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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Der Aampf zwischen Rom und den Germanen

ihre Freiheit verbürgte, sich eine ihnen angemessene Religion zu schaffen.
Luthers Kirchen gründnng schätzt Chamberlain sehr gering ein, ohne die tiefe,
echt germanische Religiosität Luthers zu verkennen, die freilich in den kirch¬
lichen Fesseln verkrüppelt sei. Mit der Entscheidung für oder gegen die
Reformation sei die Zukunft der Volker entschieden gewesen, und die franzö¬
sische Revolution sei nicht etwa als eine zweite Entscheidung anzusehen, sondern
nur als der blutige Abschluß einer Tragödie: der Ausrottung des germanischen
Elements in Frankreich. "Lediglich dadurch, daß die Reformation in Frank¬
reich nicht zum Durchbruch hatte kommen können, wurde die Revolution un¬
umgänglich. Frankreich war noch zu reich an unverfälscht germanischem Blute,
als daß es wie Spanien schweigend hätte verrotten können, zu arm daran,
daß es sich ans der verhängnisvollen Umarmung der theokratischen Weltmacht
vollends hätte losringen können"; wozu außer manchem andern zu bemerken
wäre, daß in der Zeit der Jesuitennnstreibung, die der Revolution vorherging,
Rom kaum noch als eine Macht bezeichnet werden konnte.

Wenn Chamberlain die Entscheidung für oder gegen die Reformation zu¬
gleich über das Völkerschicksal entscheiden läßt, so meint er damit natürlich
nicht, daß den? neuen Kirchenwesen eine rettende und machtverleihende Kraft
inne gewohnt hätte, sondern daß in dieser Entscheidung offenbar geworden sei,
welche Völker Lebenskraft hatten und welche nicht, oder, was bei ihm dasselbe
ist, welche Volker die gehörige Menge germanischen Bluts, und welche zuviel
Chaosstoff enthielten. Die Schwäche und der Niedergang rührt nach ihm ganz
allein vom Schwinden, von der Verdünnung oder Ausrottung des germanischen
Bluts her; eine heute sehr beliebte Erklüruugsweise, der auch Bismarck ge¬
legentlich beigepflichtet hat. Alle historischen Erscheinungen aus einer einzigen
Ursache ableiten, das ist wissenschaftlich bedenklich, aber es verleiht der Dar-
stellung Geschlossenheit, Durchsichtigkeit und Kraft, und daß das größere oder
geringere Quantum germanischen Bluts, das jedes der modernen Völker ent¬
hält, für sein Schicksal von der größten Bedeutung ist, daran kann ja niemand
zweifeln. Chamberlain hat sich, nebenbei bemerkt, auch die Vismarckische An¬
sicht angeeignet, daß das unverfälschte Germanenblut für die Staatenbildung
ungeeignet mache und daher eines Zusatzes von Slawenblut bedurft habe; er
sieht aber nicht etwa brünette Färbung für einen Beweis der Mischung an,
glaubt vielmehr, daß reine Germanen durch den Einfluß von Klima nud Boden
brünett werden können, daß die Slawen ursprünglich blond gewesen und über¬
haupt jüngere Brüder der Germanen, aber zu ihrem Unglück durch Beimischung
tatarischen und sonst fremden Bluts verschlechtert worden seien. Wir lassen
^ ^utschwundtheorie gelten, legen aber gegen den Versuch, ihre eins-
??s???l Geltung zum Dogma zu erheben, Verwahrung ein, weil sich diese
ÄUSMreßlnlMt nicht beweisen läßt, und weil ihr allerlei positive Bedenken
entgegenstehn, wie sich schon bei einem ganz flüchtigen Überblick über die Völker
zeigt. Daß die Hugenotten und die Jausenisten sämtlich Germanen gewesen
seien, >art sich ebenso wenig feststellen lassen wie die Abkunft ihrer Bedränger


Der Aampf zwischen Rom und den Germanen

ihre Freiheit verbürgte, sich eine ihnen angemessene Religion zu schaffen.
Luthers Kirchen gründnng schätzt Chamberlain sehr gering ein, ohne die tiefe,
echt germanische Religiosität Luthers zu verkennen, die freilich in den kirch¬
lichen Fesseln verkrüppelt sei. Mit der Entscheidung für oder gegen die
Reformation sei die Zukunft der Volker entschieden gewesen, und die franzö¬
sische Revolution sei nicht etwa als eine zweite Entscheidung anzusehen, sondern
nur als der blutige Abschluß einer Tragödie: der Ausrottung des germanischen
Elements in Frankreich. „Lediglich dadurch, daß die Reformation in Frank¬
reich nicht zum Durchbruch hatte kommen können, wurde die Revolution un¬
umgänglich. Frankreich war noch zu reich an unverfälscht germanischem Blute,
als daß es wie Spanien schweigend hätte verrotten können, zu arm daran,
daß es sich ans der verhängnisvollen Umarmung der theokratischen Weltmacht
vollends hätte losringen können"; wozu außer manchem andern zu bemerken
wäre, daß in der Zeit der Jesuitennnstreibung, die der Revolution vorherging,
Rom kaum noch als eine Macht bezeichnet werden konnte.

Wenn Chamberlain die Entscheidung für oder gegen die Reformation zu¬
gleich über das Völkerschicksal entscheiden läßt, so meint er damit natürlich
nicht, daß den? neuen Kirchenwesen eine rettende und machtverleihende Kraft
inne gewohnt hätte, sondern daß in dieser Entscheidung offenbar geworden sei,
welche Völker Lebenskraft hatten und welche nicht, oder, was bei ihm dasselbe
ist, welche Volker die gehörige Menge germanischen Bluts, und welche zuviel
Chaosstoff enthielten. Die Schwäche und der Niedergang rührt nach ihm ganz
allein vom Schwinden, von der Verdünnung oder Ausrottung des germanischen
Bluts her; eine heute sehr beliebte Erklüruugsweise, der auch Bismarck ge¬
legentlich beigepflichtet hat. Alle historischen Erscheinungen aus einer einzigen
Ursache ableiten, das ist wissenschaftlich bedenklich, aber es verleiht der Dar-
stellung Geschlossenheit, Durchsichtigkeit und Kraft, und daß das größere oder
geringere Quantum germanischen Bluts, das jedes der modernen Völker ent¬
hält, für sein Schicksal von der größten Bedeutung ist, daran kann ja niemand
zweifeln. Chamberlain hat sich, nebenbei bemerkt, auch die Vismarckische An¬
sicht angeeignet, daß das unverfälschte Germanenblut für die Staatenbildung
ungeeignet mache und daher eines Zusatzes von Slawenblut bedurft habe; er
sieht aber nicht etwa brünette Färbung für einen Beweis der Mischung an,
glaubt vielmehr, daß reine Germanen durch den Einfluß von Klima nud Boden
brünett werden können, daß die Slawen ursprünglich blond gewesen und über¬
haupt jüngere Brüder der Germanen, aber zu ihrem Unglück durch Beimischung
tatarischen und sonst fremden Bluts verschlechtert worden seien. Wir lassen
^ ^utschwundtheorie gelten, legen aber gegen den Versuch, ihre eins-
??s???l Geltung zum Dogma zu erheben, Verwahrung ein, weil sich diese
ÄUSMreßlnlMt nicht beweisen läßt, und weil ihr allerlei positive Bedenken
entgegenstehn, wie sich schon bei einem ganz flüchtigen Überblick über die Völker
zeigt. Daß die Hugenotten und die Jausenisten sämtlich Germanen gewesen
seien, >art sich ebenso wenig feststellen lassen wie die Abkunft ihrer Bedränger


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[0155] Der Aampf zwischen Rom und den Germanen ihre Freiheit verbürgte, sich eine ihnen angemessene Religion zu schaffen. Luthers Kirchen gründnng schätzt Chamberlain sehr gering ein, ohne die tiefe, echt germanische Religiosität Luthers zu verkennen, die freilich in den kirch¬ lichen Fesseln verkrüppelt sei. Mit der Entscheidung für oder gegen die Reformation sei die Zukunft der Volker entschieden gewesen, und die franzö¬ sische Revolution sei nicht etwa als eine zweite Entscheidung anzusehen, sondern nur als der blutige Abschluß einer Tragödie: der Ausrottung des germanischen Elements in Frankreich. „Lediglich dadurch, daß die Reformation in Frank¬ reich nicht zum Durchbruch hatte kommen können, wurde die Revolution un¬ umgänglich. Frankreich war noch zu reich an unverfälscht germanischem Blute, als daß es wie Spanien schweigend hätte verrotten können, zu arm daran, daß es sich ans der verhängnisvollen Umarmung der theokratischen Weltmacht vollends hätte losringen können"; wozu außer manchem andern zu bemerken wäre, daß in der Zeit der Jesuitennnstreibung, die der Revolution vorherging, Rom kaum noch als eine Macht bezeichnet werden konnte. Wenn Chamberlain die Entscheidung für oder gegen die Reformation zu¬ gleich über das Völkerschicksal entscheiden läßt, so meint er damit natürlich nicht, daß den? neuen Kirchenwesen eine rettende und machtverleihende Kraft inne gewohnt hätte, sondern daß in dieser Entscheidung offenbar geworden sei, welche Völker Lebenskraft hatten und welche nicht, oder, was bei ihm dasselbe ist, welche Volker die gehörige Menge germanischen Bluts, und welche zuviel Chaosstoff enthielten. Die Schwäche und der Niedergang rührt nach ihm ganz allein vom Schwinden, von der Verdünnung oder Ausrottung des germanischen Bluts her; eine heute sehr beliebte Erklüruugsweise, der auch Bismarck ge¬ legentlich beigepflichtet hat. Alle historischen Erscheinungen aus einer einzigen Ursache ableiten, das ist wissenschaftlich bedenklich, aber es verleiht der Dar- stellung Geschlossenheit, Durchsichtigkeit und Kraft, und daß das größere oder geringere Quantum germanischen Bluts, das jedes der modernen Völker ent¬ hält, für sein Schicksal von der größten Bedeutung ist, daran kann ja niemand zweifeln. Chamberlain hat sich, nebenbei bemerkt, auch die Vismarckische An¬ sicht angeeignet, daß das unverfälschte Germanenblut für die Staatenbildung ungeeignet mache und daher eines Zusatzes von Slawenblut bedurft habe; er sieht aber nicht etwa brünette Färbung für einen Beweis der Mischung an, glaubt vielmehr, daß reine Germanen durch den Einfluß von Klima nud Boden brünett werden können, daß die Slawen ursprünglich blond gewesen und über¬ haupt jüngere Brüder der Germanen, aber zu ihrem Unglück durch Beimischung tatarischen und sonst fremden Bluts verschlechtert worden seien. Wir lassen ^ ^utschwundtheorie gelten, legen aber gegen den Versuch, ihre eins- ??s???l Geltung zum Dogma zu erheben, Verwahrung ein, weil sich diese ÄUSMreßlnlMt nicht beweisen läßt, und weil ihr allerlei positive Bedenken entgegenstehn, wie sich schon bei einem ganz flüchtigen Überblick über die Völker zeigt. Daß die Hugenotten und die Jausenisten sämtlich Germanen gewesen seien, >art sich ebenso wenig feststellen lassen wie die Abkunft ihrer Bedränger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/155>, abgerufen am 03.07.2024.