstler und Schriftsteller, die sich zu Goethebünden zusammen¬
schließen, ohne weiteres anzunehmen, daß außerhalb ihrer Kreise im ganzen deutschen
Volke weder Bildung noch Kunstsinn vorhanden sei, und daß man mit plumper
Brutalität gegen jede Lebensdarstellung, die andre als lehrhafte und moralisierende
Zwecke verfolgt, einschreiten wird? Sind irgend welche Anzeichen dafür vorhanden,
daß man von obenher einer vandalischen Feindseligkeit gegen die Kunst front?
Und darf ohne weiteres der, der ein paar geile Auswüchse und widerwärtige
Schwämme am Stamm eines Baums beseitigen will, beschuldigt werden, er wolle
die Zweige im fröhlichsten Wuchs schinden oder gar den Stamm umhauen?

Hier kommen wir auf den Punkt, um den es sich handelt! rief ich. Was man
von oben her will oder nicht will, kommt gar nicht mehr in Betracht, sobald das
Gesetz gemacht ist. Ich war auch der Meinung, die Absicht des Gesetzgebers sei das
Maßgebende, und meinetwegen mag ja bei dieser Vorlage weder eine Heimtücke
noch eine Dummheit im Spiel gewesen sein, sondern man mag nur beabsichtigt
haben, solche Dinge zu treffen wie die, gegen die Sie predigen, und wegen deren
Verwerflichkeit wir ganz einig sind. Aber alle meine juristischen Freunde sind
darüber einig, die Anwälte wie die Richter, die vom Reichsgericht wie die vom
Landgericht, daß es bei Gesetzen gar nicht darauf ankommt, was sie wollen, sondern
wie sie lauten. Sie haben ja selbst davon geredet, welcher Unfug mit dem Groben-
nnfugparagraphen getrieben wird. Er wird behandelt wie ein Stück Kautschuk, das


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Wollen Sie wirklich die Leute, die dem Entwicklungsgang unsrer Kunst und Litte¬
ratur in den letzten Jahrzehnten aufmerksam gefolgt sind, überreden, daß da alles
in Ordnung sei? Wollen Sie mich glauben machen, daß es neben dem Wahrheits¬
und Wirklichkeitsdrange der Berufnen keine wüste, schamlose Spekulation auf die
schlechtesten Instinkte des Publikums gäbe? Daß es lediglich künstlerische Antriebe
wären, die uns mit Tovotes Dirnenromanen, mit Hermann Bcchrs tastenden Ge¬
lüsten nach einer neuen unerhörten Art des sinnlichen Genusses, mit pikanten
Büchern wie Frank Wedekinds „Fürstin Russalka" beglücken? Daß die wirkliche
Kunst, die keusche göttliche Nacktheit der Plastik und die pikant lüsterne Berechnung,
die Stück für Stück auszieht, Zoll für Zoll entblößt, ein und dasselbe wären? Sie
haben vorhin von der Schändlichkeit geredet, Kunst und Künstler in die Nachbar¬
schaft von gemeinen Ruchlosigkeiten, von Dirnen und Zuhältern zu bringen. Ja,
wer hat sich denn selbst dahingestellt, wer hat uns jahrelang, immerwährend auf
die Hintertreppen gedrängt, in Dirnen- und Zuhältertum, im moralischen oder viel¬
mehr unmoralischen Elend der Winkel und Dachkammern und Wenns hoch kam in
einem gewissen parfümierten Aussatz des Börsenspekulanten- und Protzentums die
Blüte alles Lebens angepriesen? Wer hat jeden Menschen, der ein Bedürfnis nach
reinerer Luft und edlern Gesinnungen verriet, bald einen kläglichen Philister und
bald einen dünkelvollen Pharisäer gescholten? Die Art Künstler, Poeten, Erzähler,
Sensationsdramatiker, die von echter Kunst und echtem künstlerischen Drang unge¬
fähr so weit entfernt sind, wie ein Eskimo, der nackt in seiner stinkiger Hütte sitzt,
vom Apoll von Belvedere. Und die stecken sich nun mit ungeheuerm Hallo hinter
die Standbilder großer Geister und großer Naturen, die sie alle die Jahre daher
nicht genug haben lästern und lächerlich machen können! Sehen Sie sich doch die
Zeitungen an, ob nicht gerade die den größten Lärm schlagen, die jeder sogenannten
geistreichen Gemeinheit das Wort geredet, jeder Verkommenheit, wenn sie nur den
Anstrich des Üppigen hatte, Vorschub geleistet haben. Ist es nicht so? Soll man
der fortgesetzten Verrohung und der noch schlimmern fortgesetzten Verwildrung mit
untergeschlagnen Armen zusehen?

Er schwieg eine Weile, und ich konnte hiergegen ja nichts sagen, sondern nur
mit den Schultern zucken. Es ist ja klar, fuhr er dann fort, die Voraussetzung, von
der die Protestierenden ausgehn, läuft auf einen Irrtum hinaus. Was berechtigt
denn die erregten Künstler und Schriftsteller, die sich zu Goethebünden zusammen¬
schließen, ohne weiteres anzunehmen, daß außerhalb ihrer Kreise im ganzen deutschen
Volke weder Bildung noch Kunstsinn vorhanden sei, und daß man mit plumper
Brutalität gegen jede Lebensdarstellung, die andre als lehrhafte und moralisierende
Zwecke verfolgt, einschreiten wird? Sind irgend welche Anzeichen dafür vorhanden,
daß man von obenher einer vandalischen Feindseligkeit gegen die Kunst front?
Und darf ohne weiteres der, der ein paar geile Auswüchse und widerwärtige
Schwämme am Stamm eines Baums beseitigen will, beschuldigt werden, er wolle
die Zweige im fröhlichsten Wuchs schinden oder gar den Stamm umhauen?

Hier kommen wir auf den Punkt, um den es sich handelt! rief ich. Was man
von oben her will oder nicht will, kommt gar nicht mehr in Betracht, sobald das
Gesetz gemacht ist. Ich war auch der Meinung, die Absicht des Gesetzgebers sei das
Maßgebende, und meinetwegen mag ja bei dieser Vorlage weder eine Heimtücke
noch eine Dummheit im Spiel gewesen sein, sondern man mag nur beabsichtigt
haben, solche Dinge zu treffen wie die, gegen die Sie predigen, und wegen deren
Verwerflichkeit wir ganz einig sind. Aber alle meine juristischen Freunde sind
darüber einig, die Anwälte wie die Richter, die vom Reichsgericht wie die vom
Landgericht, daß es bei Gesetzen gar nicht darauf ankommt, was sie wollen, sondern
wie sie lauten. Sie haben ja selbst davon geredet, welcher Unfug mit dem Groben-
nnfugparagraphen getrieben wird. Er wird behandelt wie ein Stück Kautschuk, das


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[0222] Maßgebliches und Unmaßgebliches Wollen Sie wirklich die Leute, die dem Entwicklungsgang unsrer Kunst und Litte¬ ratur in den letzten Jahrzehnten aufmerksam gefolgt sind, überreden, daß da alles in Ordnung sei? Wollen Sie mich glauben machen, daß es neben dem Wahrheits¬ und Wirklichkeitsdrange der Berufnen keine wüste, schamlose Spekulation auf die schlechtesten Instinkte des Publikums gäbe? Daß es lediglich künstlerische Antriebe wären, die uns mit Tovotes Dirnenromanen, mit Hermann Bcchrs tastenden Ge¬ lüsten nach einer neuen unerhörten Art des sinnlichen Genusses, mit pikanten Büchern wie Frank Wedekinds „Fürstin Russalka" beglücken? Daß die wirkliche Kunst, die keusche göttliche Nacktheit der Plastik und die pikant lüsterne Berechnung, die Stück für Stück auszieht, Zoll für Zoll entblößt, ein und dasselbe wären? Sie haben vorhin von der Schändlichkeit geredet, Kunst und Künstler in die Nachbar¬ schaft von gemeinen Ruchlosigkeiten, von Dirnen und Zuhältern zu bringen. Ja, wer hat sich denn selbst dahingestellt, wer hat uns jahrelang, immerwährend auf die Hintertreppen gedrängt, in Dirnen- und Zuhältertum, im moralischen oder viel¬ mehr unmoralischen Elend der Winkel und Dachkammern und Wenns hoch kam in einem gewissen parfümierten Aussatz des Börsenspekulanten- und Protzentums die Blüte alles Lebens angepriesen? Wer hat jeden Menschen, der ein Bedürfnis nach reinerer Luft und edlern Gesinnungen verriet, bald einen kläglichen Philister und bald einen dünkelvollen Pharisäer gescholten? Die Art Künstler, Poeten, Erzähler, Sensationsdramatiker, die von echter Kunst und echtem künstlerischen Drang unge¬ fähr so weit entfernt sind, wie ein Eskimo, der nackt in seiner stinkiger Hütte sitzt, vom Apoll von Belvedere. Und die stecken sich nun mit ungeheuerm Hallo hinter die Standbilder großer Geister und großer Naturen, die sie alle die Jahre daher nicht genug haben lästern und lächerlich machen können! Sehen Sie sich doch die Zeitungen an, ob nicht gerade die den größten Lärm schlagen, die jeder sogenannten geistreichen Gemeinheit das Wort geredet, jeder Verkommenheit, wenn sie nur den Anstrich des Üppigen hatte, Vorschub geleistet haben. Ist es nicht so? Soll man der fortgesetzten Verrohung und der noch schlimmern fortgesetzten Verwildrung mit untergeschlagnen Armen zusehen? Er schwieg eine Weile, und ich konnte hiergegen ja nichts sagen, sondern nur mit den Schultern zucken. Es ist ja klar, fuhr er dann fort, die Voraussetzung, von der die Protestierenden ausgehn, läuft auf einen Irrtum hinaus. Was berechtigt denn die erregten Künstler und Schriftsteller, die sich zu Goethebünden zusammen¬ schließen, ohne weiteres anzunehmen, daß außerhalb ihrer Kreise im ganzen deutschen Volke weder Bildung noch Kunstsinn vorhanden sei, und daß man mit plumper Brutalität gegen jede Lebensdarstellung, die andre als lehrhafte und moralisierende Zwecke verfolgt, einschreiten wird? Sind irgend welche Anzeichen dafür vorhanden, daß man von obenher einer vandalischen Feindseligkeit gegen die Kunst front? Und darf ohne weiteres der, der ein paar geile Auswüchse und widerwärtige Schwämme am Stamm eines Baums beseitigen will, beschuldigt werden, er wolle die Zweige im fröhlichsten Wuchs schinden oder gar den Stamm umhauen? Hier kommen wir auf den Punkt, um den es sich handelt! rief ich. Was man von oben her will oder nicht will, kommt gar nicht mehr in Betracht, sobald das Gesetz gemacht ist. Ich war auch der Meinung, die Absicht des Gesetzgebers sei das Maßgebende, und meinetwegen mag ja bei dieser Vorlage weder eine Heimtücke noch eine Dummheit im Spiel gewesen sein, sondern man mag nur beabsichtigt haben, solche Dinge zu treffen wie die, gegen die Sie predigen, und wegen deren Verwerflichkeit wir ganz einig sind. Aber alle meine juristischen Freunde sind darüber einig, die Anwälte wie die Richter, die vom Reichsgericht wie die vom Landgericht, daß es bei Gesetzen gar nicht darauf ankommt, was sie wollen, sondern wie sie lauten. Sie haben ja selbst davon geredet, welcher Unfug mit dem Groben- nnfugparagraphen getrieben wird. Er wird behandelt wie ein Stück Kautschuk, das

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/222>, abgerufen am 03.07.2024.