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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Wohin gehen wir?

geblieben wären, die auf den englischen Eigenwillen ebenso sänftigend gewirkt
hätten, wie die Püffe von zwanzig Jungen in einer öffentlichen Schule auf
den Eigenwillen des Einzelnen wirken. Dazu kam das wunderbare Wachstum
der Kraft und der äußern Bedeutung Englands von der Zeit her, wo es nach
der Besiegung der spanischen Seemacht und dann Hollands zur ersten See¬
macht der Welt aufstieg. Die herrische Art des Engländers wurzelt zum
großen Teil in dem Bewußtsein, der Herr des Meeres zu sein, zu dem ihm
eine durch drei Jahrhunderte planvoll fortgesetzte Politik das volle Recht
verschafft hat. Voll ausgebildet hat sich dieses herrische Wesen besonders in
dem eben abgelaufnen Jahrhundert, seit England seinen heutigen Kolonial¬
besitz in der Hauptsache eingeheimst und alle andern Seemächte allmählich und
nacheinander um ihre Flotten gebracht hatte. Seitdem ist für England das
Ruth, Lritg-nriig., ebenso zur Staatsmaxime geworden wie die Idee Monroes
für die Vereinigten Staaten: dort die Oberherrschaft zur See, hier die Ober¬
herrschaft auf dem amerikanischen Kontinent. Und diese Maxime der Herren¬
stellung ist beiden Völkern so sehr ins Blut übergegangen, daß sie sich in dem
Typus des Individuums kenntlich macht.

In derselben Zeit, seit Anfang des vorigen Jahrhunderts, hat England
die wirtschaftliche Umwälzung durchgemacht, aus der das Land als die größte
industrielle Werkstätte und der Engländer als der größte Händler der Welt
hervorgingen. Jeder Beruf übt auf den Charakter des Menschen einen um¬
gestaltenden Einfluß in dem Maße aus, womit er dessen geistiges und leibliches
Handeln bestimmt. Bei zivilisierten Völkern ist Geldgewinn mit jeglichem Beruf
verbunden, jedoch in sehr verschiednen Maße ist Geldgewinn sein Zweck. Es giebt
Berufe, die den Geldgewinn als nebensächlich, andre, die ihn als vorwiegenden
Zweck der Arbeit zeigen. Von allen Revolutionen, die ein Volk durchmachen
kann, ist keine gewaltiger als der Übergang von der Naturalwirtschaft zur Geld-
Wirtschaft. Und mit so tiefer Verachtung unsre heutige Nationalökonomie auch
auf die Naturalwirtschaft als eine rohe und unzivilisierte Form des wirtschaft¬
lichen Lebens herabsieht, so wird man, wenn man sich nicht vom äußern Schein
blenden läßt, anerkennen müssen, daß keine Revolution für das Glück des Ein¬
zelnen, das in Zufriedenheit besteht, unheilvoller ist, als diese wirtschaftliche.
Es kommt nur darauf an, welchen Nutzen man von der fortschreitenden Kultur
erwartet, ob den, die Zufriedenheit der Einzelnen und der Menge zu fördern,
zu sichern, oder den, zu immer feinern, kompliziertem, über die Natur sich
höher erhebenden Formen des Lebens zu gelangen. Die Rousseau, Tolstoi
und ähnliche Denker haben im Grunde nichts andres gethan, als gegen diese
Revolution zu protestieren, als die Rückkehr von der Geldwirtschaft zur Natural¬
wirtschaft zu fordern, und alle Poeten, die die auri sg-ora tainös beklagten,
bis herab auf Wilhelm Jordan haben weniger die Habsucht verdammt, als
das Gold für das Verderben bringende Element erklärt, das alle bösen Be¬
gierden weckt und alle Zufriedenheit zerstört. Und ist es nicht ein Dogma
unsrer heutigen Volkswirtschaftslehre, daß die fehlende Mutter Erde, der Mangel


Wohin gehen wir?

geblieben wären, die auf den englischen Eigenwillen ebenso sänftigend gewirkt
hätten, wie die Püffe von zwanzig Jungen in einer öffentlichen Schule auf
den Eigenwillen des Einzelnen wirken. Dazu kam das wunderbare Wachstum
der Kraft und der äußern Bedeutung Englands von der Zeit her, wo es nach
der Besiegung der spanischen Seemacht und dann Hollands zur ersten See¬
macht der Welt aufstieg. Die herrische Art des Engländers wurzelt zum
großen Teil in dem Bewußtsein, der Herr des Meeres zu sein, zu dem ihm
eine durch drei Jahrhunderte planvoll fortgesetzte Politik das volle Recht
verschafft hat. Voll ausgebildet hat sich dieses herrische Wesen besonders in
dem eben abgelaufnen Jahrhundert, seit England seinen heutigen Kolonial¬
besitz in der Hauptsache eingeheimst und alle andern Seemächte allmählich und
nacheinander um ihre Flotten gebracht hatte. Seitdem ist für England das
Ruth, Lritg-nriig., ebenso zur Staatsmaxime geworden wie die Idee Monroes
für die Vereinigten Staaten: dort die Oberherrschaft zur See, hier die Ober¬
herrschaft auf dem amerikanischen Kontinent. Und diese Maxime der Herren¬
stellung ist beiden Völkern so sehr ins Blut übergegangen, daß sie sich in dem
Typus des Individuums kenntlich macht.

In derselben Zeit, seit Anfang des vorigen Jahrhunderts, hat England
die wirtschaftliche Umwälzung durchgemacht, aus der das Land als die größte
industrielle Werkstätte und der Engländer als der größte Händler der Welt
hervorgingen. Jeder Beruf übt auf den Charakter des Menschen einen um¬
gestaltenden Einfluß in dem Maße aus, womit er dessen geistiges und leibliches
Handeln bestimmt. Bei zivilisierten Völkern ist Geldgewinn mit jeglichem Beruf
verbunden, jedoch in sehr verschiednen Maße ist Geldgewinn sein Zweck. Es giebt
Berufe, die den Geldgewinn als nebensächlich, andre, die ihn als vorwiegenden
Zweck der Arbeit zeigen. Von allen Revolutionen, die ein Volk durchmachen
kann, ist keine gewaltiger als der Übergang von der Naturalwirtschaft zur Geld-
Wirtschaft. Und mit so tiefer Verachtung unsre heutige Nationalökonomie auch
auf die Naturalwirtschaft als eine rohe und unzivilisierte Form des wirtschaft¬
lichen Lebens herabsieht, so wird man, wenn man sich nicht vom äußern Schein
blenden läßt, anerkennen müssen, daß keine Revolution für das Glück des Ein¬
zelnen, das in Zufriedenheit besteht, unheilvoller ist, als diese wirtschaftliche.
Es kommt nur darauf an, welchen Nutzen man von der fortschreitenden Kultur
erwartet, ob den, die Zufriedenheit der Einzelnen und der Menge zu fördern,
zu sichern, oder den, zu immer feinern, kompliziertem, über die Natur sich
höher erhebenden Formen des Lebens zu gelangen. Die Rousseau, Tolstoi
und ähnliche Denker haben im Grunde nichts andres gethan, als gegen diese
Revolution zu protestieren, als die Rückkehr von der Geldwirtschaft zur Natural¬
wirtschaft zu fordern, und alle Poeten, die die auri sg-ora tainös beklagten,
bis herab auf Wilhelm Jordan haben weniger die Habsucht verdammt, als
das Gold für das Verderben bringende Element erklärt, das alle bösen Be¬
gierden weckt und alle Zufriedenheit zerstört. Und ist es nicht ein Dogma
unsrer heutigen Volkswirtschaftslehre, daß die fehlende Mutter Erde, der Mangel


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[0172] Wohin gehen wir? geblieben wären, die auf den englischen Eigenwillen ebenso sänftigend gewirkt hätten, wie die Püffe von zwanzig Jungen in einer öffentlichen Schule auf den Eigenwillen des Einzelnen wirken. Dazu kam das wunderbare Wachstum der Kraft und der äußern Bedeutung Englands von der Zeit her, wo es nach der Besiegung der spanischen Seemacht und dann Hollands zur ersten See¬ macht der Welt aufstieg. Die herrische Art des Engländers wurzelt zum großen Teil in dem Bewußtsein, der Herr des Meeres zu sein, zu dem ihm eine durch drei Jahrhunderte planvoll fortgesetzte Politik das volle Recht verschafft hat. Voll ausgebildet hat sich dieses herrische Wesen besonders in dem eben abgelaufnen Jahrhundert, seit England seinen heutigen Kolonial¬ besitz in der Hauptsache eingeheimst und alle andern Seemächte allmählich und nacheinander um ihre Flotten gebracht hatte. Seitdem ist für England das Ruth, Lritg-nriig., ebenso zur Staatsmaxime geworden wie die Idee Monroes für die Vereinigten Staaten: dort die Oberherrschaft zur See, hier die Ober¬ herrschaft auf dem amerikanischen Kontinent. Und diese Maxime der Herren¬ stellung ist beiden Völkern so sehr ins Blut übergegangen, daß sie sich in dem Typus des Individuums kenntlich macht. In derselben Zeit, seit Anfang des vorigen Jahrhunderts, hat England die wirtschaftliche Umwälzung durchgemacht, aus der das Land als die größte industrielle Werkstätte und der Engländer als der größte Händler der Welt hervorgingen. Jeder Beruf übt auf den Charakter des Menschen einen um¬ gestaltenden Einfluß in dem Maße aus, womit er dessen geistiges und leibliches Handeln bestimmt. Bei zivilisierten Völkern ist Geldgewinn mit jeglichem Beruf verbunden, jedoch in sehr verschiednen Maße ist Geldgewinn sein Zweck. Es giebt Berufe, die den Geldgewinn als nebensächlich, andre, die ihn als vorwiegenden Zweck der Arbeit zeigen. Von allen Revolutionen, die ein Volk durchmachen kann, ist keine gewaltiger als der Übergang von der Naturalwirtschaft zur Geld- Wirtschaft. Und mit so tiefer Verachtung unsre heutige Nationalökonomie auch auf die Naturalwirtschaft als eine rohe und unzivilisierte Form des wirtschaft¬ lichen Lebens herabsieht, so wird man, wenn man sich nicht vom äußern Schein blenden läßt, anerkennen müssen, daß keine Revolution für das Glück des Ein¬ zelnen, das in Zufriedenheit besteht, unheilvoller ist, als diese wirtschaftliche. Es kommt nur darauf an, welchen Nutzen man von der fortschreitenden Kultur erwartet, ob den, die Zufriedenheit der Einzelnen und der Menge zu fördern, zu sichern, oder den, zu immer feinern, kompliziertem, über die Natur sich höher erhebenden Formen des Lebens zu gelangen. Die Rousseau, Tolstoi und ähnliche Denker haben im Grunde nichts andres gethan, als gegen diese Revolution zu protestieren, als die Rückkehr von der Geldwirtschaft zur Natural¬ wirtschaft zu fordern, und alle Poeten, die die auri sg-ora tainös beklagten, bis herab auf Wilhelm Jordan haben weniger die Habsucht verdammt, als das Gold für das Verderben bringende Element erklärt, das alle bösen Be¬ gierden weckt und alle Zufriedenheit zerstört. Und ist es nicht ein Dogma unsrer heutigen Volkswirtschaftslehre, daß die fehlende Mutter Erde, der Mangel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/172>, abgerufen am 03.07.2024.