Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Religion und Volk in China

Praktischen Leben. Es war das Bestreben des Confucius, die alten Lehren der
ersten Könige, unter denen China ein märchenhaftes Glück genossen haben sollte,
wieder in Geltung zu bringen, und zwar versuchte er, eine Sittlichkeit ohne
die Stützen der übersinnlichen Welt zu verwirklichein So unumschränkt, wie
Confucius die Ethik gebaut hat auf den Naturbodeu des Menschenherzens,
ohne Glauben an ein Jenseits, ohne Hoffnung auf eine Vergeltung, ist das
nirgends geschehn. Viel Erfolg hat er damit nicht gehabt. Seine Lehren
werden zwar hoch gepriesen und sind offiziell die Richtschnur des Handelns,
wo aber die eignen Interessen des Chinesen in Frage kommen, erweist sich die
Anhänglichkeit an den großen Meister doch nur als sehr platonisch. Treue
und Redlichkeit schützte auch Confucius; sieht man darauf die Chinesen an, so
sollte man glauben, daß er eher das Gegenteil gelehrt hätte. Ansgeriistet mit
einem reichen Schatz moralischer Sentenzen, tritt der junge Mandarin in das
öffentliche Leben, aber er denkt nicht daran, diese Grundsätze in die Praxis
zu übertragen. Das absolvierte Studium des Confucius berechtigt ihn Wohl,
ein Amt auszuüben, aber es genügt nicht, es ihm zu verschaffen. Seine ganze
Existenz hängt von der herrschenden Gewohnheit ab, und diese Gewohnheit ist
Bestechung und Betrügerei. Sie wird überall angewandt, bei dem niedrigsten
wie bei dem höchste" Beamten, und wahrscheinlich mich dann, wenn man sich
dein kaiserlichen Thron nahen will. Und so abgestumpft ist der Chinese in
diesen Dingen, daß er nichts Böses darin findet. Seine Gedanken erstrecken
sich in erster Linie auf das Diesseits und auf sein Wohlbefinden. Er kennt
nur ein Glück, nämlich reich zu werde", und dieses zu erreichen, dahin geht
all sein Streben und seine Sehnsucht. Er hat einen außerordentlich ausge¬
bildeten Sinn für den Gelderwerb, er weiß so instinktmäßig seine Vorteile wahr
zunehmen, daß auf dieser Bahn niemand den Wettkampf mit ihm aufnehmen
kann. Das einzige, was den Gleichmut des Chinesen stören kann, ist das
Geldgeschäft. "Der Weise haßt die Heuchelei und das Verbergen seiner wahren
Wünsche unter falschen Vorwände"," lehrt Confucius. Die Lüge aber wird
im himmlischen Reiche nicht als tadelnswerte Handlung betrachtet, sofern sie
nicht allzu ungeschickt gesponnen ist. Einem Chinesen, der zu täuschen beab¬
sichtigt, kann man nur schwer auf die Spur komme".

Confucius hielt die Humanität und die Bruderliebe für das Tiefste der
alten Lehre. Er hatte die richtige und wichtige Einsicht, daß Strafgesetze und
deren Vollziehung nicht das Wesentlichste seien, sondern die Anleitung zum
Rechte und zur Tugend. Er träumte von einer glücklichen Zeit, wo es noch
keine Strafen gegeben habe, und nirgends wird mehr gestraft als im Reich
der Mitte, in keinem Lande geht es grausamer zu als in China. Die Strafen
der Verbrecher find der Mehrzahl nach unglaublich barbarischer Natur. China
kennt die Folter in der scheußlichsten Gestalt, Todesarten, zu denen das Zer¬
schneiden des Delinquenten gehört, und maßlose Prügel. "Der Weise verachtet
nicht den Bemitleidenswerten und Verlassenen," sagt Confucius, und ein hä߬
licher Charakterzug des Chinesen ist der auffallende Maugel an Mitgefühl für°


Grenzboten I 1900 12
Religion und Volk in China

Praktischen Leben. Es war das Bestreben des Confucius, die alten Lehren der
ersten Könige, unter denen China ein märchenhaftes Glück genossen haben sollte,
wieder in Geltung zu bringen, und zwar versuchte er, eine Sittlichkeit ohne
die Stützen der übersinnlichen Welt zu verwirklichein So unumschränkt, wie
Confucius die Ethik gebaut hat auf den Naturbodeu des Menschenherzens,
ohne Glauben an ein Jenseits, ohne Hoffnung auf eine Vergeltung, ist das
nirgends geschehn. Viel Erfolg hat er damit nicht gehabt. Seine Lehren
werden zwar hoch gepriesen und sind offiziell die Richtschnur des Handelns,
wo aber die eignen Interessen des Chinesen in Frage kommen, erweist sich die
Anhänglichkeit an den großen Meister doch nur als sehr platonisch. Treue
und Redlichkeit schützte auch Confucius; sieht man darauf die Chinesen an, so
sollte man glauben, daß er eher das Gegenteil gelehrt hätte. Ansgeriistet mit
einem reichen Schatz moralischer Sentenzen, tritt der junge Mandarin in das
öffentliche Leben, aber er denkt nicht daran, diese Grundsätze in die Praxis
zu übertragen. Das absolvierte Studium des Confucius berechtigt ihn Wohl,
ein Amt auszuüben, aber es genügt nicht, es ihm zu verschaffen. Seine ganze
Existenz hängt von der herrschenden Gewohnheit ab, und diese Gewohnheit ist
Bestechung und Betrügerei. Sie wird überall angewandt, bei dem niedrigsten
wie bei dem höchste» Beamten, und wahrscheinlich mich dann, wenn man sich
dein kaiserlichen Thron nahen will. Und so abgestumpft ist der Chinese in
diesen Dingen, daß er nichts Böses darin findet. Seine Gedanken erstrecken
sich in erster Linie auf das Diesseits und auf sein Wohlbefinden. Er kennt
nur ein Glück, nämlich reich zu werde», und dieses zu erreichen, dahin geht
all sein Streben und seine Sehnsucht. Er hat einen außerordentlich ausge¬
bildeten Sinn für den Gelderwerb, er weiß so instinktmäßig seine Vorteile wahr
zunehmen, daß auf dieser Bahn niemand den Wettkampf mit ihm aufnehmen
kann. Das einzige, was den Gleichmut des Chinesen stören kann, ist das
Geldgeschäft. „Der Weise haßt die Heuchelei und das Verbergen seiner wahren
Wünsche unter falschen Vorwände»," lehrt Confucius. Die Lüge aber wird
im himmlischen Reiche nicht als tadelnswerte Handlung betrachtet, sofern sie
nicht allzu ungeschickt gesponnen ist. Einem Chinesen, der zu täuschen beab¬
sichtigt, kann man nur schwer auf die Spur komme».

Confucius hielt die Humanität und die Bruderliebe für das Tiefste der
alten Lehre. Er hatte die richtige und wichtige Einsicht, daß Strafgesetze und
deren Vollziehung nicht das Wesentlichste seien, sondern die Anleitung zum
Rechte und zur Tugend. Er träumte von einer glücklichen Zeit, wo es noch
keine Strafen gegeben habe, und nirgends wird mehr gestraft als im Reich
der Mitte, in keinem Lande geht es grausamer zu als in China. Die Strafen
der Verbrecher find der Mehrzahl nach unglaublich barbarischer Natur. China
kennt die Folter in der scheußlichsten Gestalt, Todesarten, zu denen das Zer¬
schneiden des Delinquenten gehört, und maßlose Prügel. „Der Weise verachtet
nicht den Bemitleidenswerten und Verlassenen," sagt Confucius, und ein hä߬
licher Charakterzug des Chinesen ist der auffallende Maugel an Mitgefühl für°


Grenzboten I 1900 12
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0097" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/232649"/>
          <fw type="header" place="top"> Religion und Volk in China</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_277" prev="#ID_276"> Praktischen Leben. Es war das Bestreben des Confucius, die alten Lehren der<lb/>
ersten Könige, unter denen China ein märchenhaftes Glück genossen haben sollte,<lb/>
wieder in Geltung zu bringen, und zwar versuchte er, eine Sittlichkeit ohne<lb/>
die Stützen der übersinnlichen Welt zu verwirklichein So unumschränkt, wie<lb/>
Confucius die Ethik gebaut hat auf den Naturbodeu des Menschenherzens,<lb/>
ohne Glauben an ein Jenseits, ohne Hoffnung auf eine Vergeltung, ist das<lb/>
nirgends geschehn. Viel Erfolg hat er damit nicht gehabt. Seine Lehren<lb/>
werden zwar hoch gepriesen und sind offiziell die Richtschnur des Handelns,<lb/>
wo aber die eignen Interessen des Chinesen in Frage kommen, erweist sich die<lb/>
Anhänglichkeit an den großen Meister doch nur als sehr platonisch. Treue<lb/>
und Redlichkeit schützte auch Confucius; sieht man darauf die Chinesen an, so<lb/>
sollte man glauben, daß er eher das Gegenteil gelehrt hätte. Ansgeriistet mit<lb/>
einem reichen Schatz moralischer Sentenzen, tritt der junge Mandarin in das<lb/>
öffentliche Leben, aber er denkt nicht daran, diese Grundsätze in die Praxis<lb/>
zu übertragen. Das absolvierte Studium des Confucius berechtigt ihn Wohl,<lb/>
ein Amt auszuüben, aber es genügt nicht, es ihm zu verschaffen. Seine ganze<lb/>
Existenz hängt von der herrschenden Gewohnheit ab, und diese Gewohnheit ist<lb/>
Bestechung und Betrügerei. Sie wird überall angewandt, bei dem niedrigsten<lb/>
wie bei dem höchste» Beamten, und wahrscheinlich mich dann, wenn man sich<lb/>
dein kaiserlichen Thron nahen will. Und so abgestumpft ist der Chinese in<lb/>
diesen Dingen, daß er nichts Böses darin findet. Seine Gedanken erstrecken<lb/>
sich in erster Linie auf das Diesseits und auf sein Wohlbefinden. Er kennt<lb/>
nur ein Glück, nämlich reich zu werde», und dieses zu erreichen, dahin geht<lb/>
all sein Streben und seine Sehnsucht. Er hat einen außerordentlich ausge¬<lb/>
bildeten Sinn für den Gelderwerb, er weiß so instinktmäßig seine Vorteile wahr<lb/>
zunehmen, daß auf dieser Bahn niemand den Wettkampf mit ihm aufnehmen<lb/>
kann. Das einzige, was den Gleichmut des Chinesen stören kann, ist das<lb/>
Geldgeschäft. &#x201E;Der Weise haßt die Heuchelei und das Verbergen seiner wahren<lb/>
Wünsche unter falschen Vorwände»," lehrt Confucius. Die Lüge aber wird<lb/>
im himmlischen Reiche nicht als tadelnswerte Handlung betrachtet, sofern sie<lb/>
nicht allzu ungeschickt gesponnen ist. Einem Chinesen, der zu täuschen beab¬<lb/>
sichtigt, kann man nur schwer auf die Spur komme».</p><lb/>
          <p xml:id="ID_278" next="#ID_279"> Confucius hielt die Humanität und die Bruderliebe für das Tiefste der<lb/>
alten Lehre. Er hatte die richtige und wichtige Einsicht, daß Strafgesetze und<lb/>
deren Vollziehung nicht das Wesentlichste seien, sondern die Anleitung zum<lb/>
Rechte und zur Tugend. Er träumte von einer glücklichen Zeit, wo es noch<lb/>
keine Strafen gegeben habe, und nirgends wird mehr gestraft als im Reich<lb/>
der Mitte, in keinem Lande geht es grausamer zu als in China. Die Strafen<lb/>
der Verbrecher find der Mehrzahl nach unglaublich barbarischer Natur. China<lb/>
kennt die Folter in der scheußlichsten Gestalt, Todesarten, zu denen das Zer¬<lb/>
schneiden des Delinquenten gehört, und maßlose Prügel. &#x201E;Der Weise verachtet<lb/>
nicht den Bemitleidenswerten und Verlassenen," sagt Confucius, und ein hä߬<lb/>
licher Charakterzug des Chinesen ist der auffallende Maugel an Mitgefühl für°</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1900 12</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0097] Religion und Volk in China Praktischen Leben. Es war das Bestreben des Confucius, die alten Lehren der ersten Könige, unter denen China ein märchenhaftes Glück genossen haben sollte, wieder in Geltung zu bringen, und zwar versuchte er, eine Sittlichkeit ohne die Stützen der übersinnlichen Welt zu verwirklichein So unumschränkt, wie Confucius die Ethik gebaut hat auf den Naturbodeu des Menschenherzens, ohne Glauben an ein Jenseits, ohne Hoffnung auf eine Vergeltung, ist das nirgends geschehn. Viel Erfolg hat er damit nicht gehabt. Seine Lehren werden zwar hoch gepriesen und sind offiziell die Richtschnur des Handelns, wo aber die eignen Interessen des Chinesen in Frage kommen, erweist sich die Anhänglichkeit an den großen Meister doch nur als sehr platonisch. Treue und Redlichkeit schützte auch Confucius; sieht man darauf die Chinesen an, so sollte man glauben, daß er eher das Gegenteil gelehrt hätte. Ansgeriistet mit einem reichen Schatz moralischer Sentenzen, tritt der junge Mandarin in das öffentliche Leben, aber er denkt nicht daran, diese Grundsätze in die Praxis zu übertragen. Das absolvierte Studium des Confucius berechtigt ihn Wohl, ein Amt auszuüben, aber es genügt nicht, es ihm zu verschaffen. Seine ganze Existenz hängt von der herrschenden Gewohnheit ab, und diese Gewohnheit ist Bestechung und Betrügerei. Sie wird überall angewandt, bei dem niedrigsten wie bei dem höchste» Beamten, und wahrscheinlich mich dann, wenn man sich dein kaiserlichen Thron nahen will. Und so abgestumpft ist der Chinese in diesen Dingen, daß er nichts Böses darin findet. Seine Gedanken erstrecken sich in erster Linie auf das Diesseits und auf sein Wohlbefinden. Er kennt nur ein Glück, nämlich reich zu werde», und dieses zu erreichen, dahin geht all sein Streben und seine Sehnsucht. Er hat einen außerordentlich ausge¬ bildeten Sinn für den Gelderwerb, er weiß so instinktmäßig seine Vorteile wahr zunehmen, daß auf dieser Bahn niemand den Wettkampf mit ihm aufnehmen kann. Das einzige, was den Gleichmut des Chinesen stören kann, ist das Geldgeschäft. „Der Weise haßt die Heuchelei und das Verbergen seiner wahren Wünsche unter falschen Vorwände»," lehrt Confucius. Die Lüge aber wird im himmlischen Reiche nicht als tadelnswerte Handlung betrachtet, sofern sie nicht allzu ungeschickt gesponnen ist. Einem Chinesen, der zu täuschen beab¬ sichtigt, kann man nur schwer auf die Spur komme». Confucius hielt die Humanität und die Bruderliebe für das Tiefste der alten Lehre. Er hatte die richtige und wichtige Einsicht, daß Strafgesetze und deren Vollziehung nicht das Wesentlichste seien, sondern die Anleitung zum Rechte und zur Tugend. Er träumte von einer glücklichen Zeit, wo es noch keine Strafen gegeben habe, und nirgends wird mehr gestraft als im Reich der Mitte, in keinem Lande geht es grausamer zu als in China. Die Strafen der Verbrecher find der Mehrzahl nach unglaublich barbarischer Natur. China kennt die Folter in der scheußlichsten Gestalt, Todesarten, zu denen das Zer¬ schneiden des Delinquenten gehört, und maßlose Prügel. „Der Weise verachtet nicht den Bemitleidenswerten und Verlassenen," sagt Confucius, und ein hä߬ licher Charakterzug des Chinesen ist der auffallende Maugel an Mitgefühl für° Grenzboten I 1900 12

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/97
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/97>, abgerufen am 02.07.2024.