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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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beiden Naturen in Christus darf keine Rede sein. Für diesen Religionsuuter.
richt braucht mau Nieder einen seminaristisch gebildeten Lehrer noch einen geist¬
lichen Katecheten. Jede brave und verständige Bäuerin kann ihn erteilen. Ja
die Mütter, Großmütter, Muhmen lind altern Geschwister sind die einzigen
für diesen Unterricht wirklich befähigten Personen, weil gerade der Ausschluß
alles schulmäßigen die erste Bedingung seiner Wirksamkeit ist. Er wird am
besten im winterlichen Zwielicht ans der Ofenbank erteilt, abwechselnd mit den
Märchen und sonstigen Geschichten, die Großmütter ihren Enkeln erzählen.
Daß es jede Woche geschehe, ist nicht nötig, und wenn die Ferien vom 1. Mai
bis letzten September dauern, so schadet das nichts. In der Schule dann
mag der kleine Student die alttestamentlichen und die homerischen Helden
nebeneinander kennen lernen, sich an der Schlauheit des Simson wie um der
des Odysseus, an der Heldengestalt des Josua wie an der des Achilleus er¬
götzen. Daß die Götter der Ilias und der Odhssee Phantasiegestalten sind,
weiß er schon von zu Hanse, die Grundzüge des christlichen Weltbilds, das
er mitbringt, werden durch die Mythologie nicht in Verwirrung gebracht. Im
reifern Knabenalter lernt er dann ans den Dichtern und Geschichtschreibern
die Gestalten, die einen sittlichen Gehalt haben, kennen, oder sofern er' sie
schon kannte, würdigen: Telemnch und Penelope, den Theseus, Neoptolemvs,
Hippolytus und die Antigone der Poesie, den Aristides, Epaminondas, Perikles,
Sokrates, Demosthenes, Alexander, Fabricius, Scipio, Cäsar der Geschichte,
daneben die alttestnmentlichen Propheten und den Apostel Paulus, und wenn
sie ihm richtig gezeigt werden, wird er sie anch lieben und sich ihre Grund¬
sätze aneignen. Endlich lernt er von den xeuophontischeu und platonischen
Dialogen die Dinge dieser Welt verständig erörtern und beurteilen und die
jenseitigen ehrfurchtsvoll ahnen und erfährt aus den eieervnianischen Briefen,
wie sich eine vornehme Gesellschaft gebildeter Männer anständig und würdig
unterhält und Geschäfte klug und höflich behandelt. Auch mit den Lehren
der Stoa mögen die Schüler immerhin bekannt gemacht werden und auch das
Enchiridion lesen; gewiß wird sie die darin auSgesprochne Gesinnung anziehn,
denn die Jugend liebt, wie Hills richtig bemerkt, das Heroische und, muß
mau hinzufügen, unternimmt gern, was über ihre Kräfte geht; mir daß keine
Religion und Heuchelei daraus werde und die Selbstüberwindungen, zu denen
solche Vorbilder anregen, den Charakter der vernünftigen Askese wahren, d. h.
nur als Kraftübung und Trainierung aufgefaßt werden! Bei alledem hört
der Schüler keinen Augenblick auf, Christ zu sein; sein Weltbild wird nicht
verrückt noch verzerrt, und es fällt ihm nicht ein, mit dem jugendlichen Schiller
die unwiederbringlich entschwuudne Zeit zurückzuwiiuscheu, "da mau deine
Tempel noch bekränzte, Venus Amathusia." Dafür weiß er, daß es ein exo-
terisches und ein esoterisches Christentum giebt. Er weiß, daß das exoterische
Christentum keine andern Pflichten auflegt und keine andern Tugenden fordert
als die sind, die der edlere Teil der Heiden geübt hat, und daß er dem
klassischen Vorbilde, das er sich nach persönlicher Anlage, Neigung und Lebens-


beiden Naturen in Christus darf keine Rede sein. Für diesen Religionsuuter.
richt braucht mau Nieder einen seminaristisch gebildeten Lehrer noch einen geist¬
lichen Katecheten. Jede brave und verständige Bäuerin kann ihn erteilen. Ja
die Mütter, Großmütter, Muhmen lind altern Geschwister sind die einzigen
für diesen Unterricht wirklich befähigten Personen, weil gerade der Ausschluß
alles schulmäßigen die erste Bedingung seiner Wirksamkeit ist. Er wird am
besten im winterlichen Zwielicht ans der Ofenbank erteilt, abwechselnd mit den
Märchen und sonstigen Geschichten, die Großmütter ihren Enkeln erzählen.
Daß es jede Woche geschehe, ist nicht nötig, und wenn die Ferien vom 1. Mai
bis letzten September dauern, so schadet das nichts. In der Schule dann
mag der kleine Student die alttestamentlichen und die homerischen Helden
nebeneinander kennen lernen, sich an der Schlauheit des Simson wie um der
des Odysseus, an der Heldengestalt des Josua wie an der des Achilleus er¬
götzen. Daß die Götter der Ilias und der Odhssee Phantasiegestalten sind,
weiß er schon von zu Hanse, die Grundzüge des christlichen Weltbilds, das
er mitbringt, werden durch die Mythologie nicht in Verwirrung gebracht. Im
reifern Knabenalter lernt er dann ans den Dichtern und Geschichtschreibern
die Gestalten, die einen sittlichen Gehalt haben, kennen, oder sofern er' sie
schon kannte, würdigen: Telemnch und Penelope, den Theseus, Neoptolemvs,
Hippolytus und die Antigone der Poesie, den Aristides, Epaminondas, Perikles,
Sokrates, Demosthenes, Alexander, Fabricius, Scipio, Cäsar der Geschichte,
daneben die alttestnmentlichen Propheten und den Apostel Paulus, und wenn
sie ihm richtig gezeigt werden, wird er sie anch lieben und sich ihre Grund¬
sätze aneignen. Endlich lernt er von den xeuophontischeu und platonischen
Dialogen die Dinge dieser Welt verständig erörtern und beurteilen und die
jenseitigen ehrfurchtsvoll ahnen und erfährt aus den eieervnianischen Briefen,
wie sich eine vornehme Gesellschaft gebildeter Männer anständig und würdig
unterhält und Geschäfte klug und höflich behandelt. Auch mit den Lehren
der Stoa mögen die Schüler immerhin bekannt gemacht werden und auch das
Enchiridion lesen; gewiß wird sie die darin auSgesprochne Gesinnung anziehn,
denn die Jugend liebt, wie Hills richtig bemerkt, das Heroische und, muß
mau hinzufügen, unternimmt gern, was über ihre Kräfte geht; mir daß keine
Religion und Heuchelei daraus werde und die Selbstüberwindungen, zu denen
solche Vorbilder anregen, den Charakter der vernünftigen Askese wahren, d. h.
nur als Kraftübung und Trainierung aufgefaßt werden! Bei alledem hört
der Schüler keinen Augenblick auf, Christ zu sein; sein Weltbild wird nicht
verrückt noch verzerrt, und es fällt ihm nicht ein, mit dem jugendlichen Schiller
die unwiederbringlich entschwuudne Zeit zurückzuwiiuscheu, „da mau deine
Tempel noch bekränzte, Venus Amathusia." Dafür weiß er, daß es ein exo-
terisches und ein esoterisches Christentum giebt. Er weiß, daß das exoterische
Christentum keine andern Pflichten auflegt und keine andern Tugenden fordert
als die sind, die der edlere Teil der Heiden geübt hat, und daß er dem
klassischen Vorbilde, das er sich nach persönlicher Anlage, Neigung und Lebens-


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[0070] beiden Naturen in Christus darf keine Rede sein. Für diesen Religionsuuter. richt braucht mau Nieder einen seminaristisch gebildeten Lehrer noch einen geist¬ lichen Katecheten. Jede brave und verständige Bäuerin kann ihn erteilen. Ja die Mütter, Großmütter, Muhmen lind altern Geschwister sind die einzigen für diesen Unterricht wirklich befähigten Personen, weil gerade der Ausschluß alles schulmäßigen die erste Bedingung seiner Wirksamkeit ist. Er wird am besten im winterlichen Zwielicht ans der Ofenbank erteilt, abwechselnd mit den Märchen und sonstigen Geschichten, die Großmütter ihren Enkeln erzählen. Daß es jede Woche geschehe, ist nicht nötig, und wenn die Ferien vom 1. Mai bis letzten September dauern, so schadet das nichts. In der Schule dann mag der kleine Student die alttestamentlichen und die homerischen Helden nebeneinander kennen lernen, sich an der Schlauheit des Simson wie um der des Odysseus, an der Heldengestalt des Josua wie an der des Achilleus er¬ götzen. Daß die Götter der Ilias und der Odhssee Phantasiegestalten sind, weiß er schon von zu Hanse, die Grundzüge des christlichen Weltbilds, das er mitbringt, werden durch die Mythologie nicht in Verwirrung gebracht. Im reifern Knabenalter lernt er dann ans den Dichtern und Geschichtschreibern die Gestalten, die einen sittlichen Gehalt haben, kennen, oder sofern er' sie schon kannte, würdigen: Telemnch und Penelope, den Theseus, Neoptolemvs, Hippolytus und die Antigone der Poesie, den Aristides, Epaminondas, Perikles, Sokrates, Demosthenes, Alexander, Fabricius, Scipio, Cäsar der Geschichte, daneben die alttestnmentlichen Propheten und den Apostel Paulus, und wenn sie ihm richtig gezeigt werden, wird er sie anch lieben und sich ihre Grund¬ sätze aneignen. Endlich lernt er von den xeuophontischeu und platonischen Dialogen die Dinge dieser Welt verständig erörtern und beurteilen und die jenseitigen ehrfurchtsvoll ahnen und erfährt aus den eieervnianischen Briefen, wie sich eine vornehme Gesellschaft gebildeter Männer anständig und würdig unterhält und Geschäfte klug und höflich behandelt. Auch mit den Lehren der Stoa mögen die Schüler immerhin bekannt gemacht werden und auch das Enchiridion lesen; gewiß wird sie die darin auSgesprochne Gesinnung anziehn, denn die Jugend liebt, wie Hills richtig bemerkt, das Heroische und, muß mau hinzufügen, unternimmt gern, was über ihre Kräfte geht; mir daß keine Religion und Heuchelei daraus werde und die Selbstüberwindungen, zu denen solche Vorbilder anregen, den Charakter der vernünftigen Askese wahren, d. h. nur als Kraftübung und Trainierung aufgefaßt werden! Bei alledem hört der Schüler keinen Augenblick auf, Christ zu sein; sein Weltbild wird nicht verrückt noch verzerrt, und es fällt ihm nicht ein, mit dem jugendlichen Schiller die unwiederbringlich entschwuudne Zeit zurückzuwiiuscheu, „da mau deine Tempel noch bekränzte, Venus Amathusia." Dafür weiß er, daß es ein exo- terisches und ein esoterisches Christentum giebt. Er weiß, daß das exoterische Christentum keine andern Pflichten auflegt und keine andern Tugenden fordert als die sind, die der edlere Teil der Heiden geübt hat, und daß er dem klassischen Vorbilde, das er sich nach persönlicher Anlage, Neigung und Lebens-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/70>, abgerufen am 02.07.2024.