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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Wohin gehen wir?

In dem Leben des englischen Volks spielen die Kolonien eine sehr große
Rolle. Die Jnsellage und die Gewerbthätigkeit von Großbritannien haben
früh den Anstoß zur kolonialen Ausdehnung gegeben. Aber bis in das neunzehnte
Jahrhundert hinein wurden die zu ungeheuerm Umfang angehäuften Kolonien
durch ein systematisches Aussaugen verhindert, reich und für englische Waren
in großem Maße aufnahmefähig zu werden. Der Freihandel trat dann um
die Stelle, und die Kolonien begannen bald die englischen Fabrikate an sich
zu ziehn, zu derselben Zeit, als der Handel und das Gewerbe Englands in
allen fremden Staateil der Welt zur Herrschaft aufstiegen. Heute bedarf Eng¬
land großer Kolonien allein schon um Blutstockungen im eignen Volkskörper
zu vermeiden. England ist eine große Fabrikstadt, deren Bewohner außerhalb
der Stadtmauer ländlicher Dörfer bedürfen, wo nervöse Leiden, moralische
Schwachen, zu dünnes oder zu dickes Blut in scharfer Arbeit und guter Luft
Heilung finden tonnen. England findet in seineu Kolonien nicht allein Ge¬
winn an Geld, sondern einen unerschöpflichen Quell sittlicher Kraft, der durch
die Arbeit englischer Volksgenossen in Fluß erhalten wird. Es findet dorthin
der Abfluß des überschüssigen Kapitals in vielen Milliarden statt. Aber ob¬
wohl die frühere Art der Behandlung der Kolonien, die der Behandlung des
Ackers durch den Bauern im Effekt glich, grundsätzlich aufgegeben worden ist,
kann man doch sehr deutlich die gewaltige Verschiedenheit wahrnehmen, die in
der Stellung der Kolonien zum Mutterlande begründet ist. Nach den vor
hundert Jahren mit Nordamerika gemachten Erfahrungen versucht man nicht
mehr, Kolonien mit weißer Bevölkerung, wie Australien, Kanada, Kapland, mit
Steuern und Zöllen zu schröpfen. Vom Standpunkte der Kultur und Huma¬
nität aus besteht ein sehr großer Unterschied zwischen diesen englischen Kolonien
mit weißer, vorwiegend englischer Bevölkerung und den Kolonien mit einer
unterworfnen farbigen Bevölkerung. Alle Vorwürfe, die gegen die Engländer
als Kolonisatoren erhoben werden, sind nur insoweit berechtigt, als sie aus den
Erfahrungen in den Kolonien mit farbiger oder doch fremder weißer Bevölte-
^Mg geschöpft worden sind. In Amerika, in Australien haben die Engländer,
soweit und wo sie unbewohnte Gebiete besiedelt haben, oder nach Verdrängung
"der Ausrottung farbiger Eingeborner neue Staaten gegründet haben, mit un¬
vergleichlichen praktischem Sinn und nachhaltigem Festhalten an ihrer natio¬
nalen die lebenskräftigsten Kolonien geschaffen; vielleicht hie und da zu
u erstürzt, zu sehr kaufmännisch nur den augenblicklichen Nutzen verfolgend,
herrliche Waldungen vernichtend, reiche Wildstünde aufrollend, fruchtbaren
^ n ungeheuern Latifundien abschließend und durch Raubbau entwertend --
aber im c,in,M gewaltige Werte schaffend, weite Gebiete der Kulturarbeit er¬
suchend, Se^te gründend, Staaten bildend, die bald die Kraft zu selb-
MMgem politischem Leben fanden. Anders da, wo der Engländer als Herr
einer frugen wehrlosen Bevölkerung gegenüber steht, wie in Indien und
^ Ägypten. Da wird das' englische Element zu einer Art von
äste, die sich die einqeborne Bevölkerung legt und alle Vermischung,


Grenzboten II iggg 22
Wohin gehen wir?

In dem Leben des englischen Volks spielen die Kolonien eine sehr große
Rolle. Die Jnsellage und die Gewerbthätigkeit von Großbritannien haben
früh den Anstoß zur kolonialen Ausdehnung gegeben. Aber bis in das neunzehnte
Jahrhundert hinein wurden die zu ungeheuerm Umfang angehäuften Kolonien
durch ein systematisches Aussaugen verhindert, reich und für englische Waren
in großem Maße aufnahmefähig zu werden. Der Freihandel trat dann um
die Stelle, und die Kolonien begannen bald die englischen Fabrikate an sich
zu ziehn, zu derselben Zeit, als der Handel und das Gewerbe Englands in
allen fremden Staateil der Welt zur Herrschaft aufstiegen. Heute bedarf Eng¬
land großer Kolonien allein schon um Blutstockungen im eignen Volkskörper
zu vermeiden. England ist eine große Fabrikstadt, deren Bewohner außerhalb
der Stadtmauer ländlicher Dörfer bedürfen, wo nervöse Leiden, moralische
Schwachen, zu dünnes oder zu dickes Blut in scharfer Arbeit und guter Luft
Heilung finden tonnen. England findet in seineu Kolonien nicht allein Ge¬
winn an Geld, sondern einen unerschöpflichen Quell sittlicher Kraft, der durch
die Arbeit englischer Volksgenossen in Fluß erhalten wird. Es findet dorthin
der Abfluß des überschüssigen Kapitals in vielen Milliarden statt. Aber ob¬
wohl die frühere Art der Behandlung der Kolonien, die der Behandlung des
Ackers durch den Bauern im Effekt glich, grundsätzlich aufgegeben worden ist,
kann man doch sehr deutlich die gewaltige Verschiedenheit wahrnehmen, die in
der Stellung der Kolonien zum Mutterlande begründet ist. Nach den vor
hundert Jahren mit Nordamerika gemachten Erfahrungen versucht man nicht
mehr, Kolonien mit weißer Bevölkerung, wie Australien, Kanada, Kapland, mit
Steuern und Zöllen zu schröpfen. Vom Standpunkte der Kultur und Huma¬
nität aus besteht ein sehr großer Unterschied zwischen diesen englischen Kolonien
mit weißer, vorwiegend englischer Bevölkerung und den Kolonien mit einer
unterworfnen farbigen Bevölkerung. Alle Vorwürfe, die gegen die Engländer
als Kolonisatoren erhoben werden, sind nur insoweit berechtigt, als sie aus den
Erfahrungen in den Kolonien mit farbiger oder doch fremder weißer Bevölte-
^Mg geschöpft worden sind. In Amerika, in Australien haben die Engländer,
soweit und wo sie unbewohnte Gebiete besiedelt haben, oder nach Verdrängung
"der Ausrottung farbiger Eingeborner neue Staaten gegründet haben, mit un¬
vergleichlichen praktischem Sinn und nachhaltigem Festhalten an ihrer natio¬
nalen die lebenskräftigsten Kolonien geschaffen; vielleicht hie und da zu
u erstürzt, zu sehr kaufmännisch nur den augenblicklichen Nutzen verfolgend,
herrliche Waldungen vernichtend, reiche Wildstünde aufrollend, fruchtbaren
^ n ungeheuern Latifundien abschließend und durch Raubbau entwertend —
aber im c,in,M gewaltige Werte schaffend, weite Gebiete der Kulturarbeit er¬
suchend, Se^te gründend, Staaten bildend, die bald die Kraft zu selb-
MMgem politischem Leben fanden. Anders da, wo der Engländer als Herr
einer frugen wehrlosen Bevölkerung gegenüber steht, wie in Indien und
^ Ägypten. Da wird das' englische Element zu einer Art von
äste, die sich die einqeborne Bevölkerung legt und alle Vermischung,


Grenzboten II iggg 22
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[0177] Wohin gehen wir? In dem Leben des englischen Volks spielen die Kolonien eine sehr große Rolle. Die Jnsellage und die Gewerbthätigkeit von Großbritannien haben früh den Anstoß zur kolonialen Ausdehnung gegeben. Aber bis in das neunzehnte Jahrhundert hinein wurden die zu ungeheuerm Umfang angehäuften Kolonien durch ein systematisches Aussaugen verhindert, reich und für englische Waren in großem Maße aufnahmefähig zu werden. Der Freihandel trat dann um die Stelle, und die Kolonien begannen bald die englischen Fabrikate an sich zu ziehn, zu derselben Zeit, als der Handel und das Gewerbe Englands in allen fremden Staateil der Welt zur Herrschaft aufstiegen. Heute bedarf Eng¬ land großer Kolonien allein schon um Blutstockungen im eignen Volkskörper zu vermeiden. England ist eine große Fabrikstadt, deren Bewohner außerhalb der Stadtmauer ländlicher Dörfer bedürfen, wo nervöse Leiden, moralische Schwachen, zu dünnes oder zu dickes Blut in scharfer Arbeit und guter Luft Heilung finden tonnen. England findet in seineu Kolonien nicht allein Ge¬ winn an Geld, sondern einen unerschöpflichen Quell sittlicher Kraft, der durch die Arbeit englischer Volksgenossen in Fluß erhalten wird. Es findet dorthin der Abfluß des überschüssigen Kapitals in vielen Milliarden statt. Aber ob¬ wohl die frühere Art der Behandlung der Kolonien, die der Behandlung des Ackers durch den Bauern im Effekt glich, grundsätzlich aufgegeben worden ist, kann man doch sehr deutlich die gewaltige Verschiedenheit wahrnehmen, die in der Stellung der Kolonien zum Mutterlande begründet ist. Nach den vor hundert Jahren mit Nordamerika gemachten Erfahrungen versucht man nicht mehr, Kolonien mit weißer Bevölkerung, wie Australien, Kanada, Kapland, mit Steuern und Zöllen zu schröpfen. Vom Standpunkte der Kultur und Huma¬ nität aus besteht ein sehr großer Unterschied zwischen diesen englischen Kolonien mit weißer, vorwiegend englischer Bevölkerung und den Kolonien mit einer unterworfnen farbigen Bevölkerung. Alle Vorwürfe, die gegen die Engländer als Kolonisatoren erhoben werden, sind nur insoweit berechtigt, als sie aus den Erfahrungen in den Kolonien mit farbiger oder doch fremder weißer Bevölte- ^Mg geschöpft worden sind. In Amerika, in Australien haben die Engländer, soweit und wo sie unbewohnte Gebiete besiedelt haben, oder nach Verdrängung "der Ausrottung farbiger Eingeborner neue Staaten gegründet haben, mit un¬ vergleichlichen praktischem Sinn und nachhaltigem Festhalten an ihrer natio¬ nalen die lebenskräftigsten Kolonien geschaffen; vielleicht hie und da zu u erstürzt, zu sehr kaufmännisch nur den augenblicklichen Nutzen verfolgend, herrliche Waldungen vernichtend, reiche Wildstünde aufrollend, fruchtbaren ^ n ungeheuern Latifundien abschließend und durch Raubbau entwertend — aber im c,in,M gewaltige Werte schaffend, weite Gebiete der Kulturarbeit er¬ suchend, Se^te gründend, Staaten bildend, die bald die Kraft zu selb- MMgem politischem Leben fanden. Anders da, wo der Engländer als Herr einer frugen wehrlosen Bevölkerung gegenüber steht, wie in Indien und ^ Ägypten. Da wird das' englische Element zu einer Art von äste, die sich die einqeborne Bevölkerung legt und alle Vermischung, Grenzboten II iggg 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/177>, abgerufen am 03.07.2024.