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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Fülle der letzten (die auch wohlfeiler sind) im umgekehrten Verhältnis zu der
Fülle der ersten beiden, "ut wen" die Zeit kommt, wo die Kinder die Religion
selbständig brauchen könnten, so ist dieses Mittel in ihnen oft schon gänz-
lich abgenützt," Nicht Religion brauchten die Kinder, sondern eine .reine
Atmosphäre,

Weit näher als die christliche Religion liege der studierenden Jugend die
antike Philosophie; "ja es mag sogar die Frage nicht ganz unberechtigt er
scheinen, ob nicht in einer Lebensperiode der raschen Entwicklung, wo ein
eifriges Streben nach allem Großen und schönen, ja ein gewisser Ehrgeiz
ein notwendiger Durchgangspunkt ist, um den Menschen zunächst von dein Ver¬
sinken in ein bloß materiell tierisches Dasei" durch eine" kräftigen Anstoß ab¬
zulenken, auch heute noch die stoische Philosophie ein wirksameres Erziehuugs-
Mittel als die Religion sei," Überhaupt sei die klassische Bildung und Denkart
geeignet, Willensenergie zu erzeugen, "die oft den nicht klassisch gebildeten
Christen bedenklich mangelt und dem Christentum selbst den weichlichen, bloß
gefühlsseligen, mitunter recht kümmerlichen Anschein verleiht, der ihm in den
Augen recht entschlossener, männlicher und daher etwas selbstbewußter Naturen
am meisten zum Borwurf gereicht, keineswegs aber seiner eigentlichen Natur
entspricht, die im Gegenteil männlicher als alles andre sein sollte," Die
Realien haben nach seiner Ansicht keinen Wert für die Charakterbildung, An
einer andern Stelle sagt er, die klassische Bildung sei für die höher auszu¬
bildende männliche Jugend, ja auch für deren Mütter und erste Erzieherinnen
unentbehrlich. Das Christentum komme dann später leicht von selbst und trage
auf dem klassischen Boden seine schönsten Früchte, "Namentlich wird ein
klassisch gebildeter Geist niemals in die Geschmacklosigkeiten oder sogar Tände¬
leien versinken können, die, so sehr sie der ersten, durchaus großartigen Gestalt
des Christentums widersprechen, dennoch seiner ganz gewöhnlichen Auffassung,
zum größten Nachteile seines Kredits, anhängen," Ein körperliches Wohl
gefühl und ein gewisser Trieb nach Erhöhung sei der Jugend natürlich und
zu ihrem Wachstum notwendig, und deshalb entsprächen diesem Lebensabschnitt
die klassischen und die alttestamentlichen Beispiele und Ideale besser als die
christlichen. Man dürfe sogar mit einem alten Pädagogen sagen: die Jugend
muß verlobt haben, aber nicht bös. Solche Erwägungen haben Hilty bestimmt,
seine Übersetzung des Enchiridion (einer Sammlung von Lebensregeln Epiktets,
die dessen Schüler aufgezeichnet haben) in den "Bündner Seminarblättern" zu
veröffentlichen und dann in sein "Glück" aufzunehmen.

In alle dem stimme ich nun, wie die Leser wissen, mit Hilty vollständig
überein. Daß er aber aus dem ganzen klassischen Altertum gerade den Stoi¬
zismus und gerade diesen Stoiker als das für die studierende Jugend ge¬
eignetste heranssncht, halte ich für eine höchst sonderbare Verirrung, Sie
scheint mir aus dem Asketismus zu entspringen, deu Hilty zwar ausdrücklich
und grundsätzlich ablehnt, dem er aber offenbar innerlich zuneigt. Eben das
Streben nach allem Großen und schönen, das er der Jugend nicht rauben


Fülle der letzten (die auch wohlfeiler sind) im umgekehrten Verhältnis zu der
Fülle der ersten beiden, »ut wen» die Zeit kommt, wo die Kinder die Religion
selbständig brauchen könnten, so ist dieses Mittel in ihnen oft schon gänz-
lich abgenützt," Nicht Religion brauchten die Kinder, sondern eine .reine
Atmosphäre,

Weit näher als die christliche Religion liege der studierenden Jugend die
antike Philosophie; „ja es mag sogar die Frage nicht ganz unberechtigt er
scheinen, ob nicht in einer Lebensperiode der raschen Entwicklung, wo ein
eifriges Streben nach allem Großen und schönen, ja ein gewisser Ehrgeiz
ein notwendiger Durchgangspunkt ist, um den Menschen zunächst von dein Ver¬
sinken in ein bloß materiell tierisches Dasei» durch eine» kräftigen Anstoß ab¬
zulenken, auch heute noch die stoische Philosophie ein wirksameres Erziehuugs-
Mittel als die Religion sei," Überhaupt sei die klassische Bildung und Denkart
geeignet, Willensenergie zu erzeugen, „die oft den nicht klassisch gebildeten
Christen bedenklich mangelt und dem Christentum selbst den weichlichen, bloß
gefühlsseligen, mitunter recht kümmerlichen Anschein verleiht, der ihm in den
Augen recht entschlossener, männlicher und daher etwas selbstbewußter Naturen
am meisten zum Borwurf gereicht, keineswegs aber seiner eigentlichen Natur
entspricht, die im Gegenteil männlicher als alles andre sein sollte," Die
Realien haben nach seiner Ansicht keinen Wert für die Charakterbildung, An
einer andern Stelle sagt er, die klassische Bildung sei für die höher auszu¬
bildende männliche Jugend, ja auch für deren Mütter und erste Erzieherinnen
unentbehrlich. Das Christentum komme dann später leicht von selbst und trage
auf dem klassischen Boden seine schönsten Früchte, „Namentlich wird ein
klassisch gebildeter Geist niemals in die Geschmacklosigkeiten oder sogar Tände¬
leien versinken können, die, so sehr sie der ersten, durchaus großartigen Gestalt
des Christentums widersprechen, dennoch seiner ganz gewöhnlichen Auffassung,
zum größten Nachteile seines Kredits, anhängen," Ein körperliches Wohl
gefühl und ein gewisser Trieb nach Erhöhung sei der Jugend natürlich und
zu ihrem Wachstum notwendig, und deshalb entsprächen diesem Lebensabschnitt
die klassischen und die alttestamentlichen Beispiele und Ideale besser als die
christlichen. Man dürfe sogar mit einem alten Pädagogen sagen: die Jugend
muß verlobt haben, aber nicht bös. Solche Erwägungen haben Hilty bestimmt,
seine Übersetzung des Enchiridion (einer Sammlung von Lebensregeln Epiktets,
die dessen Schüler aufgezeichnet haben) in den „Bündner Seminarblättern" zu
veröffentlichen und dann in sein „Glück" aufzunehmen.

In alle dem stimme ich nun, wie die Leser wissen, mit Hilty vollständig
überein. Daß er aber aus dem ganzen klassischen Altertum gerade den Stoi¬
zismus und gerade diesen Stoiker als das für die studierende Jugend ge¬
eignetste heranssncht, halte ich für eine höchst sonderbare Verirrung, Sie
scheint mir aus dem Asketismus zu entspringen, deu Hilty zwar ausdrücklich
und grundsätzlich ablehnt, dem er aber offenbar innerlich zuneigt. Eben das
Streben nach allem Großen und schönen, das er der Jugend nicht rauben


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[0067] Fülle der letzten (die auch wohlfeiler sind) im umgekehrten Verhältnis zu der Fülle der ersten beiden, »ut wen» die Zeit kommt, wo die Kinder die Religion selbständig brauchen könnten, so ist dieses Mittel in ihnen oft schon gänz- lich abgenützt," Nicht Religion brauchten die Kinder, sondern eine .reine Atmosphäre, Weit näher als die christliche Religion liege der studierenden Jugend die antike Philosophie; „ja es mag sogar die Frage nicht ganz unberechtigt er scheinen, ob nicht in einer Lebensperiode der raschen Entwicklung, wo ein eifriges Streben nach allem Großen und schönen, ja ein gewisser Ehrgeiz ein notwendiger Durchgangspunkt ist, um den Menschen zunächst von dein Ver¬ sinken in ein bloß materiell tierisches Dasei» durch eine» kräftigen Anstoß ab¬ zulenken, auch heute noch die stoische Philosophie ein wirksameres Erziehuugs- Mittel als die Religion sei," Überhaupt sei die klassische Bildung und Denkart geeignet, Willensenergie zu erzeugen, „die oft den nicht klassisch gebildeten Christen bedenklich mangelt und dem Christentum selbst den weichlichen, bloß gefühlsseligen, mitunter recht kümmerlichen Anschein verleiht, der ihm in den Augen recht entschlossener, männlicher und daher etwas selbstbewußter Naturen am meisten zum Borwurf gereicht, keineswegs aber seiner eigentlichen Natur entspricht, die im Gegenteil männlicher als alles andre sein sollte," Die Realien haben nach seiner Ansicht keinen Wert für die Charakterbildung, An einer andern Stelle sagt er, die klassische Bildung sei für die höher auszu¬ bildende männliche Jugend, ja auch für deren Mütter und erste Erzieherinnen unentbehrlich. Das Christentum komme dann später leicht von selbst und trage auf dem klassischen Boden seine schönsten Früchte, „Namentlich wird ein klassisch gebildeter Geist niemals in die Geschmacklosigkeiten oder sogar Tände¬ leien versinken können, die, so sehr sie der ersten, durchaus großartigen Gestalt des Christentums widersprechen, dennoch seiner ganz gewöhnlichen Auffassung, zum größten Nachteile seines Kredits, anhängen," Ein körperliches Wohl gefühl und ein gewisser Trieb nach Erhöhung sei der Jugend natürlich und zu ihrem Wachstum notwendig, und deshalb entsprächen diesem Lebensabschnitt die klassischen und die alttestamentlichen Beispiele und Ideale besser als die christlichen. Man dürfe sogar mit einem alten Pädagogen sagen: die Jugend muß verlobt haben, aber nicht bös. Solche Erwägungen haben Hilty bestimmt, seine Übersetzung des Enchiridion (einer Sammlung von Lebensregeln Epiktets, die dessen Schüler aufgezeichnet haben) in den „Bündner Seminarblättern" zu veröffentlichen und dann in sein „Glück" aufzunehmen. In alle dem stimme ich nun, wie die Leser wissen, mit Hilty vollständig überein. Daß er aber aus dem ganzen klassischen Altertum gerade den Stoi¬ zismus und gerade diesen Stoiker als das für die studierende Jugend ge¬ eignetste heranssncht, halte ich für eine höchst sonderbare Verirrung, Sie scheint mir aus dem Asketismus zu entspringen, deu Hilty zwar ausdrücklich und grundsätzlich ablehnt, dem er aber offenbar innerlich zuneigt. Eben das Streben nach allem Großen und schönen, das er der Jugend nicht rauben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/67>, abgerufen am 02.07.2024.