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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Der Aanivf zwischen Rom und den Germanen

Ja, giebt es denn in London weder Schmutz, noch Roheit, noch Ignoranz,
noch Lüge, noch Armut?") In unserm Vaterlande endlich hat es nach der
Reformation Zeiten gegeben, wo von dem Hauptmerkmal des Germanentums,
der Freiheit -- man mag das Wort nehmen, in welchem Sinne man will --
blutwenig zu sehen war, und heute, wo eine ungeheure Expansionskrnft und
Lust zu den schönsten Hoffnungen berechtigt, erzeugt das wie? und wo? nicht
wenig bange Sorgen. Geographisch ist die Herrschaft der Deutschen auf einen
engern Raum zusammengedrängt als je seit tausend Jahren. Zum Trost
können wir uns zwar mit Chcunberlain sagen, daß nur in enger äußerer Um¬
grenzung die Geisteskraft ins Grenzenlose wächst, und daß die Römer, indem
sie sich über ihre Stadtmauern ausdehnten und den Erdkreis unterjochten, sich
selbst verloren haben, worüber unser Autor sehr schöne Betrachtungen anstellt;
aber man darf auch nicht vergessen, daß die Römer keine Wahl hatten, und
daß sie, wenn sie sich behaupten wollten, Weltbeherrscher werden mußten.
Also, um unser Urteil zusammen zu fassen: germanisch und urgermanisch ist
ein sehr bequemes Schema, und ein Schema, das gewiß nicht eines bedeutenden
Wahrheitsgehalts entbehrt, aber die ganze Mannigfaltigkeit der historischen Er¬
scheinungen läßt sich doch nicht darin unterbringen, und sehr vieles an ihnen
bleibt teils unerklärt, teils unerklärlich.

Die Leser sind ja wohl verständig genug, ein Werk uicht nach einer solchen
Kritik der Grundanschauungen des Verfassers zu beurteilen. Nicht in diesen
Grundnnschauungcu liegt der Wert von Chamberlains Buche, sondern in dem
Reichtum an originellen Auffassungen und Verbindungen historischer Thatsachen
und in der Gemütsfülle, mit denen er seine Dogmen entwickelt, und in der
Kraft und Schönheit seiner Darstellung. Um wenigstens von der letzten einen
Begriff zu geben, legen wir die Seite 646 als Probe vor: "Findet nicht bald
unter uns eine mächtige, gestaltnngskräftigc Wiedergeburt idealer Gesinnung
statt, und zwar eine spezifisch religiöse Wiedergeburt, gelingt es uns nicht bald,
die fremden Fetzen, die an unserm Christentum wie Paniere obligatorischer
Heuchelei und UnWahrscheinlichkeit noch hängen, herunterzureißen, haben wir
nicht mehr die schöpferische Kraft, um aus den Worten und dem Anblick des
gekreuzigten Menschensohns eine vollkommne, vollkommen lebendige, der Wahr¬
heit unsers Wesens und unsrer Anlagen, dem gegenwärtigen Zustand unsrer
Kultur entsprechende Religion zu schaffe", eine Religion, so unmittelbar über¬
zeugend, so hinreißend schön, so gegenwärtig, so plastisch beweglich, so ewig
wahr und doch so neu, daß wir uns ihr hingeben müssen wie das Weib ihrem
Geliebten, fraglos, sicher, begeistert, eine Religion, so genau unsern: germa¬
nischen Leben angepaßt -- diesem hochbeanlagten, doch besonders zarten und
ehe ^fallenden Wesen --, daß sie die Fähigkeit hat, uns im Innersten zu
erfassen und zu veredeln und zu kräftigen: gelingt das nicht, so wird aus



In dem Augenblick, wo ich das geschrieben habe, lese ich das vernichtende Urteil, das
Mommsen in seinem Briefe an Sidney Whitman über die heutigen Engländer fällt.
Der Aanivf zwischen Rom und den Germanen

Ja, giebt es denn in London weder Schmutz, noch Roheit, noch Ignoranz,
noch Lüge, noch Armut?") In unserm Vaterlande endlich hat es nach der
Reformation Zeiten gegeben, wo von dem Hauptmerkmal des Germanentums,
der Freiheit — man mag das Wort nehmen, in welchem Sinne man will —
blutwenig zu sehen war, und heute, wo eine ungeheure Expansionskrnft und
Lust zu den schönsten Hoffnungen berechtigt, erzeugt das wie? und wo? nicht
wenig bange Sorgen. Geographisch ist die Herrschaft der Deutschen auf einen
engern Raum zusammengedrängt als je seit tausend Jahren. Zum Trost
können wir uns zwar mit Chcunberlain sagen, daß nur in enger äußerer Um¬
grenzung die Geisteskraft ins Grenzenlose wächst, und daß die Römer, indem
sie sich über ihre Stadtmauern ausdehnten und den Erdkreis unterjochten, sich
selbst verloren haben, worüber unser Autor sehr schöne Betrachtungen anstellt;
aber man darf auch nicht vergessen, daß die Römer keine Wahl hatten, und
daß sie, wenn sie sich behaupten wollten, Weltbeherrscher werden mußten.
Also, um unser Urteil zusammen zu fassen: germanisch und urgermanisch ist
ein sehr bequemes Schema, und ein Schema, das gewiß nicht eines bedeutenden
Wahrheitsgehalts entbehrt, aber die ganze Mannigfaltigkeit der historischen Er¬
scheinungen läßt sich doch nicht darin unterbringen, und sehr vieles an ihnen
bleibt teils unerklärt, teils unerklärlich.

Die Leser sind ja wohl verständig genug, ein Werk uicht nach einer solchen
Kritik der Grundanschauungen des Verfassers zu beurteilen. Nicht in diesen
Grundnnschauungcu liegt der Wert von Chamberlains Buche, sondern in dem
Reichtum an originellen Auffassungen und Verbindungen historischer Thatsachen
und in der Gemütsfülle, mit denen er seine Dogmen entwickelt, und in der
Kraft und Schönheit seiner Darstellung. Um wenigstens von der letzten einen
Begriff zu geben, legen wir die Seite 646 als Probe vor: „Findet nicht bald
unter uns eine mächtige, gestaltnngskräftigc Wiedergeburt idealer Gesinnung
statt, und zwar eine spezifisch religiöse Wiedergeburt, gelingt es uns nicht bald,
die fremden Fetzen, die an unserm Christentum wie Paniere obligatorischer
Heuchelei und UnWahrscheinlichkeit noch hängen, herunterzureißen, haben wir
nicht mehr die schöpferische Kraft, um aus den Worten und dem Anblick des
gekreuzigten Menschensohns eine vollkommne, vollkommen lebendige, der Wahr¬
heit unsers Wesens und unsrer Anlagen, dem gegenwärtigen Zustand unsrer
Kultur entsprechende Religion zu schaffe», eine Religion, so unmittelbar über¬
zeugend, so hinreißend schön, so gegenwärtig, so plastisch beweglich, so ewig
wahr und doch so neu, daß wir uns ihr hingeben müssen wie das Weib ihrem
Geliebten, fraglos, sicher, begeistert, eine Religion, so genau unsern: germa¬
nischen Leben angepaßt — diesem hochbeanlagten, doch besonders zarten und
ehe ^fallenden Wesen —, daß sie die Fähigkeit hat, uns im Innersten zu
erfassen und zu veredeln und zu kräftigen: gelingt das nicht, so wird aus



In dem Augenblick, wo ich das geschrieben habe, lese ich das vernichtende Urteil, das
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[0159] Der Aanivf zwischen Rom und den Germanen Ja, giebt es denn in London weder Schmutz, noch Roheit, noch Ignoranz, noch Lüge, noch Armut?") In unserm Vaterlande endlich hat es nach der Reformation Zeiten gegeben, wo von dem Hauptmerkmal des Germanentums, der Freiheit — man mag das Wort nehmen, in welchem Sinne man will — blutwenig zu sehen war, und heute, wo eine ungeheure Expansionskrnft und Lust zu den schönsten Hoffnungen berechtigt, erzeugt das wie? und wo? nicht wenig bange Sorgen. Geographisch ist die Herrschaft der Deutschen auf einen engern Raum zusammengedrängt als je seit tausend Jahren. Zum Trost können wir uns zwar mit Chcunberlain sagen, daß nur in enger äußerer Um¬ grenzung die Geisteskraft ins Grenzenlose wächst, und daß die Römer, indem sie sich über ihre Stadtmauern ausdehnten und den Erdkreis unterjochten, sich selbst verloren haben, worüber unser Autor sehr schöne Betrachtungen anstellt; aber man darf auch nicht vergessen, daß die Römer keine Wahl hatten, und daß sie, wenn sie sich behaupten wollten, Weltbeherrscher werden mußten. Also, um unser Urteil zusammen zu fassen: germanisch und urgermanisch ist ein sehr bequemes Schema, und ein Schema, das gewiß nicht eines bedeutenden Wahrheitsgehalts entbehrt, aber die ganze Mannigfaltigkeit der historischen Er¬ scheinungen läßt sich doch nicht darin unterbringen, und sehr vieles an ihnen bleibt teils unerklärt, teils unerklärlich. Die Leser sind ja wohl verständig genug, ein Werk uicht nach einer solchen Kritik der Grundanschauungen des Verfassers zu beurteilen. Nicht in diesen Grundnnschauungcu liegt der Wert von Chamberlains Buche, sondern in dem Reichtum an originellen Auffassungen und Verbindungen historischer Thatsachen und in der Gemütsfülle, mit denen er seine Dogmen entwickelt, und in der Kraft und Schönheit seiner Darstellung. Um wenigstens von der letzten einen Begriff zu geben, legen wir die Seite 646 als Probe vor: „Findet nicht bald unter uns eine mächtige, gestaltnngskräftigc Wiedergeburt idealer Gesinnung statt, und zwar eine spezifisch religiöse Wiedergeburt, gelingt es uns nicht bald, die fremden Fetzen, die an unserm Christentum wie Paniere obligatorischer Heuchelei und UnWahrscheinlichkeit noch hängen, herunterzureißen, haben wir nicht mehr die schöpferische Kraft, um aus den Worten und dem Anblick des gekreuzigten Menschensohns eine vollkommne, vollkommen lebendige, der Wahr¬ heit unsers Wesens und unsrer Anlagen, dem gegenwärtigen Zustand unsrer Kultur entsprechende Religion zu schaffe», eine Religion, so unmittelbar über¬ zeugend, so hinreißend schön, so gegenwärtig, so plastisch beweglich, so ewig wahr und doch so neu, daß wir uns ihr hingeben müssen wie das Weib ihrem Geliebten, fraglos, sicher, begeistert, eine Religion, so genau unsern: germa¬ nischen Leben angepaßt — diesem hochbeanlagten, doch besonders zarten und ehe ^fallenden Wesen —, daß sie die Fähigkeit hat, uns im Innersten zu erfassen und zu veredeln und zu kräftigen: gelingt das nicht, so wird aus In dem Augenblick, wo ich das geschrieben habe, lese ich das vernichtende Urteil, das Mommsen in seinem Briefe an Sidney Whitman über die heutigen Engländer fällt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/159>, abgerufen am 01.10.2024.