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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Willibald Beyschlags Lebenserinnerungen

eben nicht in der Kirche suchen, und daß der treue Kirchenbesuch und der sittliche
Wandel auch der heuchlerischen und kaltherzigen Gleichgültigkeit möglich sind.
Zu den Anschauungen Friedrich Wilhelms IV., der der evangelischen Kirche
alle erdenklichen Freiheiten gewahren wollte, wenn zuvor die "Ungläubigen"
mit Gewalt und Verfolgung aus ihr hinausgedrängt wären, konnte sich der
Mann natürlich nicht verstehn, der schon damals ausgesprochen hatte: Nicht
das orthodoxe Bekenntnis, sondern die christliche Persönlichkeit des Geistlichen
ist es, was geistliches Leben erzeugt.

Jedenfalls erachtete es Beyschlag als ein Glück, daß er den badischen
Wirren 1860 durch seine Berufung als Professor der praktischen Theologie an
die Universität Halle entzogen wurde. Daß er den damals erhaltenen Lehr¬
stuhl noch heute nach vierzig Jahren inne hat, darf nicht minder als ein Glück
erachtet werden. Denn die Freizügigkeit und der Wechsel haben an unsern
Universitäten und andern Hochschulen in einer Weise überHand genommen, daß
man sich der beharrenden und wnrzelschlagenden Nntnreu nur aufrichtig er¬
freuen kann. Namentlich dann erfreuen kann, wenn mit dieser Seßhaftigkeit
die mächtigste geistige Beweglichkeit und die sich immer wieder verjüngende
Frische verbunden ist, von der neben mächtigern und wichtigern Werken doch
auch diese Selbstbiographie Zeugnis ablegt. Seine Hallischen Anfänge schildert
er mit großer und anschaulicher Lebendigkeit und gedenkt mit einer gewissen
Wehmut der Jahre 1860 bis 1864, wo er rasch einen Schatz an Gunst und
Vertrauen bei seinen Hörern, bei gleichstrebenden Freunden, bei den unbefangnen
Frommen erwarb, die in seinen Schriften den Kern seines Herzens spürten.
Doch "diese ganze weitreichende Vertrauensstellung sollte infolge des Alten-
burger Kirchentags im Herbst 1864 einen fast tödlichen Stoß erleiden." Die
Veranlassung dazu wurde ein von Behschlag überuommnes Referat, das an¬
knüpfend an die Wirkungen der Schriften von Renan und D. Fr. Strauß
(dessen späteres Leben Jesu für das deutsche Volk 1863 erschienen war) die
Frage beantworten sollte: "Welchen Gewinn hat die evangelische Kirche aus
den neusten Verhandlungen über das Leben Jesu zu ziehn?" Behschlag meint
rückblickend selbst: "Das war nun eine ebenso hvchsinnige, wie bedenkliche
Formulierung. Denn so richtig es war, daß die Kirche durch Erscheinungen
wie Renan und Strauß sich auf Mängel und Schwächen ihrer eignen Ent¬
wicklung aufmerksam machen lassen sollte, so gewagt war es doch in einem
Augenblick der allgemeinen Erregung über die empfangner Ärgernisse, den
kirchlichen Kreisen statt der Verurteilung derselben ein Selbstgericht zuzumuten."
Auf die Folgen, die in Wahrheit eintraten, scheint er nicht gefaßt gewesen zu
sein, ließ sich aber dnrch sie weder niederbeugen, noch beirren. Die leiden¬
schaftlichen, zugleich fanatischen und schlangcnklugeu Verketzerungen Hengstenbergs
mußten den Hnllischen Theologen nnr in den Überzeugungen bestärken, die er
zuerst in dem Altenburger Vortrag und dann in seiner "Christvlogie" (die, wie
er S. 239 sagt, in allem wesentlichen der Ausdruck seiner theologischen Über¬
zeugung bis heute geblieben ist) bekannt hatte. Nach Behschlags Überzeugung


Willibald Beyschlags Lebenserinnerungen

eben nicht in der Kirche suchen, und daß der treue Kirchenbesuch und der sittliche
Wandel auch der heuchlerischen und kaltherzigen Gleichgültigkeit möglich sind.
Zu den Anschauungen Friedrich Wilhelms IV., der der evangelischen Kirche
alle erdenklichen Freiheiten gewahren wollte, wenn zuvor die „Ungläubigen"
mit Gewalt und Verfolgung aus ihr hinausgedrängt wären, konnte sich der
Mann natürlich nicht verstehn, der schon damals ausgesprochen hatte: Nicht
das orthodoxe Bekenntnis, sondern die christliche Persönlichkeit des Geistlichen
ist es, was geistliches Leben erzeugt.

Jedenfalls erachtete es Beyschlag als ein Glück, daß er den badischen
Wirren 1860 durch seine Berufung als Professor der praktischen Theologie an
die Universität Halle entzogen wurde. Daß er den damals erhaltenen Lehr¬
stuhl noch heute nach vierzig Jahren inne hat, darf nicht minder als ein Glück
erachtet werden. Denn die Freizügigkeit und der Wechsel haben an unsern
Universitäten und andern Hochschulen in einer Weise überHand genommen, daß
man sich der beharrenden und wnrzelschlagenden Nntnreu nur aufrichtig er¬
freuen kann. Namentlich dann erfreuen kann, wenn mit dieser Seßhaftigkeit
die mächtigste geistige Beweglichkeit und die sich immer wieder verjüngende
Frische verbunden ist, von der neben mächtigern und wichtigern Werken doch
auch diese Selbstbiographie Zeugnis ablegt. Seine Hallischen Anfänge schildert
er mit großer und anschaulicher Lebendigkeit und gedenkt mit einer gewissen
Wehmut der Jahre 1860 bis 1864, wo er rasch einen Schatz an Gunst und
Vertrauen bei seinen Hörern, bei gleichstrebenden Freunden, bei den unbefangnen
Frommen erwarb, die in seinen Schriften den Kern seines Herzens spürten.
Doch „diese ganze weitreichende Vertrauensstellung sollte infolge des Alten-
burger Kirchentags im Herbst 1864 einen fast tödlichen Stoß erleiden." Die
Veranlassung dazu wurde ein von Behschlag überuommnes Referat, das an¬
knüpfend an die Wirkungen der Schriften von Renan und D. Fr. Strauß
(dessen späteres Leben Jesu für das deutsche Volk 1863 erschienen war) die
Frage beantworten sollte: „Welchen Gewinn hat die evangelische Kirche aus
den neusten Verhandlungen über das Leben Jesu zu ziehn?" Behschlag meint
rückblickend selbst: „Das war nun eine ebenso hvchsinnige, wie bedenkliche
Formulierung. Denn so richtig es war, daß die Kirche durch Erscheinungen
wie Renan und Strauß sich auf Mängel und Schwächen ihrer eignen Ent¬
wicklung aufmerksam machen lassen sollte, so gewagt war es doch in einem
Augenblick der allgemeinen Erregung über die empfangner Ärgernisse, den
kirchlichen Kreisen statt der Verurteilung derselben ein Selbstgericht zuzumuten."
Auf die Folgen, die in Wahrheit eintraten, scheint er nicht gefaßt gewesen zu
sein, ließ sich aber dnrch sie weder niederbeugen, noch beirren. Die leiden¬
schaftlichen, zugleich fanatischen und schlangcnklugeu Verketzerungen Hengstenbergs
mußten den Hnllischen Theologen nnr in den Überzeugungen bestärken, die er
zuerst in dem Altenburger Vortrag und dann in seiner „Christvlogie" (die, wie
er S. 239 sagt, in allem wesentlichen der Ausdruck seiner theologischen Über¬
zeugung bis heute geblieben ist) bekannt hatte. Nach Behschlags Überzeugung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/87>, abgerufen am 02.07.2024.