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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Wohin gehen wir?

um nährenden Boden, die "Landenge" die segensreich treibende Kraft sei, die
den Menschen zu industriellem Fortschritt, städtischem Wesen, zur Lohnarbeit
führe? Was aber heißt das anders, als daß die sogenannte höhere Kultur,
in der das Geld regiert, da anfängt, wo die Zufriedenheit aufhört, und da
endigen würde, wo die Unzufriedenheit endigte? Ist dieses Dogma nicht von
demselben Geiste, der den Neger zwingt, Kleider zu tragen, deren er nicht
bedarf, nur damit er arbeiten müsse, um sie bezahlen zu können, und unglücklich
werde, um die weißen Träger der Kultur zu bereichern? Die Naturalwirtschaft
ist die einzig gesunde Form des Erwerbs, die Form, die den Menschen mit
der Natur in Verbindung erhält, ihn harmonisch entwickelt, die den Kapitalismus
in Schranken hält, den Menschen nicht einseitig spezialisiert, ihn nicht dem
seelenlosen, herzlosen Mammon unterjocht. Aber die Kultur hat leider nicht
das Glück des Einzelnen zum Richtung weihenden Polarstern, sondern einen
geheimnisvollen Lenker, dem wir folgen müssen, ob wir wollen oder nicht.
Und dieser Lenker hat noch alle Völker in ihrer Entwicklung zu Kulturvölkern
einmal von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft hinübergedrüngt. Wir
konnten dein nicht entgehn, und einmal beim Gelde angelangt, kommen wir
bald auch zum Papiergelde und zum Kapitalismus und müssen uns nun damit
zurechtfinden, so gut wir können. Je unmittelbarer auf der Stufenleiter des
Erwerbslebens der Mensch mit dem Gelde als Lohn der Arbeit in Verbindung
gesetzt wird, je weniger er in seinem Beruf mit etwas andern: als nur dem
Gelde zu thun hat, um so geringer wird der sittliche Inhalt seiner Arbeit sein.
Das Geld ist gewissermaßen nur eine Abstraktion, ein idealer Wert, und je
ausschließlicher man sich mit ihm beschäftigt, um so weiter entfernt man sich
von den realen Dingen und Vorgängen, die ihren Zweck in sich selbst haben
und hiervon ihre sittliche Berechtigung und ihren Wert herleiten. Die An¬
fertigung eines Stiefels ist moralisch wertvoller als die geistvollste Spekulation
an der Börse, denn der Stiefel kann gut oder schlecht, schön oder häßlich ge¬
macht, das Gefühl der Pflicht, der Ehre, der Schönheit kann in dem Schuster
geweckt, genährt werden durch seine Arbeit: der Börsenmann rechnet mit finan¬
ziellen oder politischen Abstraktionen, oder mit menschlichen Schwächen, was
vielleicht seinem Scharfsinn, aber keiner edlern sittlichen Kraft in ihm zu gute
kommen mag. Im allgemeinen wird der sittliche Wert des vorwiegend auf
Erwerb gerichteten Berufs um so mehr sinken, je näher dieser den Menschen
dem reinen Geldgeschäft bringt, und um so mehr steigen, je näher der Mensch
durch seine Arbeit dem Menschen und der Natur tritt. Es bedarf für den
Laudanum oder den Dorfhandwerker eines geringern Maßes ungeborner sitt¬
licher Kraft als für den städtischen Fabrikarbeiter oder den Börsenmann, daß
er in dem Daseinskampf keine moralische Einbuße erleidet, nicht weil jene
weniger der Versuchung ausgesetzt sind, sondern weil ihre Arbeit sie andauernd
" -^cnnmenhang mit bestimmten, nahestehenden Personen, Tieren,
Pflanzen, ja unorganischen Dingen hält, in Beziehungen, die den andern meist
abgehn. Denn der Fabrikarbeiter kann in keinen sittlichen Beziehungen zu


Wohin gehen wir?

um nährenden Boden, die „Landenge" die segensreich treibende Kraft sei, die
den Menschen zu industriellem Fortschritt, städtischem Wesen, zur Lohnarbeit
führe? Was aber heißt das anders, als daß die sogenannte höhere Kultur,
in der das Geld regiert, da anfängt, wo die Zufriedenheit aufhört, und da
endigen würde, wo die Unzufriedenheit endigte? Ist dieses Dogma nicht von
demselben Geiste, der den Neger zwingt, Kleider zu tragen, deren er nicht
bedarf, nur damit er arbeiten müsse, um sie bezahlen zu können, und unglücklich
werde, um die weißen Träger der Kultur zu bereichern? Die Naturalwirtschaft
ist die einzig gesunde Form des Erwerbs, die Form, die den Menschen mit
der Natur in Verbindung erhält, ihn harmonisch entwickelt, die den Kapitalismus
in Schranken hält, den Menschen nicht einseitig spezialisiert, ihn nicht dem
seelenlosen, herzlosen Mammon unterjocht. Aber die Kultur hat leider nicht
das Glück des Einzelnen zum Richtung weihenden Polarstern, sondern einen
geheimnisvollen Lenker, dem wir folgen müssen, ob wir wollen oder nicht.
Und dieser Lenker hat noch alle Völker in ihrer Entwicklung zu Kulturvölkern
einmal von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft hinübergedrüngt. Wir
konnten dein nicht entgehn, und einmal beim Gelde angelangt, kommen wir
bald auch zum Papiergelde und zum Kapitalismus und müssen uns nun damit
zurechtfinden, so gut wir können. Je unmittelbarer auf der Stufenleiter des
Erwerbslebens der Mensch mit dem Gelde als Lohn der Arbeit in Verbindung
gesetzt wird, je weniger er in seinem Beruf mit etwas andern: als nur dem
Gelde zu thun hat, um so geringer wird der sittliche Inhalt seiner Arbeit sein.
Das Geld ist gewissermaßen nur eine Abstraktion, ein idealer Wert, und je
ausschließlicher man sich mit ihm beschäftigt, um so weiter entfernt man sich
von den realen Dingen und Vorgängen, die ihren Zweck in sich selbst haben
und hiervon ihre sittliche Berechtigung und ihren Wert herleiten. Die An¬
fertigung eines Stiefels ist moralisch wertvoller als die geistvollste Spekulation
an der Börse, denn der Stiefel kann gut oder schlecht, schön oder häßlich ge¬
macht, das Gefühl der Pflicht, der Ehre, der Schönheit kann in dem Schuster
geweckt, genährt werden durch seine Arbeit: der Börsenmann rechnet mit finan¬
ziellen oder politischen Abstraktionen, oder mit menschlichen Schwächen, was
vielleicht seinem Scharfsinn, aber keiner edlern sittlichen Kraft in ihm zu gute
kommen mag. Im allgemeinen wird der sittliche Wert des vorwiegend auf
Erwerb gerichteten Berufs um so mehr sinken, je näher dieser den Menschen
dem reinen Geldgeschäft bringt, und um so mehr steigen, je näher der Mensch
durch seine Arbeit dem Menschen und der Natur tritt. Es bedarf für den
Laudanum oder den Dorfhandwerker eines geringern Maßes ungeborner sitt¬
licher Kraft als für den städtischen Fabrikarbeiter oder den Börsenmann, daß
er in dem Daseinskampf keine moralische Einbuße erleidet, nicht weil jene
weniger der Versuchung ausgesetzt sind, sondern weil ihre Arbeit sie andauernd
" -^cnnmenhang mit bestimmten, nahestehenden Personen, Tieren,
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[0173] Wohin gehen wir? um nährenden Boden, die „Landenge" die segensreich treibende Kraft sei, die den Menschen zu industriellem Fortschritt, städtischem Wesen, zur Lohnarbeit führe? Was aber heißt das anders, als daß die sogenannte höhere Kultur, in der das Geld regiert, da anfängt, wo die Zufriedenheit aufhört, und da endigen würde, wo die Unzufriedenheit endigte? Ist dieses Dogma nicht von demselben Geiste, der den Neger zwingt, Kleider zu tragen, deren er nicht bedarf, nur damit er arbeiten müsse, um sie bezahlen zu können, und unglücklich werde, um die weißen Träger der Kultur zu bereichern? Die Naturalwirtschaft ist die einzig gesunde Form des Erwerbs, die Form, die den Menschen mit der Natur in Verbindung erhält, ihn harmonisch entwickelt, die den Kapitalismus in Schranken hält, den Menschen nicht einseitig spezialisiert, ihn nicht dem seelenlosen, herzlosen Mammon unterjocht. Aber die Kultur hat leider nicht das Glück des Einzelnen zum Richtung weihenden Polarstern, sondern einen geheimnisvollen Lenker, dem wir folgen müssen, ob wir wollen oder nicht. Und dieser Lenker hat noch alle Völker in ihrer Entwicklung zu Kulturvölkern einmal von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft hinübergedrüngt. Wir konnten dein nicht entgehn, und einmal beim Gelde angelangt, kommen wir bald auch zum Papiergelde und zum Kapitalismus und müssen uns nun damit zurechtfinden, so gut wir können. Je unmittelbarer auf der Stufenleiter des Erwerbslebens der Mensch mit dem Gelde als Lohn der Arbeit in Verbindung gesetzt wird, je weniger er in seinem Beruf mit etwas andern: als nur dem Gelde zu thun hat, um so geringer wird der sittliche Inhalt seiner Arbeit sein. Das Geld ist gewissermaßen nur eine Abstraktion, ein idealer Wert, und je ausschließlicher man sich mit ihm beschäftigt, um so weiter entfernt man sich von den realen Dingen und Vorgängen, die ihren Zweck in sich selbst haben und hiervon ihre sittliche Berechtigung und ihren Wert herleiten. Die An¬ fertigung eines Stiefels ist moralisch wertvoller als die geistvollste Spekulation an der Börse, denn der Stiefel kann gut oder schlecht, schön oder häßlich ge¬ macht, das Gefühl der Pflicht, der Ehre, der Schönheit kann in dem Schuster geweckt, genährt werden durch seine Arbeit: der Börsenmann rechnet mit finan¬ ziellen oder politischen Abstraktionen, oder mit menschlichen Schwächen, was vielleicht seinem Scharfsinn, aber keiner edlern sittlichen Kraft in ihm zu gute kommen mag. Im allgemeinen wird der sittliche Wert des vorwiegend auf Erwerb gerichteten Berufs um so mehr sinken, je näher dieser den Menschen dem reinen Geldgeschäft bringt, und um so mehr steigen, je näher der Mensch durch seine Arbeit dem Menschen und der Natur tritt. Es bedarf für den Laudanum oder den Dorfhandwerker eines geringern Maßes ungeborner sitt¬ licher Kraft als für den städtischen Fabrikarbeiter oder den Börsenmann, daß er in dem Daseinskampf keine moralische Einbuße erleidet, nicht weil jene weniger der Versuchung ausgesetzt sind, sondern weil ihre Arbeit sie andauernd " -^cnnmenhang mit bestimmten, nahestehenden Personen, Tieren, Pflanzen, ja unorganischen Dingen hält, in Beziehungen, die den andern meist abgehn. Denn der Fabrikarbeiter kann in keinen sittlichen Beziehungen zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/173>, abgerufen am 03.07.2024.