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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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will, verwehrt ja auch der Stvizismus. Mangel an Ehre und Geld ist nach
Epiktet kein Übel. Er schilt es thöricht, wenn jemand Vermögen zu haben
wünscht, um seinen Freunden oder dein Vaterlnnde nützen zu können. Ein
tüchtiger Mann wird doch immer den seinen Kräften angemessenen Wirkungs¬
kreis und die entsprechenden Mittel dazu wünschen. Freilich unterliegen die
meisten der Täuschung, daß sie, um der damit verbundnen Ehre willen und
zur Befriedigung des Machtkitzels, einen Wirkungskreis wünschen, für den ihre
Kräfte nicht hinreichen, und daß sie mehr nach den Mitteln, die das Amt oder
die Stellung gewährt, als nach den Pflichten verlangen, Wohl auch die Ehre
und die Mittel allein erstreben und auf die Pflichten mit Vergnügen verzichten;
aber ein junger Mann, dem alle diese Äußerlichkeiten völlig gleichgiltig wären,
oder der sie gar als eine Gefahr und Versuchung flöhe, könnte doch wirklich
nichts andres werden als ein einsamer Philosoph, und abgesehen davon, daß
man als solcher heute nicht einmal den notdürftigsten Lebensunterhalt findet,
braucht das Vaterland denn doch andre tüchtige Leute in weit größerer An¬
zahl. Noch weit gefährlicher als der vollständige Verzicht ans Glücksgüter ist
der stoische Grundsatz, daß die sogenannten Übel, z. B. Krankheit, gar keine
wirklichen Übel seien, sondern nur durch unsre Einbildung zu solchen gemacht
würden, daß wir daher auch von unserm Nebenmenschen nicht sagen dürften:
Ein Unfall hat ihn betroffen, sondern nur: Die Vorstellung, die er sich davon
macht. "Säume nicht, sagt Epiktet, durch vernünftige Gespräche ihn zu heilen,
auch Wohl, wenn es sein muß, mit ihm zu weinen, mir hüte dich, daß du nicht
in deinem Innern mitsenfzest!" Auch Weib und Kinder soll man als Glücks-
güter ansehen, die man ohne aufregende Freude genießt, wenn man sie hat,
und die man, wenn sie der Tod raubt, verliert, ohne innerlich davon erschüttert
oder auch nur berührt zu werden. Wenn es ein Mensch schon in der Jngend
zu einem solchen Grade von Fühllosigkeit gebracht hätte, daß er weder eignes
noch fremdes Leid, weder eigne noch fremde Lust empfände, was für ein Eis-
zapfen oder Holzklotz würde er da erst im verhärtenden und erkältenden Alter
werden! Da sind mir doch Jünglinge lieber, in denen alle Fibern erzittern,
wenn sie singen: Freude, schöner Götterfunken! Nichts ist unnatürlicher und
eigentlich auch widerlicher als Ataraxie bei einem jungen Menschen, denn da
diese Eigenschaft von einem normalen Menschen nur in jahrelangen Kämpfe,:
erworben werden kann, so macht sie bei jungen Leuten den Eindruck angebornen
Stumpfsinns. Und wie stünde es um den Kulturfortschritt, wenn eine solche
Denkungsart um sich griffe? Er beruht doch hauptsächlich auf der Bekämpfung
von Übeln; was mau aber für kein Übel hält, das bekämpft man auch nicht.
Das alles weiß nun Hilty selbstverständlich ebenso gut. Er nennt den Stoi¬
zismus hart, kalt, unnatürlich, unmenschlich. Er hebt ganz richtig den ab¬
stoßend egoistischen Charakter einer Lehre hervor, die einzig darauf gerichtet ist,
das liebe Ich vor unangenehmen Erschwerungen zu bewahren und ihm, dn
nun einmal positives Glück nicht erreichbar sei, wenigstens das negative Glück
der Schmerzlosigkeit oder vielmehr Empfindungslvsigkeit zu sichern. Man ver-


hilty

will, verwehrt ja auch der Stvizismus. Mangel an Ehre und Geld ist nach
Epiktet kein Übel. Er schilt es thöricht, wenn jemand Vermögen zu haben
wünscht, um seinen Freunden oder dein Vaterlnnde nützen zu können. Ein
tüchtiger Mann wird doch immer den seinen Kräften angemessenen Wirkungs¬
kreis und die entsprechenden Mittel dazu wünschen. Freilich unterliegen die
meisten der Täuschung, daß sie, um der damit verbundnen Ehre willen und
zur Befriedigung des Machtkitzels, einen Wirkungskreis wünschen, für den ihre
Kräfte nicht hinreichen, und daß sie mehr nach den Mitteln, die das Amt oder
die Stellung gewährt, als nach den Pflichten verlangen, Wohl auch die Ehre
und die Mittel allein erstreben und auf die Pflichten mit Vergnügen verzichten;
aber ein junger Mann, dem alle diese Äußerlichkeiten völlig gleichgiltig wären,
oder der sie gar als eine Gefahr und Versuchung flöhe, könnte doch wirklich
nichts andres werden als ein einsamer Philosoph, und abgesehen davon, daß
man als solcher heute nicht einmal den notdürftigsten Lebensunterhalt findet,
braucht das Vaterland denn doch andre tüchtige Leute in weit größerer An¬
zahl. Noch weit gefährlicher als der vollständige Verzicht ans Glücksgüter ist
der stoische Grundsatz, daß die sogenannten Übel, z. B. Krankheit, gar keine
wirklichen Übel seien, sondern nur durch unsre Einbildung zu solchen gemacht
würden, daß wir daher auch von unserm Nebenmenschen nicht sagen dürften:
Ein Unfall hat ihn betroffen, sondern nur: Die Vorstellung, die er sich davon
macht. „Säume nicht, sagt Epiktet, durch vernünftige Gespräche ihn zu heilen,
auch Wohl, wenn es sein muß, mit ihm zu weinen, mir hüte dich, daß du nicht
in deinem Innern mitsenfzest!" Auch Weib und Kinder soll man als Glücks-
güter ansehen, die man ohne aufregende Freude genießt, wenn man sie hat,
und die man, wenn sie der Tod raubt, verliert, ohne innerlich davon erschüttert
oder auch nur berührt zu werden. Wenn es ein Mensch schon in der Jngend
zu einem solchen Grade von Fühllosigkeit gebracht hätte, daß er weder eignes
noch fremdes Leid, weder eigne noch fremde Lust empfände, was für ein Eis-
zapfen oder Holzklotz würde er da erst im verhärtenden und erkältenden Alter
werden! Da sind mir doch Jünglinge lieber, in denen alle Fibern erzittern,
wenn sie singen: Freude, schöner Götterfunken! Nichts ist unnatürlicher und
eigentlich auch widerlicher als Ataraxie bei einem jungen Menschen, denn da
diese Eigenschaft von einem normalen Menschen nur in jahrelangen Kämpfe,:
erworben werden kann, so macht sie bei jungen Leuten den Eindruck angebornen
Stumpfsinns. Und wie stünde es um den Kulturfortschritt, wenn eine solche
Denkungsart um sich griffe? Er beruht doch hauptsächlich auf der Bekämpfung
von Übeln; was mau aber für kein Übel hält, das bekämpft man auch nicht.
Das alles weiß nun Hilty selbstverständlich ebenso gut. Er nennt den Stoi¬
zismus hart, kalt, unnatürlich, unmenschlich. Er hebt ganz richtig den ab¬
stoßend egoistischen Charakter einer Lehre hervor, die einzig darauf gerichtet ist,
das liebe Ich vor unangenehmen Erschwerungen zu bewahren und ihm, dn
nun einmal positives Glück nicht erreichbar sei, wenigstens das negative Glück
der Schmerzlosigkeit oder vielmehr Empfindungslvsigkeit zu sichern. Man ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/68>, abgerufen am 02.07.2024.