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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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als die andre, fünf von diesen Landeskirchen, die unter dem Evangelischen
Oberkirchenrat nicht hatten stehn können, weil derselbe uniert war, unterstanden
nun ruhig einem ebenso unierten Kultusminister, der sich des violete se im-
xers, erfreute. Alle sechs hatten im evangelischen Landesherrn ein gemeinsames
landesbischöfliches Oberhaupt, genossen aber die schätzenswerte Freiheit, sich
gegenseitig vom Abendmahle auszuschließen." Daß Beyschlag diesen Zustand
"absurd" nennt, ist noch mild ausgedrückt; die Thatsache aber, daß er über
dreißig Jahre ruhig bestehn konnte, ist leider viel weniger ein Zeugnis christ¬
licher Verträglichkeit und Billigkeit, als ein Beleg mehr, wie gleichgiltig eine
ungeheure Zahl unsrer "Gebildeten" noch immer den kirchlichen, den religiösen,
den ewigen Fragen gegenübersteht.

Die Jahre 1870 und 1871, deren Anbruch den Hallischen Theologen mit
der Lebensgeschichte seines Lehrers, des großen evangelischen Theologen Karl
Immanuel Nitzsch, beschäftigt fanden, nennt Beyschlag mit Recht "Hohe Zeiten."
Aber mitten im vaterländischen Hochgefühl und im Siegesjubel über die große
Entscheidung auf den französischen Schlachtfeldern kamen ihm die ersten ernsten
Sorgen über den Verlauf des vatikanischen Konzils und über den Sieg, den
der Jesuitismus, uoch vor der Niederlage Frankreichs und der Besetzung Roms
durch die Italiener, auf diesem Konzil errungen hatte. Er gesteht ein, daß
ihm "das Verständnis des vatikanischen Konzils als Ausgangspunkt eines
weltgeschichtlichen Kampfs ähnlich dem im elften Jahrhundert von den Clnnin-
zeusern entzündeten" erst nach und nach aufgegangen sei. Und mit ebenso
ernster Kritik als Sorge behandelt er in seinen Erinnerungen deu Verlauf der
Dinge, an denen teilzunehmen er in den bösen Jahren nach den hohen Zeiten
vor allem berufen war. Die gescheiterten Versuche, irgend eine Einigung des
zerklüfteten deutschen Protestantismus herbeizuführen, die verhängnisvolle Lage,
in die durch den "Kulturkampf" der siebziger Jahre auch die evangelische Kirche
mit geriet, die Kämpfe um die Gemeinde- und Synodalordnung, die vielfachen
Beeinträchtigungen des guten Rechts der deutschen Protestanten dnrch eine
mißverstandne Parität erleben wir in den Aufzeichnungen eines Mannes noch
einmal, der mit seinem ganzen Herzen an Idealen hing, die immer wieder
unverwirklicht blieben oder in der Verwirklichung verkümmert wurden. Die
persönlichen Erfolge Beyschlags konnten die schmerzliche Besorgnis über die
Zukunft des evangelischen Lebens und Glaubens uur mildern, nicht aufheben,
so groß sie auch immer waren.

Der Versuchung, sich auf einen andern Boden verpflanzen zu lassen, als
den, der sein natürlicher geworden war, als Professor, Mitglied des Ober-
kirchenrath oder Generalsuperintendent nach Berlin zu gehn, widerstand Beyschlag.
Am stärksten war diese Versuchung im Jahre 1874. "Als ich (von Berlin)
nach Halle zurückkam, drangen meine Kollegen in mich, die Fakultät nicht zu
verlassen in einem. Augenblicke, wo deren berühmteste Kräfte, Tholuck und Müller,
zu versagen begannen, ohne daß vollwertiger Ersatz für sie zu finden sei. Ich
antwortete ihnen, daß, wenn sie mir in Lehrauftrag und Seminar die Nachfolge


Grenzboten I 1900 11

als die andre, fünf von diesen Landeskirchen, die unter dem Evangelischen
Oberkirchenrat nicht hatten stehn können, weil derselbe uniert war, unterstanden
nun ruhig einem ebenso unierten Kultusminister, der sich des violete se im-
xers, erfreute. Alle sechs hatten im evangelischen Landesherrn ein gemeinsames
landesbischöfliches Oberhaupt, genossen aber die schätzenswerte Freiheit, sich
gegenseitig vom Abendmahle auszuschließen." Daß Beyschlag diesen Zustand
„absurd" nennt, ist noch mild ausgedrückt; die Thatsache aber, daß er über
dreißig Jahre ruhig bestehn konnte, ist leider viel weniger ein Zeugnis christ¬
licher Verträglichkeit und Billigkeit, als ein Beleg mehr, wie gleichgiltig eine
ungeheure Zahl unsrer „Gebildeten" noch immer den kirchlichen, den religiösen,
den ewigen Fragen gegenübersteht.

Die Jahre 1870 und 1871, deren Anbruch den Hallischen Theologen mit
der Lebensgeschichte seines Lehrers, des großen evangelischen Theologen Karl
Immanuel Nitzsch, beschäftigt fanden, nennt Beyschlag mit Recht „Hohe Zeiten."
Aber mitten im vaterländischen Hochgefühl und im Siegesjubel über die große
Entscheidung auf den französischen Schlachtfeldern kamen ihm die ersten ernsten
Sorgen über den Verlauf des vatikanischen Konzils und über den Sieg, den
der Jesuitismus, uoch vor der Niederlage Frankreichs und der Besetzung Roms
durch die Italiener, auf diesem Konzil errungen hatte. Er gesteht ein, daß
ihm „das Verständnis des vatikanischen Konzils als Ausgangspunkt eines
weltgeschichtlichen Kampfs ähnlich dem im elften Jahrhundert von den Clnnin-
zeusern entzündeten" erst nach und nach aufgegangen sei. Und mit ebenso
ernster Kritik als Sorge behandelt er in seinen Erinnerungen deu Verlauf der
Dinge, an denen teilzunehmen er in den bösen Jahren nach den hohen Zeiten
vor allem berufen war. Die gescheiterten Versuche, irgend eine Einigung des
zerklüfteten deutschen Protestantismus herbeizuführen, die verhängnisvolle Lage,
in die durch den „Kulturkampf" der siebziger Jahre auch die evangelische Kirche
mit geriet, die Kämpfe um die Gemeinde- und Synodalordnung, die vielfachen
Beeinträchtigungen des guten Rechts der deutschen Protestanten dnrch eine
mißverstandne Parität erleben wir in den Aufzeichnungen eines Mannes noch
einmal, der mit seinem ganzen Herzen an Idealen hing, die immer wieder
unverwirklicht blieben oder in der Verwirklichung verkümmert wurden. Die
persönlichen Erfolge Beyschlags konnten die schmerzliche Besorgnis über die
Zukunft des evangelischen Lebens und Glaubens uur mildern, nicht aufheben,
so groß sie auch immer waren.

Der Versuchung, sich auf einen andern Boden verpflanzen zu lassen, als
den, der sein natürlicher geworden war, als Professor, Mitglied des Ober-
kirchenrath oder Generalsuperintendent nach Berlin zu gehn, widerstand Beyschlag.
Am stärksten war diese Versuchung im Jahre 1874. „Als ich (von Berlin)
nach Halle zurückkam, drangen meine Kollegen in mich, die Fakultät nicht zu
verlassen in einem. Augenblicke, wo deren berühmteste Kräfte, Tholuck und Müller,
zu versagen begannen, ohne daß vollwertiger Ersatz für sie zu finden sei. Ich
antwortete ihnen, daß, wenn sie mir in Lehrauftrag und Seminar die Nachfolge


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/89>, abgerufen am 02.07.2024.