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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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steht, nebenbei bemerkt, ganz gut, wie ein philosophisch angelegter Sklave zu
einer solchen Lebenskunst gelangen kaun, besonders wenn er einen harten Herrn
hat; soll doch Epiktet von seinem Herrn lahm geschlagen worden sein. In
solcher Lage giebts freilich nur einen Weg zum Glück: sich eine Hornhaut an¬
schaffen und die Prügel nicht mehr fühlen und schlimmstenfalls den Trost
der Stoiker: oxiws xatet; wird mirs zu arg, so öffne ich durch Selbstmord
das Pförtchen ins Jenseits oder ins Nichts. Hilty gesteht denn auch zu, der
schwache Punkt dieser erhabnen Lehre liege darin, daß schon ein hoher Grad
von Verstand und Willenskraft dazu gehöre, sie anzunehmen, lind ein noch
höherer, sie im Leben beständig durchzuführen. Ja, was nützt sie da dem
Jüngling? Sie sollte doch Ersatz bieten für das zu schwere und zu erhabne
Christentum, und nun wird sie selber für zu schwer und zu erhaben befunden!
Und den Schaden, den sie anrichten kann, denselben, den auch das Christentum
beständig anrichtet, übersieht Hilty ganz: jede überstreuge Moral macht, von
einer ganzen Gemeinschaft oder Gruppe angenommen, die Mehrzahl zu Heuch¬
lern; das hat man zu Horazens Zeit nicht ohne Grund den Stoikern nach¬
gesagt, das sagt man heute ebenfalls nicht ohne Grund den puritanischen Eng¬
ländern und den katholischen Mönchen nach. Hilty findet den Stoizismus der
Jugend angemessen, weil er nichts Übernatürliches enthalte; dafür ist er un¬
natürlich, und das kommt praktisch auf dasselbe hinaus. Gleich die erste
Forderung des Stoizismus, daß wir anf alle Dinge verzichten sollen, die nicht
in unsrer Macht stehn, d. h. uns alle äußern Güter ohne Ausnahme, ist un¬
natürlich und dabei unsozial, daher auch unchristlich, weil todbringend für die
Liebe. Denn alle Beziehungen zwischen deu Menschenherzen entsteh" dadurch,
daß ein Mensch des andern zur Erreichung der äußern Güter bedarf, die er
zum Leben braucht, von der Muttermilch anzufangen bis zur Pflege auf dein
letzten Krankenbett.

Eine in Absicht auf Religion und Charakter ideale Jugenderziehung, die
freilich wohl nicht sobald durch knltusministericllc Regulative eingeführt werden
wird, stelle ich mir etwa folgendermaßen vor. Mit dem Christentum wird
natürlich der Anfang gemacht. Nicht mit dein Christentum für reife Männer,
das Hilty meint, sondern mit der Milch, die ein Kindermagen vertragen kann.
Was das Kind braucht, das ist der feste Rahmen für das Weltbild, das später
die wachsende Erfahrung hineinzeichnen soll, und ein kleiner Schatz von Bildern,
die seine Phantasie veredeln und es zum Guten anregen. Man hat ihm also
mitzuteilen, daß jenseits dieser irdischen Welt ein lieber Vater wohnt, der
Schöpfer und Ordner aller Dinge, daß es unsre Bestimmung ist, nach wohl
vollendetem Erdenwnndcl bei ihm die ewige Seligkeit zu genießen, daß wir
uns deshalb vor dem Tode nicht fürchten sollen, und daß der himmlische
Vater seinen lieben Sohn gesandt hat, uns den Weg zum Himmel zu zeigen.
Einige anmutige biblische Geschichten mögen vom Walten des Vaters und von
der Person des Sohnes einen Begriff geben. Von Kreuz und Selbstverleugnung,
Erbsünde und Erlösungstod, Dreieinigkeit und hypostatischer Einigung der


steht, nebenbei bemerkt, ganz gut, wie ein philosophisch angelegter Sklave zu
einer solchen Lebenskunst gelangen kaun, besonders wenn er einen harten Herrn
hat; soll doch Epiktet von seinem Herrn lahm geschlagen worden sein. In
solcher Lage giebts freilich nur einen Weg zum Glück: sich eine Hornhaut an¬
schaffen und die Prügel nicht mehr fühlen und schlimmstenfalls den Trost
der Stoiker: oxiws xatet; wird mirs zu arg, so öffne ich durch Selbstmord
das Pförtchen ins Jenseits oder ins Nichts. Hilty gesteht denn auch zu, der
schwache Punkt dieser erhabnen Lehre liege darin, daß schon ein hoher Grad
von Verstand und Willenskraft dazu gehöre, sie anzunehmen, lind ein noch
höherer, sie im Leben beständig durchzuführen. Ja, was nützt sie da dem
Jüngling? Sie sollte doch Ersatz bieten für das zu schwere und zu erhabne
Christentum, und nun wird sie selber für zu schwer und zu erhaben befunden!
Und den Schaden, den sie anrichten kann, denselben, den auch das Christentum
beständig anrichtet, übersieht Hilty ganz: jede überstreuge Moral macht, von
einer ganzen Gemeinschaft oder Gruppe angenommen, die Mehrzahl zu Heuch¬
lern; das hat man zu Horazens Zeit nicht ohne Grund den Stoikern nach¬
gesagt, das sagt man heute ebenfalls nicht ohne Grund den puritanischen Eng¬
ländern und den katholischen Mönchen nach. Hilty findet den Stoizismus der
Jugend angemessen, weil er nichts Übernatürliches enthalte; dafür ist er un¬
natürlich, und das kommt praktisch auf dasselbe hinaus. Gleich die erste
Forderung des Stoizismus, daß wir anf alle Dinge verzichten sollen, die nicht
in unsrer Macht stehn, d. h. uns alle äußern Güter ohne Ausnahme, ist un¬
natürlich und dabei unsozial, daher auch unchristlich, weil todbringend für die
Liebe. Denn alle Beziehungen zwischen deu Menschenherzen entsteh» dadurch,
daß ein Mensch des andern zur Erreichung der äußern Güter bedarf, die er
zum Leben braucht, von der Muttermilch anzufangen bis zur Pflege auf dein
letzten Krankenbett.

Eine in Absicht auf Religion und Charakter ideale Jugenderziehung, die
freilich wohl nicht sobald durch knltusministericllc Regulative eingeführt werden
wird, stelle ich mir etwa folgendermaßen vor. Mit dem Christentum wird
natürlich der Anfang gemacht. Nicht mit dein Christentum für reife Männer,
das Hilty meint, sondern mit der Milch, die ein Kindermagen vertragen kann.
Was das Kind braucht, das ist der feste Rahmen für das Weltbild, das später
die wachsende Erfahrung hineinzeichnen soll, und ein kleiner Schatz von Bildern,
die seine Phantasie veredeln und es zum Guten anregen. Man hat ihm also
mitzuteilen, daß jenseits dieser irdischen Welt ein lieber Vater wohnt, der
Schöpfer und Ordner aller Dinge, daß es unsre Bestimmung ist, nach wohl
vollendetem Erdenwnndcl bei ihm die ewige Seligkeit zu genießen, daß wir
uns deshalb vor dem Tode nicht fürchten sollen, und daß der himmlische
Vater seinen lieben Sohn gesandt hat, uns den Weg zum Himmel zu zeigen.
Einige anmutige biblische Geschichten mögen vom Walten des Vaters und von
der Person des Sohnes einen Begriff geben. Von Kreuz und Selbstverleugnung,
Erbsünde und Erlösungstod, Dreieinigkeit und hypostatischer Einigung der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/69>, abgerufen am 02.07.2024.