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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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dem Boden, aus dem er stammt, und der Luft, die ihn umfing, zu danken
hatte, ohne daß man darum den jüngsten Aberglauben um das "Milieu" zu
teilen hat, nach dem alles Umgebung ist, und zuletzt von der Kraft, dem
Lebenstrieb und dem unberechenbar Unbewußten des Menschen so gut wie nichts
übrig bleibt." So große Vorzüge nnn aber in diesem Sinne von dem ästhe¬
tischen Standpunkte aus, von dem der Frühling den Vorzug vor dem Sommer
und Herbst hat, der erste Teil der Veyschlagschcn Aufzeichnungen vor dem
zweiten nnn vorliegenden Teil: Erinnerungen und Erfahrungen der
reifern Jahre (Halle a. S., Engen Serien, 1899) voraus hat, so viel größere
Bedeutung muß diesem zweiten Teile für die Zeitgeschichte, für die Erkenntnis
und die Charakteristik der nnserm deutschen Kulturleben und der deutschen Volks¬
seele drohenden Gefahren, für die Widerspieglung einer großen wohlthätigen
und weitwirkenden wissenschaftlichen Thätigkeit, beigemessen werden. Die Er¬
innerungen dieses zweiten Bandes umfassen die Zeit vom dreiunddreißigsteu
bis zum siebzigsten Lebensjahre des Theologen, vom Amtsantritt als Hof-
Prediger in Karlsruhe (1856) bis zur zweihundertjährigen Jubelfeier der Uni¬
versität Halle, bei der Beyschlag als Rektor an der Spitze der Hochschule stand,
der er seit 1860 als Professor angehört hatte. Es ist eine Geschichte fort¬
gesetzter Kämpfe und Zerklüftungen; der Verfasser hat von ebenso vielen Nieder¬
lagen und Enttäuschungen als von Siegen und Erfüllungen zu berichten.
Aber ungebrochnen Muts, ein gut protestantischer Streiter steht er auf dem
Plane und erklärt denen, die ihn auf den ersten Teil seiner Erinnerungen hin
zu starken Selbstgefühls angeklagt hatten, männlich unumwunden: "Da die
Kunst noch nicht erfunden ist, eine Selbstbiographie zu schreiben, ohne von
sich selber zu reden, und da, wer nur Unbedeutendes oder Unrühmliches von
sich zu erzählen wüßte, eine Selbstbiographie überhaupt uicht schreibt, so weiß
ich nicht, wie ich diesem Schein entrinnen könnte. Ich kann dennoch versichern,
daß es nur ein Schein ist, von dem auch die, welche mich näher kennen, nichts
wissen. Nicht nur, daß in der Lebensanschauung, in der ich stehe, das "Was
hast du, das du nicht empfangen hättest?" sich von selbst versteht -- ich habe
auch die längste Zeit meines Lebens vielmehr an einem Mangel an Selbst¬
vertrauen, am Mißtrauen in die eigne Gabe und an der Verzagtheit gegenüber der
sich stellenden Aufgabe gelitten. Was mir schließlich zu einem bescheidnen Maße
nötigen Selbstgefühls verholfen hat, waren nicht zum geringsten Teil meine
Feinde: so zahlreiche und gehässige Angriffe, mußte ich mir sagen, erfährt man
doch nicht, wenn man eine Null ist; und wenn ich mir dann die Angriffe auf
ihren innern Wert besah, dann wurde ich doch inne, daß sie nicht an meine
Überzeugungen hinnnlangteu."

Schon aus diesen Worten läßt sich erraten, daß der Führer einer Mittel-
Partei spricht. Das Geschick der Männer seiner Art und Richtung ist es von
jeher gewesen, gleich wütenden Angriffen von rechts und links preisgegeben zu
sein. Der evangelische Theolog mag sich damit trösten, daß selbst der gewaltige
Luther diesen, Schicksal anheimgefallen ist; die Gläubigen der alten Kirche


dem Boden, aus dem er stammt, und der Luft, die ihn umfing, zu danken
hatte, ohne daß man darum den jüngsten Aberglauben um das »Milieu« zu
teilen hat, nach dem alles Umgebung ist, und zuletzt von der Kraft, dem
Lebenstrieb und dem unberechenbar Unbewußten des Menschen so gut wie nichts
übrig bleibt." So große Vorzüge nnn aber in diesem Sinne von dem ästhe¬
tischen Standpunkte aus, von dem der Frühling den Vorzug vor dem Sommer
und Herbst hat, der erste Teil der Veyschlagschcn Aufzeichnungen vor dem
zweiten nnn vorliegenden Teil: Erinnerungen und Erfahrungen der
reifern Jahre (Halle a. S., Engen Serien, 1899) voraus hat, so viel größere
Bedeutung muß diesem zweiten Teile für die Zeitgeschichte, für die Erkenntnis
und die Charakteristik der nnserm deutschen Kulturleben und der deutschen Volks¬
seele drohenden Gefahren, für die Widerspieglung einer großen wohlthätigen
und weitwirkenden wissenschaftlichen Thätigkeit, beigemessen werden. Die Er¬
innerungen dieses zweiten Bandes umfassen die Zeit vom dreiunddreißigsteu
bis zum siebzigsten Lebensjahre des Theologen, vom Amtsantritt als Hof-
Prediger in Karlsruhe (1856) bis zur zweihundertjährigen Jubelfeier der Uni¬
versität Halle, bei der Beyschlag als Rektor an der Spitze der Hochschule stand,
der er seit 1860 als Professor angehört hatte. Es ist eine Geschichte fort¬
gesetzter Kämpfe und Zerklüftungen; der Verfasser hat von ebenso vielen Nieder¬
lagen und Enttäuschungen als von Siegen und Erfüllungen zu berichten.
Aber ungebrochnen Muts, ein gut protestantischer Streiter steht er auf dem
Plane und erklärt denen, die ihn auf den ersten Teil seiner Erinnerungen hin
zu starken Selbstgefühls angeklagt hatten, männlich unumwunden: „Da die
Kunst noch nicht erfunden ist, eine Selbstbiographie zu schreiben, ohne von
sich selber zu reden, und da, wer nur Unbedeutendes oder Unrühmliches von
sich zu erzählen wüßte, eine Selbstbiographie überhaupt uicht schreibt, so weiß
ich nicht, wie ich diesem Schein entrinnen könnte. Ich kann dennoch versichern,
daß es nur ein Schein ist, von dem auch die, welche mich näher kennen, nichts
wissen. Nicht nur, daß in der Lebensanschauung, in der ich stehe, das »Was
hast du, das du nicht empfangen hättest?« sich von selbst versteht — ich habe
auch die längste Zeit meines Lebens vielmehr an einem Mangel an Selbst¬
vertrauen, am Mißtrauen in die eigne Gabe und an der Verzagtheit gegenüber der
sich stellenden Aufgabe gelitten. Was mir schließlich zu einem bescheidnen Maße
nötigen Selbstgefühls verholfen hat, waren nicht zum geringsten Teil meine
Feinde: so zahlreiche und gehässige Angriffe, mußte ich mir sagen, erfährt man
doch nicht, wenn man eine Null ist; und wenn ich mir dann die Angriffe auf
ihren innern Wert besah, dann wurde ich doch inne, daß sie nicht an meine
Überzeugungen hinnnlangteu."

Schon aus diesen Worten läßt sich erraten, daß der Führer einer Mittel-
Partei spricht. Das Geschick der Männer seiner Art und Richtung ist es von
jeher gewesen, gleich wütenden Angriffen von rechts und links preisgegeben zu
sein. Der evangelische Theolog mag sich damit trösten, daß selbst der gewaltige
Luther diesen, Schicksal anheimgefallen ist; die Gläubigen der alten Kirche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/83>, abgerufen am 02.07.2024.