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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Zur Frauonfrage

Freilich sind die Grenzen auch auf diesem Gebiete flüssig geworden. Un¬
klare Gedanken, die in ihren tiefern Ausgangspunkten und mit ihren Kon¬
sequenzen weit in die Unnatur der Emanzipativnstendenzen hineinreichen,
spielen mit größerer oder geringerer Klarheit much in die relativ berechtigten
Strömungen der Frauenbewegung hinein. Und diese Verquickung gesunder
Bestrebungen mit falschen Gedanken ist es vornehmlich, wodurch die Ge¬
winnung eines nüchternen Urteils über die heutige Frauenbewegung er¬
schwert wird.

Relativ berechtigt ist das Verlangen nach einer Erweiterung der an¬
ständigen Erwerbsthätigkeit für weibliche Personen. In allen Kulturvölkern
überwiegt die Zahl der Frauen notorisch die der Männer, in Preußen um
rund eine Million. Und noch immer wachst dieser Überschuß des weiblichen
Geschlechts in steigender Progression. Eine der wirksamsten Ursachen dieses
Mißverhältnisses ist die erschwerte Gründung eines Hausstands in den sozial
und wirtschaftlich besser gestellten Klassen. Wir sind, volkswirtschaftlich an¬
gesehen, reicher geworden. Aber mit der Güterproduktiou und ihrer ertrag¬
reichen Verwertung, mit dem kaum je dagewesenen Aufschwünge des Volks¬
wohlstands ist auch die Kluft zwischen Begüterten und Minderbegüterten größer
geworden, und neben der steigenden Wohlhabenheit der Industrie und des
Handels, sowie gewisser Zweige der geistigen Produktion lassen sich die viel¬
fachen Klagen über die Not der Landwirtschaft, der Gutsbesitzer und Bauern
nicht überhören und für große Bezirke nicht als unbegründet, zuweilen nicht
einmal als übertrieben bezeichnen. Wohl aber hat sich der Kaufwert des
Geldes verringert, und die auf eine zwar sichere, aber fest beschränkte Geld¬
einnahme angewiesenen Berufe, namentlich der Beamten- und Gelehrtenstand
leiden darunter um so empfindlicher, als durch die größere Menge des zirku¬
lierenden Geldes die Ansprüche an den einzelnen Haushalt, an seine Lebens¬
haltung allmählich in früher ungeahnter Weise gesteigert worden sind. Diese
Steigerung aber folgt festen wirtschaftlichen Gesetzen. Der einzelne kann sich
ihr, wenn sie ihm bewußt wird, meist nnr schwer, oft -- auch beim besten
Willen -- überhaupt nicht entziehn. Daraus erwachsen dann die Mißstände
depravierender Geldheiraten, und soweit es dazu nicht kommt oder kommen
kann, die sittlichen und sozialen Gefahren eines in erschreckendem Umfange zu¬
nehmenden freiwilligen oder unfreiwilligen Cölibats der Männer. Daraus aber
ergiebt sich auf der andern Seite eine unverhältnismäßig und unnatürlich
große Zahl unverheiratet bleibender Frauen. Diese müssen wohl oder übel
nach Lebensberufen suchen, um sich ein anstündiges Durchkommen zu verschaffen.
Der Ausdruck dieses Suchens und des stürmischen Anspruchs auf staatliche
und gesellschaftliche Hilfe dabei ist die moderne Frauenbewegung. Es ergiebt
sich hieraus von selbst der verwickelte Komplex sittlicher, psychischer, physischer,
politischer, sozialer, wirtschaftlicher und Erziehungsfragen, der sich unter dieser
allgemeinen Bezeichnung verbirgt.

Also Erweiterung der weiblichen Berufe. "Der eigentliche Beruf des


Zur Frauonfrage

Freilich sind die Grenzen auch auf diesem Gebiete flüssig geworden. Un¬
klare Gedanken, die in ihren tiefern Ausgangspunkten und mit ihren Kon¬
sequenzen weit in die Unnatur der Emanzipativnstendenzen hineinreichen,
spielen mit größerer oder geringerer Klarheit much in die relativ berechtigten
Strömungen der Frauenbewegung hinein. Und diese Verquickung gesunder
Bestrebungen mit falschen Gedanken ist es vornehmlich, wodurch die Ge¬
winnung eines nüchternen Urteils über die heutige Frauenbewegung er¬
schwert wird.

Relativ berechtigt ist das Verlangen nach einer Erweiterung der an¬
ständigen Erwerbsthätigkeit für weibliche Personen. In allen Kulturvölkern
überwiegt die Zahl der Frauen notorisch die der Männer, in Preußen um
rund eine Million. Und noch immer wachst dieser Überschuß des weiblichen
Geschlechts in steigender Progression. Eine der wirksamsten Ursachen dieses
Mißverhältnisses ist die erschwerte Gründung eines Hausstands in den sozial
und wirtschaftlich besser gestellten Klassen. Wir sind, volkswirtschaftlich an¬
gesehen, reicher geworden. Aber mit der Güterproduktiou und ihrer ertrag¬
reichen Verwertung, mit dem kaum je dagewesenen Aufschwünge des Volks¬
wohlstands ist auch die Kluft zwischen Begüterten und Minderbegüterten größer
geworden, und neben der steigenden Wohlhabenheit der Industrie und des
Handels, sowie gewisser Zweige der geistigen Produktion lassen sich die viel¬
fachen Klagen über die Not der Landwirtschaft, der Gutsbesitzer und Bauern
nicht überhören und für große Bezirke nicht als unbegründet, zuweilen nicht
einmal als übertrieben bezeichnen. Wohl aber hat sich der Kaufwert des
Geldes verringert, und die auf eine zwar sichere, aber fest beschränkte Geld¬
einnahme angewiesenen Berufe, namentlich der Beamten- und Gelehrtenstand
leiden darunter um so empfindlicher, als durch die größere Menge des zirku¬
lierenden Geldes die Ansprüche an den einzelnen Haushalt, an seine Lebens¬
haltung allmählich in früher ungeahnter Weise gesteigert worden sind. Diese
Steigerung aber folgt festen wirtschaftlichen Gesetzen. Der einzelne kann sich
ihr, wenn sie ihm bewußt wird, meist nnr schwer, oft — auch beim besten
Willen — überhaupt nicht entziehn. Daraus erwachsen dann die Mißstände
depravierender Geldheiraten, und soweit es dazu nicht kommt oder kommen
kann, die sittlichen und sozialen Gefahren eines in erschreckendem Umfange zu¬
nehmenden freiwilligen oder unfreiwilligen Cölibats der Männer. Daraus aber
ergiebt sich auf der andern Seite eine unverhältnismäßig und unnatürlich
große Zahl unverheiratet bleibender Frauen. Diese müssen wohl oder übel
nach Lebensberufen suchen, um sich ein anstündiges Durchkommen zu verschaffen.
Der Ausdruck dieses Suchens und des stürmischen Anspruchs auf staatliche
und gesellschaftliche Hilfe dabei ist die moderne Frauenbewegung. Es ergiebt
sich hieraus von selbst der verwickelte Komplex sittlicher, psychischer, physischer,
politischer, sozialer, wirtschaftlicher und Erziehungsfragen, der sich unter dieser
allgemeinen Bezeichnung verbirgt.

Also Erweiterung der weiblichen Berufe. „Der eigentliche Beruf des


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[0012] Zur Frauonfrage Freilich sind die Grenzen auch auf diesem Gebiete flüssig geworden. Un¬ klare Gedanken, die in ihren tiefern Ausgangspunkten und mit ihren Kon¬ sequenzen weit in die Unnatur der Emanzipativnstendenzen hineinreichen, spielen mit größerer oder geringerer Klarheit much in die relativ berechtigten Strömungen der Frauenbewegung hinein. Und diese Verquickung gesunder Bestrebungen mit falschen Gedanken ist es vornehmlich, wodurch die Ge¬ winnung eines nüchternen Urteils über die heutige Frauenbewegung er¬ schwert wird. Relativ berechtigt ist das Verlangen nach einer Erweiterung der an¬ ständigen Erwerbsthätigkeit für weibliche Personen. In allen Kulturvölkern überwiegt die Zahl der Frauen notorisch die der Männer, in Preußen um rund eine Million. Und noch immer wachst dieser Überschuß des weiblichen Geschlechts in steigender Progression. Eine der wirksamsten Ursachen dieses Mißverhältnisses ist die erschwerte Gründung eines Hausstands in den sozial und wirtschaftlich besser gestellten Klassen. Wir sind, volkswirtschaftlich an¬ gesehen, reicher geworden. Aber mit der Güterproduktiou und ihrer ertrag¬ reichen Verwertung, mit dem kaum je dagewesenen Aufschwünge des Volks¬ wohlstands ist auch die Kluft zwischen Begüterten und Minderbegüterten größer geworden, und neben der steigenden Wohlhabenheit der Industrie und des Handels, sowie gewisser Zweige der geistigen Produktion lassen sich die viel¬ fachen Klagen über die Not der Landwirtschaft, der Gutsbesitzer und Bauern nicht überhören und für große Bezirke nicht als unbegründet, zuweilen nicht einmal als übertrieben bezeichnen. Wohl aber hat sich der Kaufwert des Geldes verringert, und die auf eine zwar sichere, aber fest beschränkte Geld¬ einnahme angewiesenen Berufe, namentlich der Beamten- und Gelehrtenstand leiden darunter um so empfindlicher, als durch die größere Menge des zirku¬ lierenden Geldes die Ansprüche an den einzelnen Haushalt, an seine Lebens¬ haltung allmählich in früher ungeahnter Weise gesteigert worden sind. Diese Steigerung aber folgt festen wirtschaftlichen Gesetzen. Der einzelne kann sich ihr, wenn sie ihm bewußt wird, meist nnr schwer, oft — auch beim besten Willen — überhaupt nicht entziehn. Daraus erwachsen dann die Mißstände depravierender Geldheiraten, und soweit es dazu nicht kommt oder kommen kann, die sittlichen und sozialen Gefahren eines in erschreckendem Umfange zu¬ nehmenden freiwilligen oder unfreiwilligen Cölibats der Männer. Daraus aber ergiebt sich auf der andern Seite eine unverhältnismäßig und unnatürlich große Zahl unverheiratet bleibender Frauen. Diese müssen wohl oder übel nach Lebensberufen suchen, um sich ein anstündiges Durchkommen zu verschaffen. Der Ausdruck dieses Suchens und des stürmischen Anspruchs auf staatliche und gesellschaftliche Hilfe dabei ist die moderne Frauenbewegung. Es ergiebt sich hieraus von selbst der verwickelte Komplex sittlicher, psychischer, physischer, politischer, sozialer, wirtschaftlicher und Erziehungsfragen, der sich unter dieser allgemeinen Bezeichnung verbirgt. Also Erweiterung der weiblichen Berufe. „Der eigentliche Beruf des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/12>, abgerufen am 01.07.2024.