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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Willibald Beyschlags Lebenserinnerungen

rechts und die "Schwarmgeister," wie er sagte, links haben ihn mit Gewitter¬
stürmen von Ingrimm, mit Wolkenbrüchen von schwerer Verleumdung, mit
Hagelschauern von kleinen Übelreden überschüttet, aber seinen Weg nicht ge¬
hemmt. Nichtsdestoweniger hat auch er sich menschlichen Unmuts und vorüber¬
gehenden Verzagens nicht entschlagen können. In der That hinterlassen Bey¬
schlags Erinnerungen neben der Frende an der mannhaften überzeugungstreuen
Persönlichkeit des Verfassers, neben der Genugthuung über ein reich gesegnetes
Wirken doch auch, wo es sich um die Schilderungen öffentlicher Dinge, um
die kirchengeschichtlichen Kapitel und Blätter dieser Selbstbiographie handelt, eine
Empfindung der traurigsten Art. Am 11. März 1832, wenig Tage vor seinem
Tode, hatte Goethe mit dem getreuen Eckermann eine Unterredung, in der er
zuversichtlich sagte: "Wir wissen gar nicht, was wir Luthern und der Refor¬
mation im allgemeinen alles zu danken haben. Wir sind frei geworden von
den Fesseln geistiger Borniertheit, wir sind infolge unsrer fortwachsenden Kultur
fähig geworden, zur Quelle zurückzukehren und das Christentum in seiner
Reinheit zu fassen. Wir haben wieder den Mut, mit festen Füßen auf Gottes
Erde zu stehn und uns in unsrer gottbegabten Menschennatur zu fühlen. Je
tüchtiger aber wir Protestanten in edler Entwicklung voranschreiten, desto
schneller werden die Katholiken folgen. Auch das leidige protestantische Sekten¬
wesen wird aufhören und mit ihm Haß und feindliches Ansehen zwischen Vater
und Sohn, zwischen Bruder und Schwester. Denn sobald man die reine Lehre
und Liebe Christi, wie sie ist, wird begriffen und in sich eingelebt haben, so
wird man sich als Mensch groß und frei fühlen und auf ein bischen so oder
so im äußern Kultus nicht mehr sonderlichen Wert legen." Wir sind gewohnt,
daß alle Weissagungen unsers großen Dichters mehr oder minder eingetroffen
oder auf dem Wege sind, sich zu erfüllen. Doch wenn wir Goethes Hoffnungen
vom 11. März 1832 mit den letzten Eindrücken vergleichen, die Beyschlags Be¬
richte hinterlassen, so müssen wir uns trauernd eingestehn, daß zu alle dem,
was der Dichter hoffte, 1898, nach sechsundsechzig Jahren nirgends anch nur
ein Anfang gemacht war.

Typisch für die energische und doch milde Persönlichkeit des Verfassers,
typisch aber auch für seine Lebensschicksale und die Kämpfe, unter denen sein
Leben hingegangen ist, erscheint der Bericht über die Erfahrungen, die Bey¬
schlag zwischen 1856 und 1860 in seinem Amte als Karlsruher Hofprediger
und im schönen Lande Baden machen mußte. In diesem Großhcrzogtum, das
beinahe zwei Drittel katholische und nur etwas über ein Drittel evangelische
Bevölkerung hatte, zeigte sich die ganze Gefahr der trostlosen Zerklüftung des
Protestantismus, während die katholische kcelösig, rutilans immer geschlossener,
anspruchsvoller und zuversichtlicher vordrang. Gestützt auf die schou 1821 zu¬
stande gekommne evangelische Union und eine seit den Ereignissen von 1849 ein-
getretnc Verinnerlichung des religiösen Lebens erstrebte die kirchliche Mittel¬
partei der Protestanten, an deren Spitze der Prälat Ullmann stand, zugleich
die Befreiung der evangelischen Kirche von der Allmacht des Büreaukratismus


Willibald Beyschlags Lebenserinnerungen

rechts und die „Schwarmgeister," wie er sagte, links haben ihn mit Gewitter¬
stürmen von Ingrimm, mit Wolkenbrüchen von schwerer Verleumdung, mit
Hagelschauern von kleinen Übelreden überschüttet, aber seinen Weg nicht ge¬
hemmt. Nichtsdestoweniger hat auch er sich menschlichen Unmuts und vorüber¬
gehenden Verzagens nicht entschlagen können. In der That hinterlassen Bey¬
schlags Erinnerungen neben der Frende an der mannhaften überzeugungstreuen
Persönlichkeit des Verfassers, neben der Genugthuung über ein reich gesegnetes
Wirken doch auch, wo es sich um die Schilderungen öffentlicher Dinge, um
die kirchengeschichtlichen Kapitel und Blätter dieser Selbstbiographie handelt, eine
Empfindung der traurigsten Art. Am 11. März 1832, wenig Tage vor seinem
Tode, hatte Goethe mit dem getreuen Eckermann eine Unterredung, in der er
zuversichtlich sagte: „Wir wissen gar nicht, was wir Luthern und der Refor¬
mation im allgemeinen alles zu danken haben. Wir sind frei geworden von
den Fesseln geistiger Borniertheit, wir sind infolge unsrer fortwachsenden Kultur
fähig geworden, zur Quelle zurückzukehren und das Christentum in seiner
Reinheit zu fassen. Wir haben wieder den Mut, mit festen Füßen auf Gottes
Erde zu stehn und uns in unsrer gottbegabten Menschennatur zu fühlen. Je
tüchtiger aber wir Protestanten in edler Entwicklung voranschreiten, desto
schneller werden die Katholiken folgen. Auch das leidige protestantische Sekten¬
wesen wird aufhören und mit ihm Haß und feindliches Ansehen zwischen Vater
und Sohn, zwischen Bruder und Schwester. Denn sobald man die reine Lehre
und Liebe Christi, wie sie ist, wird begriffen und in sich eingelebt haben, so
wird man sich als Mensch groß und frei fühlen und auf ein bischen so oder
so im äußern Kultus nicht mehr sonderlichen Wert legen." Wir sind gewohnt,
daß alle Weissagungen unsers großen Dichters mehr oder minder eingetroffen
oder auf dem Wege sind, sich zu erfüllen. Doch wenn wir Goethes Hoffnungen
vom 11. März 1832 mit den letzten Eindrücken vergleichen, die Beyschlags Be¬
richte hinterlassen, so müssen wir uns trauernd eingestehn, daß zu alle dem,
was der Dichter hoffte, 1898, nach sechsundsechzig Jahren nirgends anch nur
ein Anfang gemacht war.

Typisch für die energische und doch milde Persönlichkeit des Verfassers,
typisch aber auch für seine Lebensschicksale und die Kämpfe, unter denen sein
Leben hingegangen ist, erscheint der Bericht über die Erfahrungen, die Bey¬
schlag zwischen 1856 und 1860 in seinem Amte als Karlsruher Hofprediger
und im schönen Lande Baden machen mußte. In diesem Großhcrzogtum, das
beinahe zwei Drittel katholische und nur etwas über ein Drittel evangelische
Bevölkerung hatte, zeigte sich die ganze Gefahr der trostlosen Zerklüftung des
Protestantismus, während die katholische kcelösig, rutilans immer geschlossener,
anspruchsvoller und zuversichtlicher vordrang. Gestützt auf die schou 1821 zu¬
stande gekommne evangelische Union und eine seit den Ereignissen von 1849 ein-
getretnc Verinnerlichung des religiösen Lebens erstrebte die kirchliche Mittel¬
partei der Protestanten, an deren Spitze der Prälat Ullmann stand, zugleich
die Befreiung der evangelischen Kirche von der Allmacht des Büreaukratismus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/84>, abgerufen am 02.07.2024.