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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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den Schatten der Zukunft ein zweiter Innocenz III. hervortreten und eine
vierte Lateransynode, und noch einmal werden die Flammen des Jnquisitions-
gerichts prasselnd gell Himmel züngeln, denn die Welt -- und auch die Ger¬
manen -- wird sich noch immer lieber syro-ägyptischen Mysterien in die Arme
werfen, als sich an den faden Salbadereien ethischer Gesellschaften erbauen.
Und die Welt wird recht daran thun. Andrerseits ist ein abstrakter, kasuistisch¬
dogmatischer, mit römischem Aberglauben infizierter Protestantismus, wie ihn
uns die Reformation in verschiednen Abarten Übermacht hat, keine lebendige
Kraft. Er birgt eine Kraft, gewiß! eine große: die germanische Seele; doch
bedeutet dieses Kaleidoskop vielfältiger und innerlich inkonsequenter Intoleranzen
ein Hemmnis für diese Seele, nicht eine Fördrung; daher die tiefe Indifferenz
der Mehrheit seiner Bekenner und ein bejammernswertes Brachliegen der größten
Herzensgewalt: der religiösen. Rom mag dagegen als dogmatische Religion
schwach sein seine Dogmatik ist wenigstens konsequent; außerdem ist gerade
diese Kirche -- sobald ihr nur gewisse Zugeständnisse gemacht werden --
eigentümlich tolerant und weitherzig, sie ist allumfassend wie sonst einzig der
Buddhismus und versteht es, allen Charakteren, allen Geistes- und Herzens¬
anlagen eine Heimat, eine vivitss ohl zu bereiten, worin der Skeptiker, der
(gleich manchem Papste) kaum Christ zu nennen ist, Hand in Hand geht mit
dem in heidnischen Superstitionen befangnen Durchschnittsgeist und mit dem
innigsten Schwärmer, z. B. einem Bernard von Clairvaux, dessen Seele sich
berauscht in der Fülle des Hauses Gottes und neuen Wein mit Christo im
Reiche seines Vaters trinkt." Diese Worte drücken die Überzeugung und die
Empfindungen von vielen tausend wackern Protestanten aus, trotzdem können
wir auch sie nicht ohne einige kritische Bemerkungen wiedergeben. Was eine
ideale Wiedergeburt hindert, das siud nicht alte jüdisch-römische Glaubensfetzen,
sondern ganz moderne Dividenden. Für das Bedürfnis des Einzelnen ist auch
gar keine neue Religion nötig; zu allen Zeiten hat jeder so viel ideale Religion
gehabt, als er zu haben fähig war, und keine Kirche hat ihn daran gehindert.
Die Konflikte entstanden teils aus der Kritik des äußern Kirchenwesens, teils
aus der Propaganda für die eigne Auffassung der Religion. Diese eigne Auf¬
fassung mit dem große Menschenmengen umfassenden äußern Kirchenwesen in
Übereinstimmung zu bringen ist zu allen Zeiten schwierig gewesen, heute
schwieriger als je, weil es mehr selbständige Denker oder wenigstens Grübler
giebt. Aber von einer religiösen Wiedergeburt des Volkes kann die Hebung
oder die Milderung des Übelstandes nicht erwartet werden -- die Weltgeschichte
kennt keinen Fall einer solchen Wiedergeburt --, sondern nur von einem
religiösen Genie und einer für dessen Wirken günstigen Konstellation, zwei
Dingen, die wir nicht machen können, sondern in Ruhe von Gott erwarten
müssen. Daß zu lange Verzögerung eines solchen Heils die Protestanten ins
Papsttum zurückwerfen werde, ist bei der Schwäche des religiösen Bedürfnisses
unsers heutigen Geschlechts sehr unwahrscheinlich; da sich vielmehr, wie auch
Chamberlain hervorhebt, das Zahlenverhältnis der Konfessionen mit reißender


den Schatten der Zukunft ein zweiter Innocenz III. hervortreten und eine
vierte Lateransynode, und noch einmal werden die Flammen des Jnquisitions-
gerichts prasselnd gell Himmel züngeln, denn die Welt — und auch die Ger¬
manen — wird sich noch immer lieber syro-ägyptischen Mysterien in die Arme
werfen, als sich an den faden Salbadereien ethischer Gesellschaften erbauen.
Und die Welt wird recht daran thun. Andrerseits ist ein abstrakter, kasuistisch¬
dogmatischer, mit römischem Aberglauben infizierter Protestantismus, wie ihn
uns die Reformation in verschiednen Abarten Übermacht hat, keine lebendige
Kraft. Er birgt eine Kraft, gewiß! eine große: die germanische Seele; doch
bedeutet dieses Kaleidoskop vielfältiger und innerlich inkonsequenter Intoleranzen
ein Hemmnis für diese Seele, nicht eine Fördrung; daher die tiefe Indifferenz
der Mehrheit seiner Bekenner und ein bejammernswertes Brachliegen der größten
Herzensgewalt: der religiösen. Rom mag dagegen als dogmatische Religion
schwach sein seine Dogmatik ist wenigstens konsequent; außerdem ist gerade
diese Kirche — sobald ihr nur gewisse Zugeständnisse gemacht werden —
eigentümlich tolerant und weitherzig, sie ist allumfassend wie sonst einzig der
Buddhismus und versteht es, allen Charakteren, allen Geistes- und Herzens¬
anlagen eine Heimat, eine vivitss ohl zu bereiten, worin der Skeptiker, der
(gleich manchem Papste) kaum Christ zu nennen ist, Hand in Hand geht mit
dem in heidnischen Superstitionen befangnen Durchschnittsgeist und mit dem
innigsten Schwärmer, z. B. einem Bernard von Clairvaux, dessen Seele sich
berauscht in der Fülle des Hauses Gottes und neuen Wein mit Christo im
Reiche seines Vaters trinkt." Diese Worte drücken die Überzeugung und die
Empfindungen von vielen tausend wackern Protestanten aus, trotzdem können
wir auch sie nicht ohne einige kritische Bemerkungen wiedergeben. Was eine
ideale Wiedergeburt hindert, das siud nicht alte jüdisch-römische Glaubensfetzen,
sondern ganz moderne Dividenden. Für das Bedürfnis des Einzelnen ist auch
gar keine neue Religion nötig; zu allen Zeiten hat jeder so viel ideale Religion
gehabt, als er zu haben fähig war, und keine Kirche hat ihn daran gehindert.
Die Konflikte entstanden teils aus der Kritik des äußern Kirchenwesens, teils
aus der Propaganda für die eigne Auffassung der Religion. Diese eigne Auf¬
fassung mit dem große Menschenmengen umfassenden äußern Kirchenwesen in
Übereinstimmung zu bringen ist zu allen Zeiten schwierig gewesen, heute
schwieriger als je, weil es mehr selbständige Denker oder wenigstens Grübler
giebt. Aber von einer religiösen Wiedergeburt des Volkes kann die Hebung
oder die Milderung des Übelstandes nicht erwartet werden — die Weltgeschichte
kennt keinen Fall einer solchen Wiedergeburt —, sondern nur von einem
religiösen Genie und einer für dessen Wirken günstigen Konstellation, zwei
Dingen, die wir nicht machen können, sondern in Ruhe von Gott erwarten
müssen. Daß zu lange Verzögerung eines solchen Heils die Protestanten ins
Papsttum zurückwerfen werde, ist bei der Schwäche des religiösen Bedürfnisses
unsers heutigen Geschlechts sehr unwahrscheinlich; da sich vielmehr, wie auch
Chamberlain hervorhebt, das Zahlenverhältnis der Konfessionen mit reißender


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/160>, abgerufen am 03.07.2024.