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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Polnische Politik

Erwerb, Kirche, Schule, sogar im gesellschaftlichen Leben -- wieviel stärker
wäre das deutsche Element heute in Kronvolen! Und ohne alle diese
Hindernisse, und mit aller staatlichen und privaten Hilfe -- wie unsicher ist
noch heute das Deutschtum in Posen! Wenn wir auch den Vergleich des
industriellen Elements hüben lind drüben hier ausscheiden müssen, weil das
polnisch-russische Arbeitsfeld dem deutschen Industriellen bei weitem mehr An¬
ziehungskraft durch reichen Gewinn bietet, als das posensche, so bleiben immer
die deutschen Handwerker, Kaufleute, Landbauern, für die der Unterschied in den
Verhältnissen des Erwerbs nicht groß genug ist, daß sie die Auswandrung
vorziehn. Drüben sucht der Deutsche -- von den bedrohlichen Gesetzen ver¬
anlaßt -- schnell in die russische Unterthnnschaft überzugehn. Seine Söhne
müssen dann dort ihrer Wehrpflicht genügen, also ging er nicht hin, um dieser
Last zu entgehn. Weshalb denn geht er oft lieber nach Kronpolen als nach
Posen? Ich wage kaum, eine Erklärung dafür zu versuchen; aber ich glaube,
daß zwei Dinge ihn drüben locken: größerer Gewinn und größere Freiheit,

Es klingt fast paradox, von größerer persönlicher Freiheit in Nußland zu
reden; und doch hat das für einen größern Interessenkreis seinen guten Sinn.
In Posen bietet die Ansiedlungskommission den Bauern Haus und Hof, Acker
und Vieh, ein fertiges Anwesen an; aber er muß sich zu diesem und jenem
verpflichten, er darf nur so bauen, wie man es ihm vorschreibt, er wird immer
beaufsichtigt, die Polizei ist hinten und vorn, auch in seiner Wirtschaft. Drüben
setzt er sich vielleicht auf einem nackten Landstück nieder, quält sich lange, bis
er hochtönend, aber er macht sich alles selbst, niemand redet ihm drein, er sieht
keine Polizei, wenn er ein Haus baut, er findet, falls er es irgendwo versehen
hat im Handel und Verkehr, daß das Gesetz oft Löcher und der Beamte oft
ein gutes Herz hat. Er findet, daß der polnische Nachbar nichts von Land¬
wirtschaft versteht oder lüderlich wirtschaftet, und daß also gut Geschäfte mit
ihm zu machen sei. Er pachtet von einem Nachbar die besten Wiesen für einen
Heringsschwanz, weil sie vorher Sumpf waren und nun mit geringen Kosten
von ihm entwässert worden sind. Er haut den andern Nachbar bei einem
Handel übers Ohr, weil dieser nicht zu lesen versteht, er aber wohl. Kurz,
er findet, daß in den geordneten Zuständen Posens, gegenüber den durch deutsche
Schulung und Kultur gekräftigten nud wirtschaftlich entwickelten Polen das
Fortkommen schwerer sei als unter den rohern Verhältnissen im russischen Polen.
Und er hat vielleicht Recht.

Hierzu kommt die Stellung, in die sich der Deutsche von Haus aus dem
Polen gegenüber gesetzt sieht. In Kronpolen ist er zwar nicht geliebt, aber
man erkennt ihn als tüchtigen Arbeiter an, er erscheint nicht als Feind, oft
sogar als Genosse gegenüber dem russischen Beamten, er ist ein pünktlich
zahlender Pächter, ein besserer Handwerker, ein soliderer Kaufmann als der
Jude. Mag der Pole dort auch auf den Deutschen schimpfen, er kauft dennoch
lieber von ihm als vom Juden und sogar vom Polen, er verpachtet am liebsten
ihm seine Mühle, sein Vorwerk, er hat Vertrauen mehr zu Schulze und Müller


Polnische Politik

Erwerb, Kirche, Schule, sogar im gesellschaftlichen Leben — wieviel stärker
wäre das deutsche Element heute in Kronvolen! Und ohne alle diese
Hindernisse, und mit aller staatlichen und privaten Hilfe — wie unsicher ist
noch heute das Deutschtum in Posen! Wenn wir auch den Vergleich des
industriellen Elements hüben lind drüben hier ausscheiden müssen, weil das
polnisch-russische Arbeitsfeld dem deutschen Industriellen bei weitem mehr An¬
ziehungskraft durch reichen Gewinn bietet, als das posensche, so bleiben immer
die deutschen Handwerker, Kaufleute, Landbauern, für die der Unterschied in den
Verhältnissen des Erwerbs nicht groß genug ist, daß sie die Auswandrung
vorziehn. Drüben sucht der Deutsche — von den bedrohlichen Gesetzen ver¬
anlaßt — schnell in die russische Unterthnnschaft überzugehn. Seine Söhne
müssen dann dort ihrer Wehrpflicht genügen, also ging er nicht hin, um dieser
Last zu entgehn. Weshalb denn geht er oft lieber nach Kronpolen als nach
Posen? Ich wage kaum, eine Erklärung dafür zu versuchen; aber ich glaube,
daß zwei Dinge ihn drüben locken: größerer Gewinn und größere Freiheit,

Es klingt fast paradox, von größerer persönlicher Freiheit in Nußland zu
reden; und doch hat das für einen größern Interessenkreis seinen guten Sinn.
In Posen bietet die Ansiedlungskommission den Bauern Haus und Hof, Acker
und Vieh, ein fertiges Anwesen an; aber er muß sich zu diesem und jenem
verpflichten, er darf nur so bauen, wie man es ihm vorschreibt, er wird immer
beaufsichtigt, die Polizei ist hinten und vorn, auch in seiner Wirtschaft. Drüben
setzt er sich vielleicht auf einem nackten Landstück nieder, quält sich lange, bis
er hochtönend, aber er macht sich alles selbst, niemand redet ihm drein, er sieht
keine Polizei, wenn er ein Haus baut, er findet, falls er es irgendwo versehen
hat im Handel und Verkehr, daß das Gesetz oft Löcher und der Beamte oft
ein gutes Herz hat. Er findet, daß der polnische Nachbar nichts von Land¬
wirtschaft versteht oder lüderlich wirtschaftet, und daß also gut Geschäfte mit
ihm zu machen sei. Er pachtet von einem Nachbar die besten Wiesen für einen
Heringsschwanz, weil sie vorher Sumpf waren und nun mit geringen Kosten
von ihm entwässert worden sind. Er haut den andern Nachbar bei einem
Handel übers Ohr, weil dieser nicht zu lesen versteht, er aber wohl. Kurz,
er findet, daß in den geordneten Zuständen Posens, gegenüber den durch deutsche
Schulung und Kultur gekräftigten nud wirtschaftlich entwickelten Polen das
Fortkommen schwerer sei als unter den rohern Verhältnissen im russischen Polen.
Und er hat vielleicht Recht.

Hierzu kommt die Stellung, in die sich der Deutsche von Haus aus dem
Polen gegenüber gesetzt sieht. In Kronpolen ist er zwar nicht geliebt, aber
man erkennt ihn als tüchtigen Arbeiter an, er erscheint nicht als Feind, oft
sogar als Genosse gegenüber dem russischen Beamten, er ist ein pünktlich
zahlender Pächter, ein besserer Handwerker, ein soliderer Kaufmann als der
Jude. Mag der Pole dort auch auf den Deutschen schimpfen, er kauft dennoch
lieber von ihm als vom Juden und sogar vom Polen, er verpachtet am liebsten
ihm seine Mühle, sein Vorwerk, er hat Vertrauen mehr zu Schulze und Müller


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[0076] Polnische Politik Erwerb, Kirche, Schule, sogar im gesellschaftlichen Leben — wieviel stärker wäre das deutsche Element heute in Kronvolen! Und ohne alle diese Hindernisse, und mit aller staatlichen und privaten Hilfe — wie unsicher ist noch heute das Deutschtum in Posen! Wenn wir auch den Vergleich des industriellen Elements hüben lind drüben hier ausscheiden müssen, weil das polnisch-russische Arbeitsfeld dem deutschen Industriellen bei weitem mehr An¬ ziehungskraft durch reichen Gewinn bietet, als das posensche, so bleiben immer die deutschen Handwerker, Kaufleute, Landbauern, für die der Unterschied in den Verhältnissen des Erwerbs nicht groß genug ist, daß sie die Auswandrung vorziehn. Drüben sucht der Deutsche — von den bedrohlichen Gesetzen ver¬ anlaßt — schnell in die russische Unterthnnschaft überzugehn. Seine Söhne müssen dann dort ihrer Wehrpflicht genügen, also ging er nicht hin, um dieser Last zu entgehn. Weshalb denn geht er oft lieber nach Kronpolen als nach Posen? Ich wage kaum, eine Erklärung dafür zu versuchen; aber ich glaube, daß zwei Dinge ihn drüben locken: größerer Gewinn und größere Freiheit, Es klingt fast paradox, von größerer persönlicher Freiheit in Nußland zu reden; und doch hat das für einen größern Interessenkreis seinen guten Sinn. In Posen bietet die Ansiedlungskommission den Bauern Haus und Hof, Acker und Vieh, ein fertiges Anwesen an; aber er muß sich zu diesem und jenem verpflichten, er darf nur so bauen, wie man es ihm vorschreibt, er wird immer beaufsichtigt, die Polizei ist hinten und vorn, auch in seiner Wirtschaft. Drüben setzt er sich vielleicht auf einem nackten Landstück nieder, quält sich lange, bis er hochtönend, aber er macht sich alles selbst, niemand redet ihm drein, er sieht keine Polizei, wenn er ein Haus baut, er findet, falls er es irgendwo versehen hat im Handel und Verkehr, daß das Gesetz oft Löcher und der Beamte oft ein gutes Herz hat. Er findet, daß der polnische Nachbar nichts von Land¬ wirtschaft versteht oder lüderlich wirtschaftet, und daß also gut Geschäfte mit ihm zu machen sei. Er pachtet von einem Nachbar die besten Wiesen für einen Heringsschwanz, weil sie vorher Sumpf waren und nun mit geringen Kosten von ihm entwässert worden sind. Er haut den andern Nachbar bei einem Handel übers Ohr, weil dieser nicht zu lesen versteht, er aber wohl. Kurz, er findet, daß in den geordneten Zuständen Posens, gegenüber den durch deutsche Schulung und Kultur gekräftigten nud wirtschaftlich entwickelten Polen das Fortkommen schwerer sei als unter den rohern Verhältnissen im russischen Polen. Und er hat vielleicht Recht. Hierzu kommt die Stellung, in die sich der Deutsche von Haus aus dem Polen gegenüber gesetzt sieht. In Kronpolen ist er zwar nicht geliebt, aber man erkennt ihn als tüchtigen Arbeiter an, er erscheint nicht als Feind, oft sogar als Genosse gegenüber dem russischen Beamten, er ist ein pünktlich zahlender Pächter, ein besserer Handwerker, ein soliderer Kaufmann als der Jude. Mag der Pole dort auch auf den Deutschen schimpfen, er kauft dennoch lieber von ihm als vom Juden und sogar vom Polen, er verpachtet am liebsten ihm seine Mühle, sein Vorwerk, er hat Vertrauen mehr zu Schulze und Müller

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/76>, abgerufen am 02.07.2024.