Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Wohin gehen mir?

hölzerne Formen der obern Klassen, die von den untern sorgsam nachgeahmt
und mit der Genauigkeit und Selbstzufriedenheit des Pedanten auch dort ge¬
wahrt werden, wo Natur und Verhältnisse gegen sie siud. Selbst im Tanz,
im Spiel herrschen Überlegung, Zweckmäßigkeit, Ausdauer, Kraft, Besonnenheit,
Selbstzufriedenheit -- und fehlen Leidenschaft, Anmut, Freiheit, zwangloses
Selbstvergessen, Genußfähigkeit, kurz, gerade das, was den wahren Frohsinn
macht; der Italiener spielt wirklich und ganz, der Engländer arbeitet auch im
Spiel, Dieser Gegensatz entspricht dem Gegensatz in der Natur der Länder,
Er wird verstärkt durch die Verschiedenheit des wirtschaftlichen Volkslebens.
Steffen ist der Meinung, daß sich der Typus des englischen Bürgers seit einem
halben Jahrhundert durchaus geändert habe: der feiste John Bull von ehemals
sei nur noch bildlich etwa in Witzblättern vorhanden, und an seine Stelle sei
der trockne, "durch die Hetzjagd des Welthandels zu rastloser Rührigkeit geübte,
aller freimütiger Schwelgerei und naiven Munterkeit entwöhnte Großkapitalist"
getreten. Er hat sich damit dem Typus seines Vetters über dem Wasser ge¬
nähert, er ist etwas Jankee geworden, mit dem er ja in dieser Hetzjagd
wetteifert.

Wir andern Kontinentalen werden in der Mehrzahl wohl bekennen
müssen, daß uns der entschwuudne John Bull mit all seiner Derbheit und
seinem Portwein lieber war, als der heutige englische Typus. Wo das Geld
die durchweg beherrschende Macht einer Gesellschaft oder eines Volks geworden
ist, leidet auch der private Charakter unter dem ruhelosen Jagen nach Gewinn.
Der jüdische Typus, der nordamerikanische Uankeetypus, der chinesische Typus
haben sich unter diesem Einfluß gebildet und sind unserm Empfinden und
Denken besonders gegensätzlich. Je weiter sich der uns in vielen vortrefflichen
privaten und sozialen Eigenschaften sympathische und nahe stehende Typus der
Engländer nach dieser kommerziellen Richtung hin entwickelt, um so stärker
wird die schon jetzt weit verbreitete Abneigung der übrigen europäischen Völker
hervortreten, eine Abneigung, die der englische Dünkel wahrscheinlich nicht auf
den englischen Charakter, sondern ans den Neid der Nichtenglünder zurückführen
wird. Deutsches Gemüt, französischer Geist, südländischer Frohsinn werden
sich nie mit der gemütlosen, geistlosen und freudlosen Rechenmaschine befreunden,
zu der der Sklave des Erfolgs und des Geldes mit der Zeit hinabsinkt. Was
der Grieche Kalokagathie nannte, ist in dem Sittenkodex des heutigen England
ein fehlender Begriff. Aber wenn die Beobachtung von Steffen auch richtig
ist, daß die Gesellschaftsmoral der Engländer durch ihren großen industriell¬
kommerziellen Erfolg zur Kaufmannsmoral geworden ist, so liegt, wie ich
glaube, in dem stetigen, konservativen, auf das Wirkliche gerichteten Charakter
des Engländers die Gewähr dafür, daß sich die alten sittlichen Kräfte immer
wieder werden zur Geltung bringen können, sobald der geschichtliche oder, zeit¬
gemäß zu reden, der psychologische Moment dafür kommen wird. Und er wird
kommen, wenn äußere Umwälzungen den maßlosen Dünkel werden gebrochen
haben, der den heutigen Engländer aller Selbstkritik beraubt.


Wohin gehen mir?

hölzerne Formen der obern Klassen, die von den untern sorgsam nachgeahmt
und mit der Genauigkeit und Selbstzufriedenheit des Pedanten auch dort ge¬
wahrt werden, wo Natur und Verhältnisse gegen sie siud. Selbst im Tanz,
im Spiel herrschen Überlegung, Zweckmäßigkeit, Ausdauer, Kraft, Besonnenheit,
Selbstzufriedenheit — und fehlen Leidenschaft, Anmut, Freiheit, zwangloses
Selbstvergessen, Genußfähigkeit, kurz, gerade das, was den wahren Frohsinn
macht; der Italiener spielt wirklich und ganz, der Engländer arbeitet auch im
Spiel, Dieser Gegensatz entspricht dem Gegensatz in der Natur der Länder,
Er wird verstärkt durch die Verschiedenheit des wirtschaftlichen Volkslebens.
Steffen ist der Meinung, daß sich der Typus des englischen Bürgers seit einem
halben Jahrhundert durchaus geändert habe: der feiste John Bull von ehemals
sei nur noch bildlich etwa in Witzblättern vorhanden, und an seine Stelle sei
der trockne, „durch die Hetzjagd des Welthandels zu rastloser Rührigkeit geübte,
aller freimütiger Schwelgerei und naiven Munterkeit entwöhnte Großkapitalist"
getreten. Er hat sich damit dem Typus seines Vetters über dem Wasser ge¬
nähert, er ist etwas Jankee geworden, mit dem er ja in dieser Hetzjagd
wetteifert.

Wir andern Kontinentalen werden in der Mehrzahl wohl bekennen
müssen, daß uns der entschwuudne John Bull mit all seiner Derbheit und
seinem Portwein lieber war, als der heutige englische Typus. Wo das Geld
die durchweg beherrschende Macht einer Gesellschaft oder eines Volks geworden
ist, leidet auch der private Charakter unter dem ruhelosen Jagen nach Gewinn.
Der jüdische Typus, der nordamerikanische Uankeetypus, der chinesische Typus
haben sich unter diesem Einfluß gebildet und sind unserm Empfinden und
Denken besonders gegensätzlich. Je weiter sich der uns in vielen vortrefflichen
privaten und sozialen Eigenschaften sympathische und nahe stehende Typus der
Engländer nach dieser kommerziellen Richtung hin entwickelt, um so stärker
wird die schon jetzt weit verbreitete Abneigung der übrigen europäischen Völker
hervortreten, eine Abneigung, die der englische Dünkel wahrscheinlich nicht auf
den englischen Charakter, sondern ans den Neid der Nichtenglünder zurückführen
wird. Deutsches Gemüt, französischer Geist, südländischer Frohsinn werden
sich nie mit der gemütlosen, geistlosen und freudlosen Rechenmaschine befreunden,
zu der der Sklave des Erfolgs und des Geldes mit der Zeit hinabsinkt. Was
der Grieche Kalokagathie nannte, ist in dem Sittenkodex des heutigen England
ein fehlender Begriff. Aber wenn die Beobachtung von Steffen auch richtig
ist, daß die Gesellschaftsmoral der Engländer durch ihren großen industriell¬
kommerziellen Erfolg zur Kaufmannsmoral geworden ist, so liegt, wie ich
glaube, in dem stetigen, konservativen, auf das Wirkliche gerichteten Charakter
des Engländers die Gewähr dafür, daß sich die alten sittlichen Kräfte immer
wieder werden zur Geltung bringen können, sobald der geschichtliche oder, zeit¬
gemäß zu reden, der psychologische Moment dafür kommen wird. Und er wird
kommen, wenn äußere Umwälzungen den maßlosen Dünkel werden gebrochen
haben, der den heutigen Engländer aller Selbstkritik beraubt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0176" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290587"/>
          <fw type="header" place="top"> Wohin gehen mir?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_745" prev="#ID_744"> hölzerne Formen der obern Klassen, die von den untern sorgsam nachgeahmt<lb/>
und mit der Genauigkeit und Selbstzufriedenheit des Pedanten auch dort ge¬<lb/>
wahrt werden, wo Natur und Verhältnisse gegen sie siud. Selbst im Tanz,<lb/>
im Spiel herrschen Überlegung, Zweckmäßigkeit, Ausdauer, Kraft, Besonnenheit,<lb/>
Selbstzufriedenheit &#x2014; und fehlen Leidenschaft, Anmut, Freiheit, zwangloses<lb/>
Selbstvergessen, Genußfähigkeit, kurz, gerade das, was den wahren Frohsinn<lb/>
macht; der Italiener spielt wirklich und ganz, der Engländer arbeitet auch im<lb/>
Spiel, Dieser Gegensatz entspricht dem Gegensatz in der Natur der Länder,<lb/>
Er wird verstärkt durch die Verschiedenheit des wirtschaftlichen Volkslebens.<lb/>
Steffen ist der Meinung, daß sich der Typus des englischen Bürgers seit einem<lb/>
halben Jahrhundert durchaus geändert habe: der feiste John Bull von ehemals<lb/>
sei nur noch bildlich etwa in Witzblättern vorhanden, und an seine Stelle sei<lb/>
der trockne, &#x201E;durch die Hetzjagd des Welthandels zu rastloser Rührigkeit geübte,<lb/>
aller freimütiger Schwelgerei und naiven Munterkeit entwöhnte Großkapitalist"<lb/>
getreten. Er hat sich damit dem Typus seines Vetters über dem Wasser ge¬<lb/>
nähert, er ist etwas Jankee geworden, mit dem er ja in dieser Hetzjagd<lb/>
wetteifert.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_746"> Wir andern Kontinentalen werden in der Mehrzahl wohl bekennen<lb/>
müssen, daß uns der entschwuudne John Bull mit all seiner Derbheit und<lb/>
seinem Portwein lieber war, als der heutige englische Typus. Wo das Geld<lb/>
die durchweg beherrschende Macht einer Gesellschaft oder eines Volks geworden<lb/>
ist, leidet auch der private Charakter unter dem ruhelosen Jagen nach Gewinn.<lb/>
Der jüdische Typus, der nordamerikanische Uankeetypus, der chinesische Typus<lb/>
haben sich unter diesem Einfluß gebildet und sind unserm Empfinden und<lb/>
Denken besonders gegensätzlich. Je weiter sich der uns in vielen vortrefflichen<lb/>
privaten und sozialen Eigenschaften sympathische und nahe stehende Typus der<lb/>
Engländer nach dieser kommerziellen Richtung hin entwickelt, um so stärker<lb/>
wird die schon jetzt weit verbreitete Abneigung der übrigen europäischen Völker<lb/>
hervortreten, eine Abneigung, die der englische Dünkel wahrscheinlich nicht auf<lb/>
den englischen Charakter, sondern ans den Neid der Nichtenglünder zurückführen<lb/>
wird. Deutsches Gemüt, französischer Geist, südländischer Frohsinn werden<lb/>
sich nie mit der gemütlosen, geistlosen und freudlosen Rechenmaschine befreunden,<lb/>
zu der der Sklave des Erfolgs und des Geldes mit der Zeit hinabsinkt. Was<lb/>
der Grieche Kalokagathie nannte, ist in dem Sittenkodex des heutigen England<lb/>
ein fehlender Begriff. Aber wenn die Beobachtung von Steffen auch richtig<lb/>
ist, daß die Gesellschaftsmoral der Engländer durch ihren großen industriell¬<lb/>
kommerziellen Erfolg zur Kaufmannsmoral geworden ist, so liegt, wie ich<lb/>
glaube, in dem stetigen, konservativen, auf das Wirkliche gerichteten Charakter<lb/>
des Engländers die Gewähr dafür, daß sich die alten sittlichen Kräfte immer<lb/>
wieder werden zur Geltung bringen können, sobald der geschichtliche oder, zeit¬<lb/>
gemäß zu reden, der psychologische Moment dafür kommen wird. Und er wird<lb/>
kommen, wenn äußere Umwälzungen den maßlosen Dünkel werden gebrochen<lb/>
haben, der den heutigen Engländer aller Selbstkritik beraubt.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0176] Wohin gehen mir? hölzerne Formen der obern Klassen, die von den untern sorgsam nachgeahmt und mit der Genauigkeit und Selbstzufriedenheit des Pedanten auch dort ge¬ wahrt werden, wo Natur und Verhältnisse gegen sie siud. Selbst im Tanz, im Spiel herrschen Überlegung, Zweckmäßigkeit, Ausdauer, Kraft, Besonnenheit, Selbstzufriedenheit — und fehlen Leidenschaft, Anmut, Freiheit, zwangloses Selbstvergessen, Genußfähigkeit, kurz, gerade das, was den wahren Frohsinn macht; der Italiener spielt wirklich und ganz, der Engländer arbeitet auch im Spiel, Dieser Gegensatz entspricht dem Gegensatz in der Natur der Länder, Er wird verstärkt durch die Verschiedenheit des wirtschaftlichen Volkslebens. Steffen ist der Meinung, daß sich der Typus des englischen Bürgers seit einem halben Jahrhundert durchaus geändert habe: der feiste John Bull von ehemals sei nur noch bildlich etwa in Witzblättern vorhanden, und an seine Stelle sei der trockne, „durch die Hetzjagd des Welthandels zu rastloser Rührigkeit geübte, aller freimütiger Schwelgerei und naiven Munterkeit entwöhnte Großkapitalist" getreten. Er hat sich damit dem Typus seines Vetters über dem Wasser ge¬ nähert, er ist etwas Jankee geworden, mit dem er ja in dieser Hetzjagd wetteifert. Wir andern Kontinentalen werden in der Mehrzahl wohl bekennen müssen, daß uns der entschwuudne John Bull mit all seiner Derbheit und seinem Portwein lieber war, als der heutige englische Typus. Wo das Geld die durchweg beherrschende Macht einer Gesellschaft oder eines Volks geworden ist, leidet auch der private Charakter unter dem ruhelosen Jagen nach Gewinn. Der jüdische Typus, der nordamerikanische Uankeetypus, der chinesische Typus haben sich unter diesem Einfluß gebildet und sind unserm Empfinden und Denken besonders gegensätzlich. Je weiter sich der uns in vielen vortrefflichen privaten und sozialen Eigenschaften sympathische und nahe stehende Typus der Engländer nach dieser kommerziellen Richtung hin entwickelt, um so stärker wird die schon jetzt weit verbreitete Abneigung der übrigen europäischen Völker hervortreten, eine Abneigung, die der englische Dünkel wahrscheinlich nicht auf den englischen Charakter, sondern ans den Neid der Nichtenglünder zurückführen wird. Deutsches Gemüt, französischer Geist, südländischer Frohsinn werden sich nie mit der gemütlosen, geistlosen und freudlosen Rechenmaschine befreunden, zu der der Sklave des Erfolgs und des Geldes mit der Zeit hinabsinkt. Was der Grieche Kalokagathie nannte, ist in dem Sittenkodex des heutigen England ein fehlender Begriff. Aber wenn die Beobachtung von Steffen auch richtig ist, daß die Gesellschaftsmoral der Engländer durch ihren großen industriell¬ kommerziellen Erfolg zur Kaufmannsmoral geworden ist, so liegt, wie ich glaube, in dem stetigen, konservativen, auf das Wirkliche gerichteten Charakter des Engländers die Gewähr dafür, daß sich die alten sittlichen Kräfte immer wieder werden zur Geltung bringen können, sobald der geschichtliche oder, zeit¬ gemäß zu reden, der psychologische Moment dafür kommen wird. Und er wird kommen, wenn äußere Umwälzungen den maßlosen Dünkel werden gebrochen haben, der den heutigen Engländer aller Selbstkritik beraubt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/176
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/176>, abgerufen am 03.07.2024.