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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Religion und Volk in China

gegen Familie und Staat. Mit diesen Widersprüchen hat sich der Chinese ab¬
gefunden, weil er tiefe Spekulationen nicht liebt und ihm ein Ereifern auf
religiösem Gebiet fremd ist. Er befriedigt sein religiöses Bedürfnis ohne
Leidenschaft und sieht die buddhistischen Priester als ein notwendiges Übel an.
Nur in den Zeiten der Not, wo ihre Gebete zur Vertreibung der bösen Geister
beansprucht werden, genießen diese Bettelpriester ein gewisses Ansehen. Ohne
Bedenken erlauben sie nach Belieben die Verehrung der nationalen und lokalen
Gottheiten, und thatsächlich ist ihnen jeder willkommen, der dem Tempel
Geschenke bringt.

Neligionsfanatismus kennt somit der Chinese nicht. Kein Volk kann
weniger der religiösen Unduldsamkeit geziehen werden. "Die religiösen Ge¬
bräuche, sagt ein Chinese, sind so verschieden, als Geist und Charakter der
Menschen, jeder folge seiner Ansicht, ohne sich um die der andern zu kümmern."
Der Verfasser der OtiiruZZg <ÜKarg,e,töri8tief erwähnt zwei im Volke kursierende
Ausschmückungen der an Tempelthoren oft wiederkehrenden Inschrift: "Verehre
die Götter, als wären sie gegenwärtig," nämlich "Verehre die Götter, als ob
sie kommen könnten, oder thuts nicht, es bleibt sich ganz gleich," und "Ver¬
ehre die Götter, als wären sie gegenwärtig; verehrst du sie aber nicht, so mach
dir nichts daraus." Diese Gleichgiltigkeit in religiösen Dingen bietet natürlich
allen Bekehrungsversuchen gegenüber das größte Hindernis. Zudem enthält
die chinesische Sprache kein Wort, das die jüdische oder christliche Idee von
Gott auszudrücken vermöchte. Das Wort, dessen sie sich bedient, ist gleichbe¬
deutend mit Geist oder Verstand. Auch der theologische Sinn des Worts
"Sünde" ist dem chinesischen Begriffsvermögen unzugänglich. Da der einzige
Ausdruck, der es ersetzen kaun, "Verbrecher" bezeichnet, so antworten die
Chinesen, die sich nicht für Verbrecher halten, sogleich, sie bedürfen keines
Erlösers. Trotzdem mehrt sich die Zahl der Christen in China von Jahr zu
Jahr durch die eifrige Arbeit der hier besonders tüchtigen Missionskräfte. Nicht
selten freilich hat der Chinese auch seine Privntintercssen, die zur Annahme
des Christentums mit beitragen. Die schwache Seite nämlich, woran diese
materialistischen Confucianer vorzugsweise zu fassen sind, ist ihr praktischer
Sinn. Sobald sie den praktischen Nutzen des Christentums für sich einsehen,
greifen sie gern zu, daher erklärt es sich auch, daß das größte Kontingent der
bekehrten Chinese" nicht auf die reichere, aber auch verderbtere Einwohnerschaft
der Städte kommt, die sich von den Missionaren und der christlichen Kirche
keinen Vorteil verspricht, sondern auf das Landvolk, das in seinen wirtschaft¬
lichen Nöten Rat und Hilfe bei den Missionaren findet, die in der Regel auch
zugleich tüchtige Landwirte sind. Die Annahme, daß der Christengott die Felder
der Christen in seinen besondern und wirksamen Schutz nimmt, ist gleichfalls,
besonders in den Hungerjahren, oft ein heimlicher Sporn zu bereitwilligem
Übertritt.

Es ist nicht zu viel behauptet, wenn man sagt, daß die Rücksicht ans den
Vorteil dein Chinesen die Norm giebt für Anwendung der Morallehrer im


Religion und Volk in China

gegen Familie und Staat. Mit diesen Widersprüchen hat sich der Chinese ab¬
gefunden, weil er tiefe Spekulationen nicht liebt und ihm ein Ereifern auf
religiösem Gebiet fremd ist. Er befriedigt sein religiöses Bedürfnis ohne
Leidenschaft und sieht die buddhistischen Priester als ein notwendiges Übel an.
Nur in den Zeiten der Not, wo ihre Gebete zur Vertreibung der bösen Geister
beansprucht werden, genießen diese Bettelpriester ein gewisses Ansehen. Ohne
Bedenken erlauben sie nach Belieben die Verehrung der nationalen und lokalen
Gottheiten, und thatsächlich ist ihnen jeder willkommen, der dem Tempel
Geschenke bringt.

Neligionsfanatismus kennt somit der Chinese nicht. Kein Volk kann
weniger der religiösen Unduldsamkeit geziehen werden. „Die religiösen Ge¬
bräuche, sagt ein Chinese, sind so verschieden, als Geist und Charakter der
Menschen, jeder folge seiner Ansicht, ohne sich um die der andern zu kümmern."
Der Verfasser der OtiiruZZg <ÜKarg,e,töri8tief erwähnt zwei im Volke kursierende
Ausschmückungen der an Tempelthoren oft wiederkehrenden Inschrift: „Verehre
die Götter, als wären sie gegenwärtig," nämlich „Verehre die Götter, als ob
sie kommen könnten, oder thuts nicht, es bleibt sich ganz gleich," und „Ver¬
ehre die Götter, als wären sie gegenwärtig; verehrst du sie aber nicht, so mach
dir nichts daraus." Diese Gleichgiltigkeit in religiösen Dingen bietet natürlich
allen Bekehrungsversuchen gegenüber das größte Hindernis. Zudem enthält
die chinesische Sprache kein Wort, das die jüdische oder christliche Idee von
Gott auszudrücken vermöchte. Das Wort, dessen sie sich bedient, ist gleichbe¬
deutend mit Geist oder Verstand. Auch der theologische Sinn des Worts
„Sünde" ist dem chinesischen Begriffsvermögen unzugänglich. Da der einzige
Ausdruck, der es ersetzen kaun, „Verbrecher" bezeichnet, so antworten die
Chinesen, die sich nicht für Verbrecher halten, sogleich, sie bedürfen keines
Erlösers. Trotzdem mehrt sich die Zahl der Christen in China von Jahr zu
Jahr durch die eifrige Arbeit der hier besonders tüchtigen Missionskräfte. Nicht
selten freilich hat der Chinese auch seine Privntintercssen, die zur Annahme
des Christentums mit beitragen. Die schwache Seite nämlich, woran diese
materialistischen Confucianer vorzugsweise zu fassen sind, ist ihr praktischer
Sinn. Sobald sie den praktischen Nutzen des Christentums für sich einsehen,
greifen sie gern zu, daher erklärt es sich auch, daß das größte Kontingent der
bekehrten Chinese» nicht auf die reichere, aber auch verderbtere Einwohnerschaft
der Städte kommt, die sich von den Missionaren und der christlichen Kirche
keinen Vorteil verspricht, sondern auf das Landvolk, das in seinen wirtschaft¬
lichen Nöten Rat und Hilfe bei den Missionaren findet, die in der Regel auch
zugleich tüchtige Landwirte sind. Die Annahme, daß der Christengott die Felder
der Christen in seinen besondern und wirksamen Schutz nimmt, ist gleichfalls,
besonders in den Hungerjahren, oft ein heimlicher Sporn zu bereitwilligem
Übertritt.

Es ist nicht zu viel behauptet, wenn man sagt, daß die Rücksicht ans den
Vorteil dein Chinesen die Norm giebt für Anwendung der Morallehrer im


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[0096] Religion und Volk in China gegen Familie und Staat. Mit diesen Widersprüchen hat sich der Chinese ab¬ gefunden, weil er tiefe Spekulationen nicht liebt und ihm ein Ereifern auf religiösem Gebiet fremd ist. Er befriedigt sein religiöses Bedürfnis ohne Leidenschaft und sieht die buddhistischen Priester als ein notwendiges Übel an. Nur in den Zeiten der Not, wo ihre Gebete zur Vertreibung der bösen Geister beansprucht werden, genießen diese Bettelpriester ein gewisses Ansehen. Ohne Bedenken erlauben sie nach Belieben die Verehrung der nationalen und lokalen Gottheiten, und thatsächlich ist ihnen jeder willkommen, der dem Tempel Geschenke bringt. Neligionsfanatismus kennt somit der Chinese nicht. Kein Volk kann weniger der religiösen Unduldsamkeit geziehen werden. „Die religiösen Ge¬ bräuche, sagt ein Chinese, sind so verschieden, als Geist und Charakter der Menschen, jeder folge seiner Ansicht, ohne sich um die der andern zu kümmern." Der Verfasser der OtiiruZZg <ÜKarg,e,töri8tief erwähnt zwei im Volke kursierende Ausschmückungen der an Tempelthoren oft wiederkehrenden Inschrift: „Verehre die Götter, als wären sie gegenwärtig," nämlich „Verehre die Götter, als ob sie kommen könnten, oder thuts nicht, es bleibt sich ganz gleich," und „Ver¬ ehre die Götter, als wären sie gegenwärtig; verehrst du sie aber nicht, so mach dir nichts daraus." Diese Gleichgiltigkeit in religiösen Dingen bietet natürlich allen Bekehrungsversuchen gegenüber das größte Hindernis. Zudem enthält die chinesische Sprache kein Wort, das die jüdische oder christliche Idee von Gott auszudrücken vermöchte. Das Wort, dessen sie sich bedient, ist gleichbe¬ deutend mit Geist oder Verstand. Auch der theologische Sinn des Worts „Sünde" ist dem chinesischen Begriffsvermögen unzugänglich. Da der einzige Ausdruck, der es ersetzen kaun, „Verbrecher" bezeichnet, so antworten die Chinesen, die sich nicht für Verbrecher halten, sogleich, sie bedürfen keines Erlösers. Trotzdem mehrt sich die Zahl der Christen in China von Jahr zu Jahr durch die eifrige Arbeit der hier besonders tüchtigen Missionskräfte. Nicht selten freilich hat der Chinese auch seine Privntintercssen, die zur Annahme des Christentums mit beitragen. Die schwache Seite nämlich, woran diese materialistischen Confucianer vorzugsweise zu fassen sind, ist ihr praktischer Sinn. Sobald sie den praktischen Nutzen des Christentums für sich einsehen, greifen sie gern zu, daher erklärt es sich auch, daß das größte Kontingent der bekehrten Chinese» nicht auf die reichere, aber auch verderbtere Einwohnerschaft der Städte kommt, die sich von den Missionaren und der christlichen Kirche keinen Vorteil verspricht, sondern auf das Landvolk, das in seinen wirtschaft¬ lichen Nöten Rat und Hilfe bei den Missionaren findet, die in der Regel auch zugleich tüchtige Landwirte sind. Die Annahme, daß der Christengott die Felder der Christen in seinen besondern und wirksamen Schutz nimmt, ist gleichfalls, besonders in den Hungerjahren, oft ein heimlicher Sporn zu bereitwilligem Übertritt. Es ist nicht zu viel behauptet, wenn man sagt, daß die Rücksicht ans den Vorteil dein Chinesen die Norm giebt für Anwendung der Morallehrer im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/96>, abgerufen am 02.07.2024.