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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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durch eine gesunde Synodalverfassung und die Herstellung einer neuen von der
Generalsynode von 1855 beschlossenen Kirchenagende, Die allgemeinen Zu¬
stände hierfür bezeichnet Beyschlag auch jetzt noch, nach beinähe einem Menschen¬
alter, als ungewöhnlich günstig. Die evangelischen Kirchenangelegeuheiteu
standen in Baden "nicht uuter dem Zeichen orthodoxischer oder hochkirchlicher
Rücklüufigkcit, sondern ausnahmsweise uuter dem Zeichen positiv evangelischer
Reform. Die verschiedenartigen Richtungen in Pfarrstand und Gemeinde
wurden mit Schonung behandelt, niemand wurde um Lehre willen verfolgt.
Das religiöse Interesse -- das bezeugten in Karlsruhe unsre tngtäglichen Er¬
fahrungen -- wuchs auf freilebeudige Weise; der Gegensatz von Pietismus
und Nationalismus war in einem wachsenden Kreise von Geistlichen und Ge¬
bildeten ans dem Wege, sich ans Grund des biblischen Evangeliums auszu¬
gleichen, und dies aufblühende kirchliche Leben war damit beschäftigt, sich auf
die legitimste Weise neue befriedigendere Lebensformen zu schaffen." Und nun
stellt der Verfasser dieser Schilderung die Erzählung gegenüber, wie sich der
badische kirchliche Liberalismus im Bunde mit dem außer- und antikirchlichen
gegen die neue Agende erhob. Er führt die damaligen Vorgänge auf die
"neue Ära" in Preußen, die Übernahme der Regierung durch den Prinzen und
nachmaligen König und Kaiser Wilhelm zurück. "So fügte sich das tragische
Verhängnis, daß, was in Preußen Genesung von unerträglich gewordnen Zu¬
ständen verhieß, in Baden eine gesunde Entwicklung unterbrechen und eine
kirchliche Umsturzbewegung hervorrufen half, deren Fortpflanzung über die ba¬
dischen Grenzen hinaus hernach uicht ohne Mühe abgewehrt werden mußte."

Beyschlag hebt selbst hervor, daß die Ursachen und die Anfänge dieser
"Umsturzbewegung" von einem so bedeutenden Kirchenhistoriker wie Karl von
Hase anders aufgefaßt und dargestellt werden, als von ihm. Und er verschweigt
weiterhin nicht, daß sich der badische Agendenstreit in verhängnisvoller Weise
mit dem leidenschaftlichen Kampf gegen das badische Konkordat verknüpfte. Der
Verfasser erzählt aus der Zeit, in der das Konkordat abgeschlossen und der
Sturm dagegen noch uicht entfesselt war, daß er und seine ältern Freunde,
Bähr und Ullmann, dem Minister von Meysenbug ihre schweren Bedenken gegen
den ganzen Vertrag wie gegen einzelne Punkte ausgesprochen hätten, "Der
Minister dagegen, der übrigens die Verhandlungen mit Rom nicht eingeleitet,
sondern als Erbe von seinem Vorgänger überkommen hatte, betonte nicht nur
die Zwangslage der Regierung, sondern er that auch die mir unvergeßliche
Äußerung: die katholische Kirche gehe ja doch recht schweren, gedrückten Zeiten
entgegen -- darum habe man regierungsseitig alle Gerechtigkeit gegen sie er¬
füllen wollen. Der Standpunkt protestantischer Noblesse gegen ein ja doch im
Niedergang befindliches Gemeinwesen, wie auch Niebuhr und Ranke in Ver¬
wechslung von Kirchenstaat und Kirche ihn eingenommen hatten! So voll¬
ständig konnte noch damals ein feinsinniger und hochgebildeter Staatsmann sich
über den Siegeslauf täuschen, den die römische Kirche in Deutschland bereits
angetreten hatte." Über den weitern Verlauf erfahren wir, daß die im Lande


durch eine gesunde Synodalverfassung und die Herstellung einer neuen von der
Generalsynode von 1855 beschlossenen Kirchenagende, Die allgemeinen Zu¬
stände hierfür bezeichnet Beyschlag auch jetzt noch, nach beinähe einem Menschen¬
alter, als ungewöhnlich günstig. Die evangelischen Kirchenangelegeuheiteu
standen in Baden „nicht uuter dem Zeichen orthodoxischer oder hochkirchlicher
Rücklüufigkcit, sondern ausnahmsweise uuter dem Zeichen positiv evangelischer
Reform. Die verschiedenartigen Richtungen in Pfarrstand und Gemeinde
wurden mit Schonung behandelt, niemand wurde um Lehre willen verfolgt.
Das religiöse Interesse — das bezeugten in Karlsruhe unsre tngtäglichen Er¬
fahrungen — wuchs auf freilebeudige Weise; der Gegensatz von Pietismus
und Nationalismus war in einem wachsenden Kreise von Geistlichen und Ge¬
bildeten ans dem Wege, sich ans Grund des biblischen Evangeliums auszu¬
gleichen, und dies aufblühende kirchliche Leben war damit beschäftigt, sich auf
die legitimste Weise neue befriedigendere Lebensformen zu schaffen." Und nun
stellt der Verfasser dieser Schilderung die Erzählung gegenüber, wie sich der
badische kirchliche Liberalismus im Bunde mit dem außer- und antikirchlichen
gegen die neue Agende erhob. Er führt die damaligen Vorgänge auf die
„neue Ära" in Preußen, die Übernahme der Regierung durch den Prinzen und
nachmaligen König und Kaiser Wilhelm zurück. „So fügte sich das tragische
Verhängnis, daß, was in Preußen Genesung von unerträglich gewordnen Zu¬
ständen verhieß, in Baden eine gesunde Entwicklung unterbrechen und eine
kirchliche Umsturzbewegung hervorrufen half, deren Fortpflanzung über die ba¬
dischen Grenzen hinaus hernach uicht ohne Mühe abgewehrt werden mußte."

Beyschlag hebt selbst hervor, daß die Ursachen und die Anfänge dieser
„Umsturzbewegung" von einem so bedeutenden Kirchenhistoriker wie Karl von
Hase anders aufgefaßt und dargestellt werden, als von ihm. Und er verschweigt
weiterhin nicht, daß sich der badische Agendenstreit in verhängnisvoller Weise
mit dem leidenschaftlichen Kampf gegen das badische Konkordat verknüpfte. Der
Verfasser erzählt aus der Zeit, in der das Konkordat abgeschlossen und der
Sturm dagegen noch uicht entfesselt war, daß er und seine ältern Freunde,
Bähr und Ullmann, dem Minister von Meysenbug ihre schweren Bedenken gegen
den ganzen Vertrag wie gegen einzelne Punkte ausgesprochen hätten, „Der
Minister dagegen, der übrigens die Verhandlungen mit Rom nicht eingeleitet,
sondern als Erbe von seinem Vorgänger überkommen hatte, betonte nicht nur
die Zwangslage der Regierung, sondern er that auch die mir unvergeßliche
Äußerung: die katholische Kirche gehe ja doch recht schweren, gedrückten Zeiten
entgegen — darum habe man regierungsseitig alle Gerechtigkeit gegen sie er¬
füllen wollen. Der Standpunkt protestantischer Noblesse gegen ein ja doch im
Niedergang befindliches Gemeinwesen, wie auch Niebuhr und Ranke in Ver¬
wechslung von Kirchenstaat und Kirche ihn eingenommen hatten! So voll¬
ständig konnte noch damals ein feinsinniger und hochgebildeter Staatsmann sich
über den Siegeslauf täuschen, den die römische Kirche in Deutschland bereits
angetreten hatte." Über den weitern Verlauf erfahren wir, daß die im Lande


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/85>, abgerufen am 02.07.2024.