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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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stellen wir uns zu Christus? Denn dasz dieser ignoriert oder ans Geschichte
und Welt gestrichen werden könnte, bilden sich hente nur iwch einige kleine
Epigonen der Himmelsstürmer ein, Mr mich ist der Reiz, mich mit Hilty
auseinanderzusetzen, um so stärker, da ich in einigen sehr wichtigen und sehr
streitigen Punkten vollkommen mit ihm übereinstimme, in den Stücken aber,
worin ich andrer Ansicht bin, wahrscheinlich sehr viele Gesinnungsgenossen habe,
denen ich vielleicht mit der Aussprache darüber einen Dienst erweise. Nicht
etwa, daß ich beabsichtigte und versuchen wollte, einen Teil von Hiltys Ver¬
ehrern zu meinen Ansichten zu bekehren. Vielmehr möchte ich ihm neue Jünger
zuführen; ich erkläre ausdrücklich, daß ich wünsche, jeder Leser dieser Aufsätze
mochte Hiltys "Glück" kaufen und fleißig lesen; denn das Buch gehört zu
denen, die allen Lesern ohne Ausnahme nützen, auch solchen, die nicht bloß
einzelne Ansichten, sondern das Ganze ablehnen. Ich gebe deshalb auch Nieder
eine Inhaltsübersicht noch Blütenlesen von schönen und wichtigen Stellen,
damit sich nicht solche, die das "Glück" noch nicht kennen, einbilden, sie hätten
es aus meinen Betrachtungen darüber hinlänglich kennen gelernt und konnten
sich das Selbstlesen sparen.

Ich beginne mit einem Punkte, worin unsre Übereinstimmung sehr auf¬
fällig ist. Daß das, was nun gewöhnlich Christentum nennt, diesen Namen
gar uicht verdient, davon später; wenn Hilty von Christentum spricht, meint
er immer nur das echte. Von diesem sagt er nun, es sei "nicht jedermanns
Ding." Zunächst nicht Sache der Jugend. Es setze viel Lebenserfahrung
voraus und eine Demut, die der studierenden Jugend noch nicht eigen sein
könne. Die christliche Weltansicht sei ein Produkt eigner reifer Lebensan-
schauung und eines innern Kampfes, den ein Mensch nicht in seiner frühen
Jugend, sondern frühestens inzl inM?o <tot viiinmin all noslrg. vita, d. h. also
um das füufunddreißigste Lebensjahr herum durchmache. Junge Leute könnten
noch nicht mit sich fertig sein; vorzeitig reife stürben gewöhnlich jung, weil sie
ja ihr Ziel erreicht hätten. Und auch für die große Masse sei das Christen¬
tum nicht; es habe ein für diese Welt zu feines Lichtwesen und sei eigentlich
unaussprechlich, sodnß jede Aussprache oder gnr Organisierung dieser seiner
Lichtnatur Gefahr bringe. Eben deshalb sei die christliche Religion nicht
lehrbar; sie sei ein Vertrauen auf etwas uicht Wißbares; das könne man gar
nicht lehren; höchstens könne man durch Belehrung eine Disposition dafür er¬
zengen und Abneigung dagegen oder die Unfähigkeit dazu überwinden, die aus
einer mit der Religion ganz unerträglichen Lebensweise entspringt. Geradezu
schädlich wirke die Überfütterung der Jugend, ja schon der kleinen Kinder mit
religiösem Unterrichtsstoff; sie erzeuge Abneigung gegen die Religion. Man
versuche diese Verirrung mit dem Worte des Heilands: "Lasset die Kindlein
zu mir kommen" zu rechtfertigen, aber "nur lesen zwar wohl, daß Jesus die
Kinder herzte und segnete, nicht aber die allergeringste Ansprache oder Lehre
um sie, oder gar Aufforderung an sie, ihm nachzufolgen. Kinder brauchen viel
Liebe und Beispiel und sehr wenig Religionslehren. Meistens aber steht die


stellen wir uns zu Christus? Denn dasz dieser ignoriert oder ans Geschichte
und Welt gestrichen werden könnte, bilden sich hente nur iwch einige kleine
Epigonen der Himmelsstürmer ein, Mr mich ist der Reiz, mich mit Hilty
auseinanderzusetzen, um so stärker, da ich in einigen sehr wichtigen und sehr
streitigen Punkten vollkommen mit ihm übereinstimme, in den Stücken aber,
worin ich andrer Ansicht bin, wahrscheinlich sehr viele Gesinnungsgenossen habe,
denen ich vielleicht mit der Aussprache darüber einen Dienst erweise. Nicht
etwa, daß ich beabsichtigte und versuchen wollte, einen Teil von Hiltys Ver¬
ehrern zu meinen Ansichten zu bekehren. Vielmehr möchte ich ihm neue Jünger
zuführen; ich erkläre ausdrücklich, daß ich wünsche, jeder Leser dieser Aufsätze
mochte Hiltys „Glück" kaufen und fleißig lesen; denn das Buch gehört zu
denen, die allen Lesern ohne Ausnahme nützen, auch solchen, die nicht bloß
einzelne Ansichten, sondern das Ganze ablehnen. Ich gebe deshalb auch Nieder
eine Inhaltsübersicht noch Blütenlesen von schönen und wichtigen Stellen,
damit sich nicht solche, die das „Glück" noch nicht kennen, einbilden, sie hätten
es aus meinen Betrachtungen darüber hinlänglich kennen gelernt und konnten
sich das Selbstlesen sparen.

Ich beginne mit einem Punkte, worin unsre Übereinstimmung sehr auf¬
fällig ist. Daß das, was nun gewöhnlich Christentum nennt, diesen Namen
gar uicht verdient, davon später; wenn Hilty von Christentum spricht, meint
er immer nur das echte. Von diesem sagt er nun, es sei „nicht jedermanns
Ding." Zunächst nicht Sache der Jugend. Es setze viel Lebenserfahrung
voraus und eine Demut, die der studierenden Jugend noch nicht eigen sein
könne. Die christliche Weltansicht sei ein Produkt eigner reifer Lebensan-
schauung und eines innern Kampfes, den ein Mensch nicht in seiner frühen
Jugend, sondern frühestens inzl inM?o <tot viiinmin all noslrg. vita, d. h. also
um das füufunddreißigste Lebensjahr herum durchmache. Junge Leute könnten
noch nicht mit sich fertig sein; vorzeitig reife stürben gewöhnlich jung, weil sie
ja ihr Ziel erreicht hätten. Und auch für die große Masse sei das Christen¬
tum nicht; es habe ein für diese Welt zu feines Lichtwesen und sei eigentlich
unaussprechlich, sodnß jede Aussprache oder gnr Organisierung dieser seiner
Lichtnatur Gefahr bringe. Eben deshalb sei die christliche Religion nicht
lehrbar; sie sei ein Vertrauen auf etwas uicht Wißbares; das könne man gar
nicht lehren; höchstens könne man durch Belehrung eine Disposition dafür er¬
zengen und Abneigung dagegen oder die Unfähigkeit dazu überwinden, die aus
einer mit der Religion ganz unerträglichen Lebensweise entspringt. Geradezu
schädlich wirke die Überfütterung der Jugend, ja schon der kleinen Kinder mit
religiösem Unterrichtsstoff; sie erzeuge Abneigung gegen die Religion. Man
versuche diese Verirrung mit dem Worte des Heilands: „Lasset die Kindlein
zu mir kommen" zu rechtfertigen, aber „nur lesen zwar wohl, daß Jesus die
Kinder herzte und segnete, nicht aber die allergeringste Ansprache oder Lehre
um sie, oder gar Aufforderung an sie, ihm nachzufolgen. Kinder brauchen viel
Liebe und Beispiel und sehr wenig Religionslehren. Meistens aber steht die


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[0066] stellen wir uns zu Christus? Denn dasz dieser ignoriert oder ans Geschichte und Welt gestrichen werden könnte, bilden sich hente nur iwch einige kleine Epigonen der Himmelsstürmer ein, Mr mich ist der Reiz, mich mit Hilty auseinanderzusetzen, um so stärker, da ich in einigen sehr wichtigen und sehr streitigen Punkten vollkommen mit ihm übereinstimme, in den Stücken aber, worin ich andrer Ansicht bin, wahrscheinlich sehr viele Gesinnungsgenossen habe, denen ich vielleicht mit der Aussprache darüber einen Dienst erweise. Nicht etwa, daß ich beabsichtigte und versuchen wollte, einen Teil von Hiltys Ver¬ ehrern zu meinen Ansichten zu bekehren. Vielmehr möchte ich ihm neue Jünger zuführen; ich erkläre ausdrücklich, daß ich wünsche, jeder Leser dieser Aufsätze mochte Hiltys „Glück" kaufen und fleißig lesen; denn das Buch gehört zu denen, die allen Lesern ohne Ausnahme nützen, auch solchen, die nicht bloß einzelne Ansichten, sondern das Ganze ablehnen. Ich gebe deshalb auch Nieder eine Inhaltsübersicht noch Blütenlesen von schönen und wichtigen Stellen, damit sich nicht solche, die das „Glück" noch nicht kennen, einbilden, sie hätten es aus meinen Betrachtungen darüber hinlänglich kennen gelernt und konnten sich das Selbstlesen sparen. Ich beginne mit einem Punkte, worin unsre Übereinstimmung sehr auf¬ fällig ist. Daß das, was nun gewöhnlich Christentum nennt, diesen Namen gar uicht verdient, davon später; wenn Hilty von Christentum spricht, meint er immer nur das echte. Von diesem sagt er nun, es sei „nicht jedermanns Ding." Zunächst nicht Sache der Jugend. Es setze viel Lebenserfahrung voraus und eine Demut, die der studierenden Jugend noch nicht eigen sein könne. Die christliche Weltansicht sei ein Produkt eigner reifer Lebensan- schauung und eines innern Kampfes, den ein Mensch nicht in seiner frühen Jugend, sondern frühestens inzl inM?o <tot viiinmin all noslrg. vita, d. h. also um das füufunddreißigste Lebensjahr herum durchmache. Junge Leute könnten noch nicht mit sich fertig sein; vorzeitig reife stürben gewöhnlich jung, weil sie ja ihr Ziel erreicht hätten. Und auch für die große Masse sei das Christen¬ tum nicht; es habe ein für diese Welt zu feines Lichtwesen und sei eigentlich unaussprechlich, sodnß jede Aussprache oder gnr Organisierung dieser seiner Lichtnatur Gefahr bringe. Eben deshalb sei die christliche Religion nicht lehrbar; sie sei ein Vertrauen auf etwas uicht Wißbares; das könne man gar nicht lehren; höchstens könne man durch Belehrung eine Disposition dafür er¬ zengen und Abneigung dagegen oder die Unfähigkeit dazu überwinden, die aus einer mit der Religion ganz unerträglichen Lebensweise entspringt. Geradezu schädlich wirke die Überfütterung der Jugend, ja schon der kleinen Kinder mit religiösem Unterrichtsstoff; sie erzeuge Abneigung gegen die Religion. Man versuche diese Verirrung mit dem Worte des Heilands: „Lasset die Kindlein zu mir kommen" zu rechtfertigen, aber „nur lesen zwar wohl, daß Jesus die Kinder herzte und segnete, nicht aber die allergeringste Ansprache oder Lehre um sie, oder gar Aufforderung an sie, ihm nachzufolgen. Kinder brauchen viel Liebe und Beispiel und sehr wenig Religionslehren. Meistens aber steht die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/66>, abgerufen am 02.07.2024.