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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Die Baumwollenhungersnot von Lancashire

Erkundigungen in die notleidenden Distrikte zu senden, und auch dann hat
man monatelang nichts weiter gethan, als in schönen Reden auf die Leistungen
der Armenverwaltung hinzuweisen. Dabei aber hatte sich das bisherige Armen¬
gesetz mit seinen Bestimmungen, die Aufwendungen für das Armenwesen immer
durch direkte Umlagen in den einzelnen kleinen Bezirken wieder aufzubringen,
und mit seinen teilweise vom Arbeiter als höchst unehrenvoll angesehenen
Formalitäten als vollkommen unzulänglich herausgestellt. Ferner waren in
Lancashire alle Besitzer notleidend, und es war einfach unmöglich, fortgesetzt
eine entsprechend gesteigerte Armensteuer zu erheben. Da wurde die Aufnahme
von Anleihen erlaubt, wovon in einer Höhe von 87000 Pfund Sterling
Gebrauch gemacht wurde. Erst 1865 gelangte man aber zu einer einigermaßen
brauchbaren Gesetzgebung. -- Ein andres Gesetz wurde am 8. Juni 1863 ein¬
gebracht, "um die Übernahme staatlicher Arbeiten in einigen Fabrikdistrikten zu
erleichtern, für diesen Zweck in gewissem Umfange Vorschüsse öffentlicher Mittel
auf die spätern Kreisabgaben hin zu erlauben usw." Auf Grund dieser Akte
wurden im ganzen 185000 Pfund Sterling bewilligt. Doch wurden nur
wenig Tausende von Arbeitern thatsächlich bei Straßenbauten und Kanali¬
sationen beschäftigt, und die Ausführungsmaßregeln erwiesen sich dauernd als
ungenügend.

Die Bevölkerung hielt sich im großen und ganzen vorzüglich. Immerhin
hat es um gelegentlichen Zwistigkeiten und einigen ernstern Unruhen und Auf¬
ständen nicht gefehlt, die namentlich in Holleybridge 1863 zu offnem Ausbruch
führten, wie sich denn die tiefe soziale Erschütterung auch an den Zahlen der
Eheschließungen zeigt, die

1861 1862 1863 1864
19200 16300 18200 17500

betrugen.

Sonst aber ließ man sich trotz aller Not nicht veranlassen, für eine Inter¬
vention zu Gunsten der Südstaaten einzutreten, da der englische Arbeiter nicht
das Odium auf sich nehmen wollte, für die Sklaverei zu wirken. Lieber trug
man die Not und gewährte man die Hilfe.*)

Der gesamte Umfang der Hilfsaktionen läßt sich nicht absolut genau fest¬
stellen. Die Armenunterstützungen des Jahres 1861 hatten 313000 Pfund
Sterling betragen; in den drei Jahren 1862 bis 1864 wurden durch die
Armenpfleger 1938000 Pfund Sterling, durch die örtlichen Hilfskomitees
1372000 Pfund Sterling verteilt; auf 220000 Pfund Sterling schätzte man
die Leistungen der Privatwohlthätigkeit. Wie groß die Mieterlasse waren, ist
nicht zu übersehen. Weitere 580000 Pfund Sterling wurden im Jahre 1865
aufgewandt, im ganzen also an Unterstützungssummen wohl 100 Millionen Mark
und darüber.



Vergl. z. B.: ^. L. Dswourt, KodsUioQ s,na KsvOMition. Manchester, 1863.
.1. N. Lwi-Wonne, DaglisK Instiwtiiwti tlo ^msric-an ItsdsIIivll. Manchester, 1864.
Die Baumwollenhungersnot von Lancashire

Erkundigungen in die notleidenden Distrikte zu senden, und auch dann hat
man monatelang nichts weiter gethan, als in schönen Reden auf die Leistungen
der Armenverwaltung hinzuweisen. Dabei aber hatte sich das bisherige Armen¬
gesetz mit seinen Bestimmungen, die Aufwendungen für das Armenwesen immer
durch direkte Umlagen in den einzelnen kleinen Bezirken wieder aufzubringen,
und mit seinen teilweise vom Arbeiter als höchst unehrenvoll angesehenen
Formalitäten als vollkommen unzulänglich herausgestellt. Ferner waren in
Lancashire alle Besitzer notleidend, und es war einfach unmöglich, fortgesetzt
eine entsprechend gesteigerte Armensteuer zu erheben. Da wurde die Aufnahme
von Anleihen erlaubt, wovon in einer Höhe von 87000 Pfund Sterling
Gebrauch gemacht wurde. Erst 1865 gelangte man aber zu einer einigermaßen
brauchbaren Gesetzgebung. — Ein andres Gesetz wurde am 8. Juni 1863 ein¬
gebracht, „um die Übernahme staatlicher Arbeiten in einigen Fabrikdistrikten zu
erleichtern, für diesen Zweck in gewissem Umfange Vorschüsse öffentlicher Mittel
auf die spätern Kreisabgaben hin zu erlauben usw." Auf Grund dieser Akte
wurden im ganzen 185000 Pfund Sterling bewilligt. Doch wurden nur
wenig Tausende von Arbeitern thatsächlich bei Straßenbauten und Kanali¬
sationen beschäftigt, und die Ausführungsmaßregeln erwiesen sich dauernd als
ungenügend.

Die Bevölkerung hielt sich im großen und ganzen vorzüglich. Immerhin
hat es um gelegentlichen Zwistigkeiten und einigen ernstern Unruhen und Auf¬
ständen nicht gefehlt, die namentlich in Holleybridge 1863 zu offnem Ausbruch
führten, wie sich denn die tiefe soziale Erschütterung auch an den Zahlen der
Eheschließungen zeigt, die

1861 1862 1863 1864
19200 16300 18200 17500

betrugen.

Sonst aber ließ man sich trotz aller Not nicht veranlassen, für eine Inter¬
vention zu Gunsten der Südstaaten einzutreten, da der englische Arbeiter nicht
das Odium auf sich nehmen wollte, für die Sklaverei zu wirken. Lieber trug
man die Not und gewährte man die Hilfe.*)

Der gesamte Umfang der Hilfsaktionen läßt sich nicht absolut genau fest¬
stellen. Die Armenunterstützungen des Jahres 1861 hatten 313000 Pfund
Sterling betragen; in den drei Jahren 1862 bis 1864 wurden durch die
Armenpfleger 1938000 Pfund Sterling, durch die örtlichen Hilfskomitees
1372000 Pfund Sterling verteilt; auf 220000 Pfund Sterling schätzte man
die Leistungen der Privatwohlthätigkeit. Wie groß die Mieterlasse waren, ist
nicht zu übersehen. Weitere 580000 Pfund Sterling wurden im Jahre 1865
aufgewandt, im ganzen also an Unterstützungssummen wohl 100 Millionen Mark
und darüber.



Vergl. z. B.: ^. L. Dswourt, KodsUioQ s,na KsvOMition. Manchester, 1863.
.1. N. Lwi-Wonne, DaglisK Instiwtiiwti tlo ^msric-an ItsdsIIivll. Manchester, 1864.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/196>, abgerufen am 03.07.2024.